Gedichte von Karl Kraus (Auswahl)

 

"... Der Vorleser Kraus ist einer der stärksten Eindrücke. Er sieht fast niemals auf, er liest richtig vor – nur manchmal beschreiben diese seltsamen schmalen Finger einen Halbkreis oder sie zeichnen eine Geste übertrieben auf ... nur die Stimme herrscht. Nein: der Wille herrscht. Seine Stirnader schwillt. Mit ungeheurer Intensität bricht das Geschriebene und Erlebte noch einmal heraus – eine Eruption seltenen Grades. Er darf es wagen, entgegen allen Vortragsgesetzen, fortissimo zu beginnen und andante fortzufahren – weil es wahr ist, in jedem Augenblick wahr. Schrei auf Schrei entringt sich dieser gequälten Brust, Ruf auf Ruf, Klage auf Klage. Und Anklage auf Anklage …

Hier ruft ein Mensch und gibt euch alles in allem: Kunst, Gesinnung, Politik und sein rotes, reines Herzblut.

Kurt Tucholsky, Rezensionen: »Karl Kraus liest«


 

Dein Fehler

Dein Fehler, Liebste, ach ich liebe ihn,
weil du ihn hast,
und er ist eine deiner liebsten Gaben.
Seh' ich an andern ihn, so seh' ich fast
dich selbst und sehe nach dem Fehler hin,
und alle will ich lieben, die ihn haben!

Fehlst du mir einst und fehlt dein Fehler mir,
weil du dahin,
wie wollt' ich, Liebste, lieber dich ergänzen
als durch den Fehler? Ach ich liebe ihn,
und seh' ich ihn schon längst nicht mehr an dir,
die Häßlichste wird mir durch ihn erglänzen!

Doch träte selbst die Schönste vor mich hin,
und fehlerlos,
ich wäre meines Drangs zu dir kein Hehler.
Ihr, die so vieles hat, fehlt eines bloß
und alles drum — ach wie vermiss' ich ihn —
ihr fehlt doch, Liebste, was mir fehlt: dein Fehler

 
Rezitationsvideo zum Gedicht:
 
 

 

Man frage nicht

Man frage nicht, was all die Zeit ich machte.
Ich bleibe stumm;
und sage nicht, warum.
Und Stille gibt es, da die Erde krachte.
Kein Wort, das traf;
man spricht nur aus dem Schlaf.
Und träumt von einer Sonne, welche lacht.
Es geht vorbei;
nachher war's einerlei.
Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.


Oktober 1933

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1930

Der Führer
 

Der Entwicklung Sehenswürdigkeiten
weist er als ein vielgewandter Führer.
Vorwärts, rückwärts, links und rechts zu schreiten,
all dies lehrt und klärt euch nach Gebühr er.

Wellenberge sind und Wellentäler,
vielverwickelt der Entwicklung Bänder:
vorgezeichnet zeigt er es dem Wähler
faktisch, praktisch, taktisch am Kalender.

Anders noch als jenen frommen Springern
muß im Zickzackkurs es uns gelingen.
Diesen Fortschritt darf man nicht verringern,
wenn zwei vor und drei zurück wir springen.

Daß der Feind heut frech, läßt sich erklären
und dazu noch mit Bestimmtheit sagen:
Wenn wir Sieger nicht besiegt nun wären,
könnten wir nicht einst ihn wieder schlagen.

Wir wir haben in der Hand die Massen,
ja da kann der Gegner sich verstecken:
blind gehorchen sie, wenn wir sie lassen
stracks und imposant die Waffen strecken.

Wißt ihr nicht, ihr Herrn, wir nur erwogen
wir den Kampf, und schon ward er beschlossen.
Kaum war der Befehl zurückgezogen -
schon, ihr Herrn, gehorchten die Genossen.

Seht euch vor und kommt heran, ihr Herren,
da könnt ihr gleich wieder was erleben:
mögt ihr noch so dreist vom Siege plärren,
nun wohlan - wir werden uns ergeben!

Viribus unitis: weil bescheiden
es hienieden und auch stets genügt hat,
daß am Wiener Hofe für den Frieden
die Partei entscheiden obsiegt hat.

Matsch, ja diplomat'sch wie diese Ahnen,
doch beiweitem weiser als die Kaiser
lenken wir die braven Untertanen,
aber eingedenkt der Lorbeerreiser.

Geht es gut, wir werden vorwärts schreiten!
Kommt es anders - nun, Sie werden lachen,
denn dann kommt aus längst verklungenen Zeiten
auch der Trost: Da kann man halt nix machen!

Was da  ist, ihr Herren, es ist gegeben;
so und so: es ist diktiert vom Datum.
Die Doktrin läßt vielen Spielraum eben
noch fürs alte Österreich'sche Fatum.

Hat's auch weiland weidlich uns verdrossen,
heute nehmen wirs beweitem lauter.
Denn man schafft doch Klarheit, ihr Genossen,
sagt man sich: Das ist was andres, Bauer!

 


1920

 

Die Raben

Vorwort:
Die Klänge erheben sich während des folgenden Phantoms zu furchtbarer Musik. Auf dem Monte Gabriele* . Zu einem hohen Haufen geschichtet unbegrabene, halb verweste Leichen. Ein Schwärm von Raben umkreist krächzend die Beute.

Immer waren unsre Nahrung
die hier, die um Ehre starben.
Aber eure Herzenspaarung
macht, dass Raben nimmer darben.

Wir, die wir uns nie bewarben,
Nahrung haben wir erworben.
Ihr nicht, wir nicht dürfen darben,
euch und uns sind sie verdorben.

Ihr und wir vom Siege schnarren,
wenn die Opfer sich vermehren,
weil im Reiche rings die Narren
eurem, unsrem Ruf nicht wehren.

Waren Generale Raben,
schnarrts von Phrasen dort im Saale.
Draußen sind sie unbegraben,
da sind Raben Generale!

Dürft getrost die Schlacht verlieren,
wir und ihr in keinem Falle
müssen uns vor uns genieren:
Kriegsgewinner sind wir alle!

Ja wir sind noch sehr lebendig,
wir sind beide noch die Alten,
und wir freuen uns unbändig,
diese Kriegszeit durchzuhalten.

Während ihr zum Fraß vereinigt,
brauchen wir nicht zu entbehren.
Hunger hat uns nie gepeinigt,
seit wir folgen euren Heeren.

Hunger würd' uns nimmer munden,
und wir stürben an der Schande,
und wir sind euch sehr verbunden,
daß wir nicht im Hinterlande.

Dort ist wahre Not, die Greise
und die Kinder dort verderben,
weil hier auf die andre Weise
uns zum Trost die Männer sterben.

Eure Schlachtbank läßt nie darben
ihre angestellten Kunden.
Raben haben, seit sie starben,
immer Nahrung noch gefunden.


* der Ort der 4. Isonzoschlacht Österreich-Ungarn gegen Italien. Vom 9. November bis 15. Dezember 1915. Gezählt wurden 11.000 Tote – 51.000 Verletzte und 33.400 Vermisste.

Rezitationsvideo zum Gedicht:

 


 1930

Einem sozialdemokratischen Würdenträger

Republikanische Regel sei's:
Soll's dir in allen Lagen gelingen,
gelang nicht in jede;
geh nicht aufs Eis,
wo sie die Kaiserhymne singen;
spar deine Rede.
Hast du von Natur den elastischen Schritt,
nimm ihn nicht mit.
Bist aber urban du und konnivent,
sei's bis ans End'.
Ziehn alle den Hut
vor einem Schemen,
so ist's nicht gut,
ihn nicht abzunehmen.
Männerstolz vor Königsthronen
zeig lieber, den Festen nicht beizuwohnen,
woselbst sie errichtet
und wo man trachtet, wie der Kernstock gedichtet.
Ist jene zu stürzen dir nicht gelungen,
bleib fern dem Platz, wo ihr Lob wird gesungen;
bei Gespenstern, die wir nicht konnten verjagen,
soll's dem, der es wollte, nimmer behagen;
laß dich dort, wo du nichts als die Schlacht hast verloren,
nicht bemerken unter Honoratioren.
Läßt aber du durchaus dir's nicht nehmen,
sollst ihren Sitten dich anbequemen
und unter Penklubpatronen und Ballpatronessen
niemals deren Sitten vergessen.
Machst du mit den Alfanz,
tu's voll und ganz.
Denn erscheinst unter Bürgern du als Meister,
so mußt du kleben mit ihrem Kleister.

 


1923

 

Fernes Licht

Fernes Licht mit nahem Schein
wie ich mich auch lenke,
lockt es dich nicht dazusein,
wenn ich an dich denke?

Wo du bist, du sagst es nicht
und du kannst nicht lügen.
Nahen Schein von fernem Licht
lässt du mir genügen.

Wüsst′ ich, wo das ferne Licht,
wo es aufgegangen,
naher Schein, er wehrte nicht,
leicht dich zu erlangen.

Fernes Licht mit nahem Schein
mir zu Lust und Harme,
lockt es dich nicht da zu sein,
wenn ich dich umarme?

 


1923

In diesem Land

In diesem Land wird niemand lächerlich,
als der die Wahrheit sagte. Völlig wehrlos
zieht er den grinsend flachen Hohn auf sich.
Nichts macht in diesem Lande ehrlos.

In diesem Land münzt jede Schlechtigkeit,
die anderswo der Haft verfallen wäre,
das purste Gold und wirkt ein Würdenkleid
und scheffelt immer neue Ehre.

In diesem Land gehst du durch ein Spalier
von Beutelschneidern, die dich tief verachten
und mindestens nach deinem Beutel dir,
wenn nicht nach deinem Gruße trachten.

In diesem Land schließt du dich doch nicht aus,
fliehst du gleich ängstlich die verseuchten Räume.
Es kommt die Pest dir auch per Post ins Haus
und sie erwürgt dir deine Träume.

In diesem Land trifftst du in leere Luft,
willst treffen du die ausgefeimte Bande,
und es begrinst gemütlich jeder Schuft
als Landsmann dich in diesem Lande.

 


1920

Sprachschöpfung

Denn eben wo Begriffe fehlen,
da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.
Doch wollt' ich wahrlich nicht zu jenen zählen,
die wesenlos verpflichtet nur dem Schein.
Ich glaub' dem Wort, es weiß schon, was es tut;
wenns mit mir gut es meint, so mein' ich's gut.
Ich kann aufs Wort in allen Lagen zählen,
es führt zum Wesen fort mich aus dem Schein,
und stellt es sich zur rechten Zeit mir ein,
so wird auch der Begriff nicht fehlen
und wird sogleich zur Stelle sein.

 


1921

 

Todesfurcht

Hab verlangend alles schon empfangen,
allen Wechsel, den es gibt auf Erden:
aller Lust und allerlei Beschwerden
froh und unfroh immer wieder werden.
Und dazwischen ist die Zeit vergangen.

Neugier regt sich nach dem andern Kreise,
wie mags, frag ich, drüben nur bestellt sein;
und ob schwierig die besondre Reise,
und ob ich auf wunderbare Weise
werde wiederum auf meiner Welt sein.

Immer das Erlebte zu erleben,
lüstet mich, ich will es frei bekennen;
immer dieses zwischen Feuern schweben,
dieses atemlose Lastenheben
und dies hoffnungslose Herzverbrennen.

Ist's dort grün wie meine Kinderstunden?
Ist der Tag dort grau wie meine Tage?
Warten alle Wunder, aller Wunden
Wonnefieber, schmerzliches Gesunden,
aller Wollust wechselvolle Plage?

Bleib ich aller Feuerflammen Beute
und erhitzt von allen Hindernissen?
Glüht mir dort der helle Hass des Heute,
und entflammen mich die kalten Bräute?
Ach ich brenne schon, es nur zu wissen!

Was sich so lebendig mir verdichtet,
was mit Aug und Ohr ich je erworben,
nimmer sei von mir darauf verzichtet!
Anders werde dieser Streit geschlichtet
und das Leben nur zum Teil gestorben!

Einverleibt der Welt, der es entbrannte,
will es nimmer sich vom Leben trennen.
Wenn ich sie nicht mehr mit Namen nannte,
die ich bis zum letzten Blick erkannte,
würde sie sich selbst nicht mehr erkennen.

Wortverbunden bleib ich den Gestalten,
gegen die ich mich des Geistes wehre.
Nimmer würde anderen Gewalten
wehrlos ich mich zur Verfügung halten
dort in einer wortverlassnen Leere.

Dreist entreiss ich mich dem faulen Frieden,
nichts zu haben als die Totenstille.
Sie zu meiden, will ich nicht ermüden;
da zu bleiben, wenn ich abgeschieden,
fortzuleben sei mein letzter Wille.

Todesfurcht ist, dass Natur mich bringe
einst um alles mir lebendige Grauen.
Jener ewigen Ruh ist nicht zu trauen.
Ich will leiden, lieben, hören, schauen:
ewig ruhlos, dass das Werk gelinge!


Nächtliche Stunde

Nächtliche Stunde, die mir vergeht,
da ich's ersinne, bedenke und wende,
und diese Nacht geht schon zu Ende.
Draußen ein Vogel sagt: es ist Tag.

Nächtliche Stunde, die mir vergeht,
da ich's ersinne, bedenke und wende,
und dieser Winter geht schon zu Ende.
Draußen ein Vogel sagt: es ist Frühling.

Nächtliche Stunde, die mir vergeht,
da ich's ersinne, bedenke und wende,
und dieses Leben geht schon zu Ende.
Draußen ein Vogel sagt: es ist Tod.

Rezitationsvideo zum Gedicht:


 

Phantasie an eine Entrückte

Wie kam's, daß deine Räusche mich berauschen
und deine süße Ohnmacht mich belebt,
die Kraft sich mir an deiner Schwäche hebt –
ich möcht mit keinem deiner Sieger tauschen!

Mit Allen bleibt mir meine Lust verwebt
und Aller Liebesschwüren laß mich lauschen,
und wie die Brunnen deiner Gnade rauschen,
zu deiner Allmacht mein Gedanke strebt.

Nie wird die Zeit mir diese Gluten kühlen,
an fernen Feuern will ich dir erwarmen,
mit dir zu wissen und in dir zu fühlen.

Nun bin ich du, und du bist das Erbarmen,
und läßt mich in gewesenen Wonnen wühlen.
Und Alle halte ich in deinen Armen!

Rezitationsvideo zum Gedicht:


Man frage nicht

Man frage nicht, was all die Zeit ich machte.
Ich bleibe stumm;
und sage nicht, warum.
Und Stille gibt es, da die Erde krachte.
Kein Wort, das traf;
man spricht nur aus dem Schlaf.
Und träumt von einer Sonne, welche lacht.
Es geht vorbei;
nachher war's einerlei.
Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.

Oktober 1933

Rezitationsvideo zum Gedicht: