Selma Meerbaum-Eisinger - Gedichtauswahl

Eine kleine Auswahl der Gedichte
von Selma Meerbaum-Eisinger
(mit Videorezitationen
Rezitationen von Fritz Stavenhagen)

 

 

Tränenhalsband
 
Die Tage lasten schwül und schwer, voll wildem, bangem Weh.
      Es ist in mir so kalt und leer, daß ich vor Angst
      vergeh'.
Die Vögel ziehn gen Mittag hin, sie sind schon lange fort.
      Schon seh' ich keine Aster blühn, und auch die letzten
      Falter fliehn, die Berge sind mit Herbst umflort.
Ich bin in Sehnsucht eingehüllt, ich sehne mich nach dir.
      Mein heißes Sehnsuchtslied erfüllt die Welt und mich
      mit ihr.
Der Regen, der eintönig rauscht, begleitet meinen Sang.
      Und wer dem Regenliede lauscht und wer sich an dem
      Weh berauscht, der hört auch meines Liedes Klang.
Nur du allein, du hörst es nicht - ach, weiß ich denn,
      warum? Und wenn mein Lied einst gell zerbricht, du
      bleibst auch kalt und stumm.
Dir macht es nichts, wenn jeder Baum mitleidig fleht: so
      hör! Du gehst vorbei und siehst mich kaum, als wüßtest
      du nicht meinen Traum, und 's fällt dir nicht mal
      schwer.
Und doch bist du so bleich bedrückt, wie einer der
      versteht, der seine Seufzer schwer erstickt und schwer
      beladen geht.
 
Und doch ist Weh in deinem Blick, um deine Lippen Leid.
      Verloren hast du wohl das Glück, es kommt wohl
      nimmermehr zurück, und du - du bist »befreit«.
Nun ja, das Glück war dir zu schwer, du hast es hastig-
      wild verstreut, und nun sind deine Hände leer, es füllt
      sie nur noch Einsamkeit.
So stehst du da und wirfst den Kopf mit starrem Trotz
      zurück, und sagst, was du ja selbst nicht glaubst - »Ich
      pfeife auf das Glück!«
Und dann, wenn es schon längst vorbei, stehst du noch da
      und starrst ihm nach, dann sehnst du es so heiß herbei,
      es ist dir nicht mehr einerlei — dann bist du plötzlich
      wach.
Zurück jedoch kommt es nie mehr - denn rufen willst du
      nicht, und wäre die Leere so unendlich schwer, daß dein
      Rücken darunter bricht.
So tragen wir beide dasselbe Leid, ein jeder für sich allein.
      Mich krönt aus Tränen ein schweres Geschmeid' und
      dich ein Sehnsuchtsedelstein.
Und der Wind singt uns beiden den ewigen Sang von
      Sehnen und Verzicht, doch auch wenn es dir zum
      Sterben bang - du rufst mich trotzdem nicht.
 
Videorezitation:


Du, weisst du. . .
 
Du, weißt du, wie ein Rabe schreit?
Und wie die Nacht, erschrocken bleich,
nicht weiß, wohin zu fliehn?
Wie sie verängstigt nicht mehr weiß:
Ist es ihr Reich, ist es nicht ihr Reich,
gehört sie dem Wind oder er ihr,
und sind die Wölfe mit ihrer Gier
nicht zum Zerreißen bereit?
 
Du, weißt du, wie der Wind schrill heult
und wie der Wald, erschrocken bleich,
nicht weiß, wohin zu fliehn?
Wie er verängstigt nicht mehr weiß:
Ist es sein Reich, ist es nicht sein Reich,
gehört er dem Regen oder der Nacht
und ist der Tod, der schauerlich lacht,
nicht sein allerhöchster Herr?
 
Du, weißt du, wie der Regen weint?
Und wie ich geh', erschrocken bleich,
und nicht weiß, wohin zu fliehn?
Wie ich verängstigt nicht mehr weiß:
Ist es mein Reich, ist es nicht mein Reich,
gehört die Nacht mir, oder ich, gehör' ich ihr,
und ist mein Mund, so blaß und wirr,
nicht der, der wirklich weint?
 
Videorezitation
 
 
 

 

 
Tragik
 
Das Schwerste: sich verschenken
und wissen, daß man überflüssig ist,
sich ganz zu geben und zu denken,
daß man wie rauch ins Nichts zerfliesst.
 
Mit rotem Stift hinzugefügt:
Ich habe keine Zeit gehabt zu Ende zu
schreiben. Schade daß du dich nicht von
mir empfehlen wolltest:
Alles Gute                                Selma
 
 
Videorezitation:
 
 

 

 
Lied
 
Nimm hin mein Lied -
Es ist nicht froh,
Der Regen weint und weint.
Und wer ihn sieht
Weiß sowieso,
Wie es das Glück gemeint.
 
Es ist vorbei
Die helle Zeit,
Die Lachen uns gelehrt.
Sie ging entzwei,
Zwiespalt gedeiht -
Wenn auch die Welt sich wehrt.
 
Kehrt sie zurück?
Ich weiß es nicht.
Vielleicht weiß es der Wind.
Er kennt das Glück,
Wenn's nicht zerbricht,
So sagt er's uns geschwind.
 
Doch sieh, der Wind
Verbirgt sich doch -
Er ist ja gar nicht da.
Ganz wie ein Kind,
So glaubt er noch:
Nur er weiß, was geschah.
 
Nimm hin mein Lied.
Vielleicht bringt es
Das Lachen einst zurück.
Und wer es liest,
Der sagt: Ich seh's,
Und meint damit das Glück.
 
Videorezitation:
 
 

 

Poem
 
Die Bäume sind von weichem Lichte übergossen,
im Winde zitternd glitzert jedes Blatt.
Der Himmel, seidig-blau und glatt,
ist wie ein Tropfen Tau vom Morgenwind vergossen.
Die Tannen sind in sanfte Röte eingeschlossen
und beugen sich vor seiner Majestät, dem Wind.
Hinter den Pappeln blickt der Mond aufs Kind,
das ihm den Gruß schon zugelächelt hat.
 
Im Winde sind die Büsche wunderbar:
bald sind sie Silber und bald leuchtend grün
und bald wie Mondschein auf lichtblondem Haar
und dann, als würden sie aufs neue blühn.
 
Ich möchte leben.
Schau, das Leben ist so bunt.
Es sind so viele schöne Bälle drin.
Und viele Lippen warten, lachen, glühn
und tuen ihre Freude kund.
Sieh nur die Straße, wie sie steigt:
so breit und hell, als warte sie auf mich.
Und ferne, irgendwo, da schluchzt und geigt
die Sehnsucht, die sich zieht durch mich und dich.
Der Wind rauscht rufend durch den Wald,
er sagt mir, daß das Leben singt.
Die Luft ist leise, zart und kalt,
die ferne Pappel winkt und winkt.
 
Ich möchte leben.
Ich möchte lachen und Lasten heben
und möchte kämpfen und lieben und hassen
und möchte den Himmel mit Händen fassen
und möchte frei sein und atmen und schrein.
Ich will nicht sterben. Nein!
Nein.
Das Leben ist rot,
Das Leben ist mein.
Mein und dein.
Mein.
 
Warum brüllen die Kanonen?
Warum stirbt das Leben
für glitzernde Kronen?
 
Dort ist der Mond.
Er ist da.
Nah.
Ganz nah.
Ich muß warten.
Worauf?
Hauf um Hauf
sterben sie.
Stehn nie auf.
Nie und nie.
Ich will leben.
Bruder, du auch.
Atemhauch
geht von meinem und deinem Mund.
 
Das Leben ist bunt.
Du willst mich töten.
Weshalb?
Aus tausend Flöten
weint Wald.
Der Mond ist lichtes Silber im Blau
Die Pappeln sind grau.
Und Wind braust mich an.
Die Straße ist hell.
Dann …
Sie kommen dann
und würgen mich.
Mich und dich tot.
Das Leben ist rot,
braust und lacht.
Über Nacht
bin ich
tot.
 
Ein Schatten von einem Baum
geistert über den Mond.
Man sieht ihn kaum.
Ein Baum.
Ein
Baum.
Ein Leben
kann Schatten werfen
über den
Mond.
 
Ein
Leben.
Hauf um Hauf
sterben sie.
Stehn nie auf.
Nie
und
nie.
 
 
Videorezitation:
 
 

 

Träume
 
Es sind meine Nächte
durchflochten von Träumen,
die süß sind wie junger Wein.
Ich träume, es fallen die Blüten von Bäumen
und hüllen und decken mich ein.
 
Und alle diese Blüten,
sie werden zu Küssen,
die heiß sind wie roter Wein
und traurig wie Falter, die wissen: sie müssen
verlöschen im sterbenden Schein.
 
Es sind meine Nächte
durchflochten von Träumen,
die schwer sind wie müder Sand.
Ich träume, es fallen von sterbenden Bäumen
die Blätter in meine Hand.
 
Und all diese Blätter,
sie werden zu Händen,
die zärteln wie rollender Sand
und müd sind wie Falter, die wissen: sie enden
noch eh' sie ein Sonnenstrahl fand.
 
Es sind meine Nächte
durchflochten von Träumen,
die blau sind wie Sehnsuchtsweh.
Ich träume, es fallen von allen Bäumen
Flocken von klingendem Schnee.
 
Und all diese Flocken
sie werden zu Tränen.
Ich weinte sie heiß und wirr -
begreif meine Träume, Geliebter, sie sehnen
sich alle nur ewig nach dir.
 
 
Videorezitation:
 
 

 

Ja
 
Du bist so weit.
So weit wie ein Stern, den ich zu fassen geglaubt.
Und doch bist du nah -
nur ein wenig verstaubt
wie vergangene Zeit.
Ja.
 
Du bist so groß.
So groß wie der Schatten von jenem Baum.
Und doch bist zu da -
nur blaß wie ein Traum
in meinem Schoß.
Ja.
 
Videorezitation:
 
 
 

 

Schlaflied für die Sehnsucht
 
(Zu singen nach der Melodie:
»di zun iz fargangen« von M. Gebirtig)
 
O lege, Geliebter,
den Kopf in die Hände
und höre, ich sing' dir ein Lied.
Ich sing' dir von Weh und von Tod und vom Ende,
ich sing' dir vom Glücke, das schied.
 
Komm, schließe die Augen,
ich will dich dann wiegen,
wir träumen dann beide vom Glück.
Wir träumen dann beide die goldensten Lügen,
wir träumen uns weit, weit zurück.
 
Und sieh nur, Geliebter,
im Traume da kehren
wieder die Tage voll Licht.
Vergessen die Stunden, die wehen und leeren
von Trauer und Leid und Verzicht.
 
Doch dann - das Erwachen,
Geliebter, ist Grauen -
ach, alles ist leerer als je -
Oh, könnten die Träume mein Glück wieder bauen,
verjagen mein wild-heißes Weh!
 
Videorezitation: