D A S W O R T D E R S T U M M E N
geschrieben 1933
Posthum erschienen
Inhalt
Aus dem Zyklus ausgeschiedene Gedichte
zurück zu Gertrud Kolmar Die Gedichte
20. Oktober 1933
	
	Ich spielte gern im Gelock
	Eines Knaben, der niemals war.
	Blühn und Blau als mein Veilchenstock,
	Unflügg und fern als mein Aar.
	
	Er rückte in Dämmerung
	Still neben mich auf die Bank:
	»Mutter ...« und war so jung,
	Und spät wenn Düsternis sank,
	
	Dann tat er die Arme um mich,
	Lag zärtlich mir angeschmiegt,
	Wie Morgen, goldroter Strich,
	Ob der grauenden Wolke liegt,
	
	Da schwamm er im Schattensee,
	Da ward ich sein tragendes Boot.
	Auf Inseln in funkelndem Schnee
	Aus Feldertiefen wuchs Brot.
	
	Er ist nicht gewachsen; er blieb
	- O du bräunliches Blumengesicht! -
	Sah freundlich und hatte mich lieb,
	Doch die Jahre liebten mich nicht,
	
	Entschritten wie Räuber dem Fest,
	Die Kram und Kammer geleert.
	Und am Dach klebt ein frierendes Nest,
	Dem der Vogel nie wiederkehrt.
	
	Er kehrt nicht ... November tappt,
	Ein hüstelnder Greis, durchs Moor
	Der Mahr im Giebelhorst schnappt
	Kauzschrei und Fledermausohr.
	
	Ich leuchte ihn fort vom Gebälk,
	Und da ich den Spiegel schau',
	Ist leise mein Antlitz welk
	Wie das einer alten Frau.
20. August 1933
	
	Zwischen Säulen sinkt der Vorhang zu;
	Denn der Göttin neid' ich eure Glieder,
	Meine Söhne, eure reinen Lider,
	Neide der Zypresse dieses Du,
	Ihren Flüsterhauch aus schwarzen Zweigen.
	Hoch und fern, von meiner Hand geduckt,
	Blickt die kleine Silberlampe, zuckt,
	Eurem Lager scheu sich hinzuneigen.
	
	Diese Stirnen werden einmal Mann.
	Dieser weiche Mund, da Träume nippen,
	Schließt sich fester mit des Gracchus Lippen.
	Lieblich Schlummernde. Ich rühr euch an,
	Stürze taumelnd über dunkle Haare
	Einen Becher süßer Namen aus,
	All der Liebe, die im Tageshaus
	Schamvoll unter strengem Wort ich wahre.
	
	Kinder ihr. Verhülltet ihr mich schon,
	Als mein Witwentag die Dolden neigte,
	Mir ein König seine Krone zeigte,
	Mir die Stufen wies zu seinem Thron
	Und ich tastend schritt an eure Wiege ?
	Für Ägyptens Purpur fand zum Tausch
	Eure Spiele, euren Flügelrausch,
	Eure klaren Augen voller Siege ? . . .
	
	Schlaft, so bin ich Mutter. Seid ihr wach,
	Werd' ich wieder Herrin starker Buben,
	Die schon trotzig bäumt ein Ruf der Tuben;
	Aber auch in schweigendes Gemach
	Bringen Ruderschiffe vieler Häfen
	Edle Steine, Meeresperlenglanz:
	Heut mein Brustgeschmeide. Einst mein Kranz,
	Goldengrünes Laub um graue Schläfen!
10. Oktober 1933
	
	Ich komme aus dem Garten,
	Ich bringe einen Spaten,
	Ich war bei den Schneebeerbüschen
	Und habe ein Loch gegraben.
	Ich trug eine schmale Truhe
	Mit einer sonngelben Rose;
	So trug ich mein liebes Kind,
	Meinen kleinen Knaben.
	
	Mit dunkelblonden Haaren,
	Mit reinen, sehr sanften Lidern,
	Mit Lippen, drauf junge Worte
	Wie zwitschernde Vögel nisten.
	Er hatte zuweilen Augen
	Wie summende samtene Hummeln
	Und hatte zuweilen Augen
	Gleich dunkleren Amethysten.
	
	Ich stickte mit meinen Träumen
	Ihm helle leinene Kittel
	Und nähte aus meinem Hoffen
	Ihm moosgrüne Lederschuhe.
	Ich schritt ein wenig gebückt;
	Er hing so an meinem Herzen.
	Die Leute sahen ihn nicht. -
	Und nun ist Ruhe.
	
	Er wurde seltsam und karg,
	So leicht, so still und müde
	Und neigte das kleine Haupt
	Wie welke Blumen es neigen.
	Ich habe ihn eingesenkt
	Tief zwischen die Wurzeln der Linde,
	Hab' Erde auf ihn gebreitet
	Und über die Erde Schweigen.
	Und ich habe doch nicht geweint. . .
24. September 1933
	
	Mein wilder Wein singt rubinene Lieder.
	Der braungoldne Abend wird blasser;
	Draus träufen die Birken endlos hernieder
	Wie springende Wasser.
	
	Eine sanfte Hand malt mit dunklerm Getusch
	Der Dahlie purpurnen Stern;
	Goldraute lockert den schwebenden Busch,
	Und die Bienen sind fern.
	
	Das bebende Gras um meine Füße,
	Gerne trat' ich es nicht:
	Verweint und kühl und weich und voll Süße,
	Ein Kindergesicht.
	
	Die Beerensträucher wuchern, verrotten
	Fahl und unform im Westen.
	Schwerfällig lösen sich Bergamotten
	Aus tragenden Ästen.
	
	Die schwefelfarbige Rose erlischt,
	Und große schwarztrauernde Frau,
	Steht eine Tanne am Himmel und fischt
	Sterne im Grau.
	
	Silberne Flosse zittert und blinkt
	Um die Verdüsterte her.
	Bläue rauscht, und mein Garten versinkt,
	Eiland, im Meer.
21. September 1933
	
	Ich durchschreite zierlich das hölzerne Gatter;
	In euren Garten komm' ich, die Schlange.
	Ihr kennt mich stumm, nennt mich Ringelnatter,
	Doch zieht nur die Fäden aus meinem Gesänge,
	
	Die flimmernden Silber- und kupfernen Fäden
	Behutsam aus schwarzem gebreiteten Tuche:
	Nachts unter den grasgrünen Fensterläden,
	Der grauen, rinderhäutigen Buche,
	
	Da will ich gaukeln, ich sinke, ich steige,
	Da will ich klingen mit tanzendem Bauche
	Und rollen den Mond über finstere Zweige,
	Die güldene Kugel; ich hüpfe, ich hauche,
	
	Ich lernte die Sprüche, ich weiß die Künste
	Und schmecke sie alle auf spielender Zunge;
	In östlicher Tempel blauende Dünste
	Zischt' ich einst hin mit gleitendem Sprunge.
	
	Denn ich bin alt, bin vieltausendjährig,
	Gepflegt und erzogen in heimlichen Riten,
	Ward zauberzeugend, ward machtgebärig,
	Mit Milch genährt von frommen Ophiten
	
	In flüsternden Krypten, bei tragender Säule,
	Daran ich umschmiegenden Leibes gerüttelt,
	Wenn fernhin das Dämmer verschwamm, eine Eule
	Die Sterne aus fiedrigem Mantel geschüttelt.
	
	Verlockt' ich die Toren Erkenntnis zu essen,
	Ein süßeres Obst, das die Angstlichen scheuten ?
	Die Bücher reden's, ich hab' es vergessen.
	Ich kroch aus den Jahren, den schrumpfenden Häuten
	
	Und blieb bei den Steinen der Ode liegen
	Und trank aus den Schalen der Waldanemone;
	Ich molk im Geställe die meckernden Ziegen
	Und zeigte der täppischen Magd meine Krone;
	
	Ich löste die bronzenen Rätsel der Schleichen,
	Durchstach den geschmeidigen Spott der Lacerten.
	Ich tauche aus Sümpfen, erschauernden Teichen
	Und singe nachts in euren schweigenden Gärten.
12. Oktober 1933
	
	Ein blaues Dämmer sinkt mit triefender Feuchte;
	Es schleppt einen breiten rosiggoldenen Saum.
	Schwarz steilt eine Pappel auf in das weiche Geleuchte,
	Und milde Birken verzittern zu fahlerem Schaum.
	Wie Totenhaupt kollert so dumpf ein Apfel zur Furche,
	Und knisternd verflackert mählich das herbstbraune Blatt.
	Mit Lichtchen gespenstert ferne die düsternde Stadt.
	Weißer Wiesennebel braut Lurche.
	
	Ich bin die Kröte.
	Und ich liebe die Gestirne der Nacht.
	Abends hohe Röte
	Schwelt in purpurne Teiche, kaum entfacht.
	Unter der Regentonne
	Morschen Brettern hock' ich duckig und dick;
	Auf das Verenden der Sonne
	Lauert mein schmerzlicher Mondenblick.
	
	Ich bin die Kröte.
	Und ich liebe das Gewisper der Nacht.
	Eine feine Flöte
	Ist im schwebenden Schilf, in den Seggen erwacht,
	Eine zarte Geige
	Flirrt und fiedelt am Felderrain.
	Ich horch' und schweige,
	Zerr' mich an fingrigem Bein
	
	Unter fauler Planke
	Aus Morastigem Glied um Glied,
	Wie versunkner Gedanke
	Aus dem Wust, aus dem Schlamm sich zieht.
	Durch Gekraut, um Kiesel
	Hüpf ich als dunkler, bescheidener Sinn;
	Tauiges Laubgeriesel,
	Schwarzgrüner Efeu spült mich dahin.
	
	Ich atme, schwimme
	In einer tiefen, beruhigten Pracht,
	Demütige Stimme
	Unter dem Vogelgefieder der Nacht.
	Komm denn und töte!
	Mag ich nur ekles Geziefer dir sein:
	Ich bin die Kröte
	Und trage den Edelstein ...
18. August 1933
	
	Die gelbe Rose, zart und dunkel umlaubt,
	In Porzellan vom bläulichen Grau der Taube,
	Die gelbe Rose öffnet das blühende Haupt
	Und zieht in Duft, dem safranfarbigen Staube,
	
	Durch meine Stube schwimmend wie Träume hin,
	Die goldbeschnäbelten Schwäne, die nie gesungen,
	Umschmiegt mich willig und achtet nicht, wer ich bin,
	Woher unter finsteres Haar mein rotes Blut gesprungen.
	
	Sie ist sanft und gebend und dauerlos wie eine Frau
	Und ist, mag sein, dem Kranz des ewigen Todes entfallen,
	Der draußen harrt in Abends taubenbläulichem Grau,
	Ein Buch berührt und gilbt mit den blätternden
	     Fingerkrallen,
	
	In Augenlöchern, auf Zähnen heiligen Spott:
	Und ob sie wiehern und stampfen wie stolz gezüchtete
	     Pferde
	Der Nordmann besser sich preist als Jude und Hottentott
	Und der Priester in engen Himmel ihm schafft einen
	     neuen Gott -
	Ich warte auf alle gleich still mit der gleichen Schaufelvoll
	Erde.
20. September 1933
	
	Meine Schuhe
	Bringen Staub der tausend Straßen mit.
	Keine Ruhe, keine Ruhe;
	Immer weiter schleppt mich böser Schritt.
	
	An den Wänden
	Vor den Häusern steht die Bank nicht mehr
	Und ich tast' mit blöden Händen
	Um die Mauern meiner Wiederkehr.
	
	Meilensteine,
	Daß der Stock sich manchmal lehnen kann.
	Ach, ich weine, ach, ich weine;
	Denn ich bin ein alter, alter Mann.
	
	Meine Rippen
	Hart und faßbar schon wie Totenbein. -
	Diese runden, blutgefüllten Lippen,
	Die dem Bittenden ins Antlitz spein! …
	
	Hetzt die Tölen!
	Keiner, der den Riß im Kaftan flickt.
	Meine Augen sind nur Aschenhöhlen,
	Drin ein roter Funke trüb erstickt.
	
	Von der Planke
	Holt man Krusten, die sonst niemand ißt.
	Und ich danke, und ich danke
	Für die Gabe, die der Schimmel frißt.
	
	Zittrig Schleichen
	Um die Menschenstimme, die mich schmäht.
	Ach, das Zeichen, gelbes Zeichen,
	Das ihr Blick auf meine Lumpen näht.
	
	Ist bemakelt
	Meine Stirn mit wunderlicher Schrift ?
	So verworren, so gekrakelt,
	Daß sie nirgends mehr den Deuter trifft.
	
	Meine Sünden
	Müssen alle da geschrieben stehn
	Mit den Namen, mit den Gründen:
	Seht sie an; ich kann sie selbst nicht sehn.
	
	Ruft die Hunde.
	Ach, ich bin ein alter, alter Mann . . .
	Schlagt die "Wunde, Todeswunde,
	Ewig dem, der niemals sterben kann!
22. September 1933
	
	Der Herbst geht über die Felder gemähter Saaten,
	Ein kräftiger Herbst mit rotem wilden Wein um die Stirne.
	Er trägt einen großen Korb voll praller Tomaten,
	Voll blauer Pflaumen, mit Apfel und gelber Birne.
	
	In Wäldern splintert gierige Axt die Rinde.
	Ein Knabe wirft seinen Drachen hin über feuchtbraune Erde
	Die junge Frau holt das wärmere Kleid aus dem Spinde,
	Und gichtige Alte rücken schon näher zum Herde.
	
	Und Bettler läuten kurz und bitten mit heiseren Worten;
	Ein Krüppel hebt seinen halben Arm: ». . . von der Marne . . «
	Und arme Liebende sterben schrecklich an glücklosen Orten,
	Und hutzelnde Weibchen verhökern Knöpfe und Garne.
	
	In Abendhimmeln flattert Geschwirr von Propellern . . .
	Sie achten es nicht. Sind Namen in Büchern der Schreiber.
	Sind Tiere mit Füßen und Händen, zusammengepfercht in Kellern.
	Der Gummiknüppel, die Faust und ihre zuckenden Leiber -
	
	Die Nägel um ihre Gurgeln gekrallt zum Ersticken -
	Der Hieb mit dem Kugelstock, mit dem klatschenden Lederstreifen -
	Sie irren im Lager um mit kranken, entsetzten Blicken
	Und leben wahrscheinlich noch. Das können sie nicht begreifen.
	
	Denn immerhin füttert man sie, dumpfe, lästige Fresser,
	Die noch den Trog erkennen, der Hürde stählerne Trossen.
	Längst in den Schlachthof getrieben, warten sie stumm auf das Messer;
	Manchmal brüllen sie nachts und scheuen und werden erschossen.
	
	Gellt der Wächter, springt Schauder in ihre Mienen,
	Wieder stürzt ihr Gesicht über düstere Kellertreppen. -
	Keinem aber ist noch der bärtige Häftling erschienen,
	Der sich geduldig und still, niemals redend mit ihnen,
	Täglich müht, ein hölzernes Kreuz auf die Richtstatt zu schleppen.
30. September 1933
	(Zum Erntedankfest am 1. Oktober 1933)
	
	O, ich hab' euch ein Lied singen wollen, das die Erde erregt,
	Wild aufflattern macht das schwarze Tannhaar der Berge,
	Hinsausend den Schaum der Meere wie Kehricht
	     zusammenfegt
	Und flüchtende Wolken reißt - O Gott, wir Menschen sind
	     Zwerge.
	
	Ich habe drei kluge Worte sinnend zusammengebracht
	Statt der Klänge, die heiß wie Blut aus dem Herzen spritzen,
	Die rasen, wie eine Sturmglocke aufschreit um Mitternacht,
	Wenn apokalyptische Reiter auf mähnigen Pferden sitzen.
	
	Und ich sollte in eure Martern niederstoßen die Faust,
	Auf daß sie verschlungen werde, zerknackt von fressender
	     Flamme,
	O, ich müßte mit euch, in Krämpfen, zerprügelt, hungrig,
	     verlaust
	Hinkriechen auf tränendem Stein, gefesselt mit eiserner
	     Kramme.
	
	Das wird kommen, ja, das wird kommen; irret euch nicht!
	Denn da dieses Blatt sie finden, werden sie mich ergreifen.
	Herr, gib, daß ich wach mich stelle deinem heiligen großen
	     Gericht,
	Dann, wenn sie an blutendem Schopf durch die finsteren
	Löcher mich schleifen!
	
	Du siebzehnjähriges Mädchen, dem sie die Locken zerfetzt,
	Du junger armer Mensch, dem sie grausam die Rippen
	     brechen,
	Verzweifeln will ich, will aufweinen, elend, verletzt,
	Und singen dem Vogel gleich, dem Nadeln das Auge
	     stechen!
	
	Was ist das Leben ? Ein Dung, drauf weiße Narzissen
	     erblühn.
	Was soll der Leib ? Er war schön, doch bald muß er enden.
	Was ist die Seele ? Nur Fünkchen, nur kleines Glühn,
	Und Einer deckt zu, deckt es zu mit den stillen, gewaltigen
	     Händen! . . .
15. Oktober 1933
	
	In meiner Zelle brennt die ganze Nacht das Licht.
	Ich stehe an der Wand und schlafen darf ich nicht;
	
	Denn alle zehn Minuten kommt ein Wärter, mich zu schaun.
	Ich wache an der Wand. Sein Hemd ist braun.
	
	Die andern kehren wieder, unterhalten sich
	Mit meinem Schrein und Stöhnen, lachen über mich,
	
	Sie recken mir die Arme gewaltsam, nennen's Sport.
	Ich breche in die Knie ... und endlich gehn sie fort.
	
	Ich sah nicht Bäume, Sonne - ob es die wirklich gibt ?
	Ob wo ein armes Kind noch seinen Vater liebt ?
	
	Kein Zeichen mehr, kein Brief - und ich habe doch eine Frau!
	Sie sagten: »Du bist rot; wir schlagen dich braun und blau.«
	
	Sie peitschten mit stählernen Ruten und mein Rumpf war bloß . . .
	O Gott! O Gott! Nein, nein! Ich bin ja glaubenslos,
	
	Ich habe nicht gebetet im Felde, im Lazarett,
	Nur abends als kleiner Junge, und die Mutter saß am Bett.
	
	Die Erde ist Kerkergruft, der Himmel ein blaues Loch.
	Hörst du, ich leugne dich! Mein Gott... ach, hilf mir doch!
	
	Du bist nicht: wenn du wärst, erbarmtest du dich mein.
	Jesus litt für euch alle; ich leide für mich allein.
	
	Ich steh' und sinke ein bei Wasser und wenig Brot
	Stunden und aber Stunden. Wie gut, wie gut ist der Tod!
	
	Hingelegt... und verschlossen in tiefem, dunklem Schacht
	Keine grelle Lampe. Nur Schlaf. Nur Stille. Nacht. . .
16. Oktober 1933
	
	Er hielt an einer Straßenecke.
	Bald wuchs um ihn die Menschenhecke.
	
	Sein Bart war schwarz, sein Haar war schlicht.
	Ein großes östliches Gesicht,
	
	Doch schwer und wie erschöpft von Leid.
	Ein härenes verschollnes Kleid.
	
	Er sprach und rührte mit der Hand
	Ein Kind, das arm und frostig stand:
	
	»Ihr macht es krank, ihr schafft es blaß;
	Wie Aussatz schmückt es euer Haß,
	
	Ihr lehrt es stammeln euren Fluch,
	Ihr schnürt sein Haupt ins Fahnentuch,
	
	Zerfreßt sein Herz mit eurer Pest,
	Daß es den kleinen Himmel läßt -«
	
	Da griff ins Wort die nackte Faust:
	»Schluck' selbst den Unflat, den du braust!
	
	Du putzt dich auf als Jesus Christ
	Und bist ein Jud und Kommunist.
	
	Die krumme Nase, Levi, Saul,
	Hier, nimm den Blutzins und halt's Maul!«
	
	Ihn warf der Stoß, ihn brach der Hieb.
	Die Leute zogen mit. Er blieb.
	
	Gen Abend trat im Krankenhaus
	Der Arzt ans Bett. Es war schon aus. -
	
	Ein Galgenkreuz, ein Dornenkranz
	Im fernen Staub des Morgenlands.
	
	Ein Stiefeltritt, ein Knüppelstreich
	Im dritten, christlich-deutschen Reich.
15. September 1933
	
	Nur Nacht hört zu: ich liebe dich, ich liebe dich, mein Volk,
	Und will dich ganz mit Armen umschlingen heiß und fest,
	So wie ein Weib den Gatten, der am Pranger steht, am Kolk,
	Die Mutter den geschmähten Sohn nicht einsam sinken läßt.
	
	Und wenn ein Knebel dir im Mund den blutenden Schrei
	     verhält,
	Wenn deine zitternden Arme nun grausam eingeschnürt,
	So laß mich Ruf, der in den Schacht der Ewigkeiten fällt,
	Die Hand mich sein, die aufgereckt an Gottes hohen Himmel
	     rührt.
	
	Denn der Grieche schlug aus Berggestein seine weißen
	    Götter hervor,
	Und Rom warf über die Erde einen ehernen Schild,
	Mongolische Horden wirbelten aus Asiens Tiefen empor,
	Und die Kaiser in Aachen schauten ein südwärts gaukelndes
	     Bild.
	
	Und Deutschland trägt und Frankreich trägt ein Buch und
	     ein blitzendes Schwert,
	Und England wandelt auf Meeresschiffen bläulich silbernen
	     Pfad,
	Und Rußland ward riesiger Schatten mit der Flamme auf
	     seinem Herd,
	Und wir, wir sind geworden durch den Galgen und durch
	     das Rad.
	
	Dies Herzzerspringen, der Todesschweiß, ein tränenloser
	     Blick
	Und der ewige Seufzer am Marterpfahl, den heulender Wind
	     verschlang,
	Und die dürre Kralle, die elende Faust, die aus Scheiterhaufen
	     und Strick
	Ihre Adern grün wie Vipernbrut dem Würger entgegenrang,
	
	Der greise Bart, in Höllen versengt, von Teufelsgriff zerfetzt,
	Verstümmelt Ohr, zerrissene Brau und dunkelnder Augen
	     Fliehn:
	Ihr! Wenn die bittere Stunde reift, so will ich aufstehn hier
	     und jetzt,
	So will ich wie ihr Triumphtor sein, durch das die Qualen ziehn
	
	Ich will den Arm nicht küssen, den ein strotzendes Zepter
	     schwellt,
	Nicht das erzene Knie, den tönernen Fuß des Abgotts harter
	     Zeit;
	O könnt' ich wie lodernde Fackel in die finstere Wüste der Welt
	Meine Stimme heben: Gerechtigkeit! Gerechtigkeit!
	     Gerechtigkeit!
	
	Knöchel. Ich schleppt doch Ketten, und gefangen klirrt mein
	     Gehn.
	Lippen. Ihr seid versiegelt, in glühendes Wachs gesperrt.
	Seele. In Käfiggittern einer Schwalbe flatterndes Flehn.
	Und ich fühle die Faust, die das weinende Haupt auf den
	      Aschenhügel mir zerrt.
	
	Nur Nacht hört zu: ich liebe dich, mein Volk im Plunderkleid.
	Wie der heidnischen Erde, Gäas Sohn entkräftet zur Mutter
	      glitt,
	So wirf dich zu dem Niederen hin, sei schwach, umarme das
	      Leid,
	Bis einst dein müder Wanderschuh auf den Nacken der
	     Starken tritt!
24. Oktober 1933
	
	Ich habe nur dies Kind, das ich in Not geboren,
	Bin eine arme Witwe, Kleidermacherin.
	Mein Kindlein ist ein Mensch, hat Nase, Mund und Ohren,
	Und schöne dunkle Augen leuchten immer zu mir hin.
	
	Es möchte gerne lernen, rechnen, lesen, schreiben,
	Verwirft die Federn nicht und hält die Hefte blank,
	Will gern sein kleines Werk mit allen andern treiben.
	Der Lehrer setzt es abseits auf die Judenbank …
	
	Denn es ist eines nur, und andre sind die Vielen;
	Sie hänseln es und sprühn ihm Tinte aufs Gewand.
	Es möchte oft im Hof mit einer Freundin spielen,
	Doch jede stößt es fort und weigert ihm die Hand.
	
	Ist eine Tür beschmiert, ein Bilderglas zersplittert,
	Ein Riegel losgeschraubt: der Jud hat's angestellt.
	Ich kann nicht weinen; nur mein Herz schluchzt zornig und
	     verbittert -
	Mein Kind, mein Kind trägt ja die Sünden eurer ganzen Welt,
	
	Neid, Bosheit, feige Wut, was euer Antlitz schändet,
	Auf Schultern, da das Kleid noch blaue Engelsflügel deckt.
	Ihr, die ihr eure eigenen Geschöpfe so verblendet,
	Glaubt ihr, wenn ihr dem meinen stumme Tränen weckt,
	
	Glaubt ihr, es sei gerecht, in Kirchen mitzubeten,
	Behaglich anzunehmen, was der Pfarrer spricht,
	Dann hinzugehn und diese Seele wie ein Tier zu treten ?
	Ach, auch das Tier zertritt der Wohlbedachte nicht!
	
	Ihr laßt's von Rangenhand mit scharfen Kieseln schmeißen,
	Ihr laßt es scheu und einsam in den Winkeln stehn,
	Ihr wollt sein neues buntes Schürzchen ihm zerreißen,
	Ihr laßt's in seinem Buch die eingemalten Hakenkreuze sehn.
	
	Ihr! Ihr! O Ehr- und Würdenmänner, schlimmer als Gelichter
	Ich darf euch nicht verfluchen, daß ihr siecht und dorrt;
	Denn noch in dieses trübe Haus blickt streng der Gott
	     der Richter.
	Steh' auf, mein Kind, und klage an mit deinem jungen Wort! -
	
	Es schläft. Gewähr' euch Gott, daß nicht in seinen Träumen
	Schon Kummer sprosse, bittres Korn, das ihr gesät.
	Ich will zur Lampe rücken, wieder Röcke säumen,
	Nur eine arme Jüdin, die für Geld euch Kleider näht.
27. August 1933
	
	Durch die Gassen schülperte ein Nebel.
	In die Kammer sinterte Geträufel.
	An den Wänden nisteten die Teufel,
	Arm in Ketten und im Mund den Knebel:
	Dagon, peitschend mit dem Schweif der Fische,
	Mammon, kriechend auf den goldnen Händen,
	Moloch, Flammen stoßend aus den Lenden,
	Abseits, brütend in verhüllter Nische,
	Beelzebub der Fliegengott.
	
	Um den grauen Turm verwirrte Ranken:
	Miltons Töchter. Fern ein Türenschlagen,
	Näher nun und scharf wie Mäusenagen
	Ein empörtes Flüstern, leises Zanken.
	Er blieb starr; sie wollten mit den Winden,
	Doch er hielt sie hart in seinen Fugen,
	Und sie glaubten, daß sie ihn ertrugen,
	Ihn, den lästigen verbohrten Blinden,
	Sturen, wunderlichen Greis.
	
	Drunten Lärm. Er preßte, stummer Wächter,
	Wie zum Blick ans Fensterglas die Stirne.
	Wilder Singsang. Angstgekreisch der Dirne.
	Schußgeballer. Brüllendes Gelächter,
	Dann ein wüstes Schimpfen, Aufwärtsblecken
	Weinbeladner Stuart-Kavaliere.
	Nur die Götzen wanden sich, wie Tiere
	Gierig fette Beute wittern, schmecken,
	Lechzend, flankenbebend schon.
	
	Und er bückte sich. Sie glänzten lüstern.
	Und er zog den Eisenring vom Knöchel,
	Riß den Pflock aus würgendem Geröchel.
	Beizend wallte von geblähten Nüstern
	Höllenhauch; schon trieften feucht zum Saugen
	Rüssellippen, schwollen geil die Bäuche. -
	Auf ihr gleißend zuckendes Gekreuche
	Sah er still mit seinen blinden Augen,
	Und sie duckten weinend hin.
23. August 1933
	
	Es standen Soldaten da, fremd auf vertrauten Wegen:
	Ihre Augen irrten verstaubt aus Gräben und Unterständen;
	Sie waren schlicht und falb wie Erde, drin sie gelegen,
	Und trugen Schlamm und Frieden an ihren verkrusteten
	     Händen.
	
	Das blitzende Zeichen war von ihnen abgerostet
	Und alles bunte Geschnipsel auf ihren Leibern verblichen;
	Sie hatten den schäumenden Ruhm, die widere Neige
	     gekostet,
	Sie hatten mit Zeitungsgeschmier ihr kleiiges Brot bestrichen.
	
	Dann hatte ihr stiller Griff die großen Worte zerbrochen;
	Die lagen wie Trommeln hohl, ein leer zersprungnes Getöse.
	Die protzige Lüge war zerlumpt in den Winkel gekrochen,
	Und Deutschland war nicht nur gut, und Frankreich war
	     nicht nur böse.
	
	Der Sommer wuchs ihnen zu mit Säften und braunen Kernen
	Und rollte ungenützt, verfaulte Frucht, von Spalieren;
	Sie zogen durch blühenden Schnee in Winternacht mit den
	     Sternen,
	Die schweigend tausend Jahr über blaue Felder marschieren.
	
	Sie pflanzten die Gärten voll Kreuze und säten die Äcker
	     voll Schüsse.
	Doch die Sonne blieb ewiglich erstrahlend über dem Morden,
	Und »Immerdar« sprachen die Berge, und »Überall« sangen
	     die Flüsse;
	Der Feind schien ganz verwelkt und fast zum Menschen
	     geworden.
	
	Sie stampften in seinem Land und wußten nicht, was sie da
	     sollten.
	Sie schickten Kugeln aus und fragten nicht, ob sie trafen.
	Sie dachten selten mehr und fühlten nur, was sie wollten:
	Die Suppe auf eigenem Tisch und ein Weib und ein Bett
	     zum Schlafen.
	
	Sie stürzten durch wirbelnde Trichter, jäh von Granaten
	     verschüttet,
	Belauschten die Tode beim Mahl, die schimmelnde Leichen
	     fressen,
	Erschauten des Wahnsinns Gefletsch, der graue Hirne
	     zerrüttet,
	Und schritten die Tiefen aus.......Sie haben alles vergessen.
	
	Sie gehn in den schönen Wald, da leichte Fähnchen sich
	     brüsten,
	Den windgeblähten Wald mit wurmdurchnagten
	     Gestängen;
	Sie spiegeln in Blankem sich, das blind wird, wenn sie einst
	     rüsten,
	Und rufen zu Götzen empor, die Lappen und Lärm
	     behängen,
	
	Sie jauchzen dem Schlägelgehüpf aus klappernden
	      Knochenstücken,
	Den Reden, die nichtiger sind als Mittagssummen der Fliege.
	Sie haben das Stumme verworfen; sie werden nach ihm sich
	     bücken
	Im Kriege.
17. Oktober 1933
	
	Hager war er, schwächlich, scheu und klein,
	Fahl und oft mit einer dunklern Brille,
	Und die Lippen tranken keinen Wein.
	
	Gerne hielt er Blumen in der Hand,
	Gern durchschritt er abendliche Gärten,
	Sprach gemessen, freundlich, ohne Härten
	Zu den Kindern, die am Weg er fand.
	
	Er war sanft. Mit leisem, sichrem Fang.
	Und die Feinde raunten: Tigerkatze,
	Und verspürten schreckhaft eine Tatze,
	Wenn das Fallbeil schütternd niederklang.
	
	Er war gut. Erwählt und schon verlacht
	Als das Spiel, das Beutetier der Bösen.
	Sieh, ein andrer starb, sie zu erlösen;
	Aber er stand ohne solche Macht
	
	In entheiligt nüchtern-neuem Licht,
	In dem klaren achtzehnten Jahrhundert.
	Und die Menschen sahn entsetzt, verwundert
	Dieses unbegreifliche Gesicht:
	
	Daß getroffner Amboß jäh sich hob
	Und in Erde stampfend schlug die Hämmer,
	Daß mit Zähnen packte eins der Lämmer
	Und das Wölferudel blutend stob.
	
	Frevel war, daß einer sich erfrecht,
	Aus dem Land das Teufelskraut zu rotten;
	Mußte er sich selber nicht vergotten,
	Einzig wert sein, wahrhaft und gerecht ?
	
	Schwäche ist, was ewig unterliegt,
	Tugend ist, daß Laster sie besudle,
	Reinheit, daß sie Grundschlamm überstrudle
	Eh er kämpfte, war er schon besiegt.
	
	Denn sie brachten bald die Welt ins Lot,
	Retteten aus Bängnis und Verstörung
	Sich in wilde endliche Empörung,
	Griffen ihn und gaben ihn dem Tod.
	
	Wieder kam die alte gute Zeit.
	Nur die Starken knechteten den Schwachen,
	Und die Frommen knieten vor den Drachen.
	Er ist weit, o, er ist weit ...
19. August 1933
	
	Und manchesmal am Abend kam der Tod.
	
	Wie lautlos grauer Flug der Schleierkäuze,
	So sank er ein. Er hing am Fensterkreuze
	Und hinter ihm ein Himmel, schwaches Rot
	
	In ferner Wolke müdem Nachtwärtstreiben.
	Und wenn dies Mädchen, sanft, ein Wegelied,
	Die kleine Lampe hob und, eh' sie schied,
	Den Vorhang sorglich rückte an die Scheiben,
	
	Dann trat der stille augenleere Gast,
	Ein Schatten, hinter seinen Stuhl und schaute
	Der Feder zu, die Wort an Worte baute
	Auf reines Blatt geduldig, ohne Rast.
	
	Und wenn der Denkende in Hände raffte
	Sein Haupt mit allem Schicksal, das es trug,
	Um schmale Lippen jener starre Zug,
	Einst hartgespannter Bogenstrang, erschlaffte,
	
	Und sprödem Firnis gleich, der blätternd staubt
	Das Machtgebot von seiner Stirn sich löste,
	Stieg wohl ein Arm, der knöcherne, entblößte,
	Als wollte er dies puderweiße Haupt
	
	Mit langen Krallen zärtlich streichelnd rühren,
	Des Zopfbands schwarzen Seidenschmetterling.
	Er ließ doch sein. Der Beinerne verging,
	Der ungegrüßte, durch verschloßne Türen. -
	
	Vielleicht vergaß er auf des Tisches Rand
	Die Stundensäule wieder, die er brachte.
	Dann, wenn der Richter einen Namen dachte
	Und absichtslos sie streifte, floß ihr Sand
	
	Mit feinem Sickern aus dem obern Glase
	Der untern Kammer ein. Es wurde Tag.
	Und eine dunkelrote Rose lag
	Verstummt, ein armes Häufchen, vor der Vase. -
	
	Schon Hahnenschrei. Der Sternkranz hing erblaßt.
	Er saß und schrieb: Wer aber kann ihm wehren,
	Ihm, der die Wahrheit sagen will und ehren
	Und der für sie zu sterben sich gefaßt ?
	
	Nun hielt er an. Mit dünnem Finger zeigend
	Erhob er seine Rede, Satz um Satz
	Als ein Vermächtnis, leuchtend, teuren Schatz.
	Da beugte sich der Tod und legte schweigend
	
	Die Hand auf seinen Scheitel wie ein Freund.
26. August 1933
	
	Warum soll ich heut nicht sterben wollen ?
	Einmal muß ich doch vergehn.
	Meine Tage, meine Jahre rollen
	Hügelnieder zu den Seen,
	Da die grauen Fische Stille singen,
	Mummel sanft und golden spricht,
	Natter wiegend aus geschuppten Ringen
	Ihre stumme Flöte bricht.
	
	Ist noch immer Hauch auf meinen Wangen,
	Auf der Lippe noch ein Lied,
	Sind die Augen schon den Weg gegangen,
	Der von meinem Leben schied,
	Von der Stadt, die mit geschwungnen Lichtern
	Scharf das weiche Dunkel mäht,
	Die mit verzerrten, tobenden Gesichtern
	Jede leise Botschaft schmäht.
	
	Dieses eigne Antlitz möcht' ich halten,
	Das von Worten überfließt,
	Möcht' es neigen so, es schweigsam falten,
	Wie den Kelch die Blume schließt,
	Bis es nicht den harten Hohn aus Steinen,
	Schuttgefasel mehr vernimmt,
	Nur ein Tau, ein zartes Kinderweinen,
	Schwebend durch die Blüte glimmt.
	
	Mit der Bettelschale wankt das Alter
	Fröstelnd über kahle Trift;
	Tief im roten Klang der Feuerfalter,
	In des Grases grüner Schrift
	Will ich sinkend ruhn, verlaßne Schwelle,
	Wo der Ufertempel schwand:
	Staub. Und manchmal scheu die Welle
	Unterm Haupt wie eine Hand.
25. Oktober 1933
	
	Ich aber traf ihn nachmittags im Wald.
	Ein Wunder, das durch Buchenräume ging,
	So menschenfern, so steigend die Gestalt,
	Daß blaue Luft im Fittich sich verfing;
	
	Das Antlitz schien ein reines, stilles Leid,
	Sehr sanft und silbrig rieselte das Haar,
	In großen Falten schritt das weiße Kleid.
	Er schaffte nichts, er sagte nichts; er war.
	
	Und nichts an ihm, was schreckte, was verbot,
	Und dennoch: keines Sterbens Weggenoß,
	Daß meine Lippe, ob auch unbedroht,
	Erstaunten Ruf, die Frage stumm verschloß.
	
	Ein Blatt entwehte an sein Gürtelband,
	Vergilbt und schon ein wenig krausgerollt;
	Er fing und trug es in der schmalen Hand
	Wie ein Geschenk aus Bronze und aus Gold.
	
	Wer sah ihm zu ? Das Eichhorn, rot am Ast,
	Und Rehe, die das Buschwerk schnell verlor.
	Und Erlen wanden schon im Abendglast
	Wie schwarze Schlangen züngelnd sich empor.
	
	Er regte kaum die dünne Blätterschicht
	Mit weichem Fuß. Er hatte ewig Zeit
	Und zog: wohin? In Stadt und Dörfer nicht;
	Er wallte außer aller Wirklichkeit.
	
	Nicht unsre Not, nicht unser armes Glück,
	Nur keusche Ruhe barg sein Schwingenpaar
	Ich folgte nach und stand und blieb zurück.
	Er brachte nichts, er sagte nichts: er war.
	
Aus dem Zyklus ausgeschiedene Gedichte
17. September 1933
	
	(1. Version)
	
	Die hier umhergehn, sind nur Leiber
	Und haben keine Seele mehr,
	Sind Namen nur im Buch der Schreiber,
	Gefangne: Männer. Knaben. Weiber.
	Und ihre Augen starren leer (schwer)
	
	Mit bröckelndem, zerschlagenem Schauen
	Auf Stunden, da in düstrem Loch
	Gewürgt, zertrampelt, blindgehauen
	Ihr Qualgeächz, ihr Wahnsinnsgrauen,
	Ein Tier, auf Händ und Füßen kroch . . .
	
	Sie tragen Ohren noch und hören
	Doch nimmermehr den eignen Schrei.
	Die Kerker drücken zu, zerstören:
	Kein Herz, kein Herz mehr zum Empören!
	Der leise Wecker schrillt entzwei.
	
	Sie mühn sich blöde, grau, entartet,
	Von buntem Menschensein getrennt,
	Stehn, abgestempelt und zerschartet,
	Wie Schlachtvieh auf den Metzger wartet
	Und dumpf noch Trog und Hürde kennt.
	
	Nur Angst, nur Schauder in den Mienen,
	Wenn nachts ein Schuß das Opfer greift . . .
	Und keinem ist der Mann erschienen,
	Der schweigend mitten unter ihnen
	Ein schweres Kreuz zur Richtstatt schleift. -
Im Lager
	
	(2. Version)
	
	Die hier umhergehn, sind nur Leiber
	Und haben keine Seele mehr,
	Sind Namen nur im Buch der Schreiber,
	Gefangne: Männer. Knaben. Weiber.
	Und ihre Augen starren leer (schwer)
	
	Mit bröckelndem, fallnem Schauen
	Auf Stunden, da in düstrem Loch
	Gewürgt, zertrampelt, blindgehauen
	Ihr Qualgeächz, ihr Wahnsinnsgrauen,
	Ein Tier, auf Händ und Füßen kroch . . .
	
	Sie tragen Ohren noch und hören
	Doch nimmermehr den eignen Schrei.
	Die Kerker drücken ein, zerstören:
	Kein Herz, kein Herz mehr zum Empören!
	Der feine Wecker schrillt entzwei.
	
	Sie mühn sich blöde, grau, entartet,
	Von buntem Menschensein getrennt,
	Stehn, abgestempelt und zerschartet,
	Wie Schlachtvieh auf den Metzger wartet
	Und dumpf noch Trog und Hürde kennt.
	
	Nur Angst, nur Schauder in den Mienen,
	Wenn nachts ein Schuß das Opfer greift . . .
	Und keinem ist der Mann erschienen,
	Der schweigend mitten unter ihnen
	Ein kahles Kreuz zur Richtstatt schleift. -
19. September 1933
	Version 1
	
	Ich trage keine Trauer
	Mit Tränenspuren im Gesicht,
	Mit schwarzen Schleiern, Jahreslicht,
	Und ernstem Kranz, den Efeu flicht
	Um harte Friedhofsmauer.
	
	Und doch sind meine Truhen
	Geschreint, gehoben ohne Hand
	In Felder voller Staudensand,
	Die gleitend fliehn aus unserm Land
	Und stets im Abend ruhen.
	
	Da schläft in nackten Brettern
	Mein Tag mit wildem Starenschwarm,
	Voll Mohn und Wiesenschaum den Arm,
	Mit Tropfenstürzen, reif und warm,
	In schweren jähen Wettern.
	
	Und drüben fließt Verstummen
	Und sanfte Erde um ein Kind,
	Die Augen, die im Juniwind
	Wie Sammethummeln dunkel sind
	Und golden wie ihr Summen.
	
	Es hat mich nie zerrissen,
	Aus meinem Schoß sich nie gestemmt,
	Dahinzuleben zart und fremd
	Mit kleinem blassen Bettlerhemd,
	Ein Menschenkind, in Kissen.
	
	Es war nur Wunsch und Worte
	Und schluchzend tönendes Geglock,
	Ein Duft, ein Blühn wie Veilchenstock,
	An meinem falben Werkelrock
	Die bunt gewirkte Borte,
	
	Zu tintigem Gestrichel
	Zerrann der Birke weißer Stab:
	Mein Jahr verwuchs auf deinem Grab,
	Und zögernd mäht ein Mond es ab
	Mit silberkalter Sichel.
Trauer
	
	Version 2
	
	Ich trage keine Trauer
	Versiegter Tränen im Gesicht,
	Mit schwarzen Schleiern, Jahreslicht,
	Mit ernstem Kranz, den Efeu flicht
	Um herbe Friedhofsmauer.
	
	Und doch sind meine Truhen
	Geschreint, gehoben ohne Hand
	In Felder voller Staudensand,
	Die gleitend fliehn aus unserm Land
	Und stets im Abend ruhen.
	
	Da schläft in kahlen Brettern
	Mein Tag mit wildem Starenschwarm,
	Voll Mohn und Wiesenschaum den Arm,
	Mit Tropfenstürzen, reif und warm,
	In schweren jähen Wettern.
	
	Und drüben fließt Verstummen
	Und sanfte Erde um ein Kind,
	Die Augen, die im Sommerwind
	Wie Sammethummeln dunkel sind
	Und golden wie ihr Summen.
	
	Es hat mich nie zerrissen,
	Aus meinem Schoß sich nie gestemmt,
	Dahinzuleben zart und fremd
	Mit kleinem blassen Bettlerhemd,
	Ein Menschenkind, in Kissen.
	
	Es war nur Wunsch und Worte
	Und schluchzend tönendes Geglock,
	Ein Blühn, ein Blau wie Veilchenstock,
	An meinem falben Werkelrock
	Die blau gewirkte Borte,
	      licht
	
	In tintiges Gestrichel
	Zerrann der Birke weißer Stab:
	Mein Jahr verwuchs auf deinem Grab,
	Und zögernd mäht ein Mond es ab
	Mit silberkalter Sichel.
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