Dithyramben - Yvan Goll

Iwan Goll

Dithyramben
erschienen in der
Bücherei "Der jüngste Tag"
im Kurt Wolff Verlag
Leipzig


 

Inhalt

Der grosse Frühling

Die göttliche Orgel
Der Kinodirektor
Der Student
Meeting der fünften Klasse
Der pflichtvergessene Geistige
Der Streik
Die Prozession
Das Goldene Vlies

 

Die Alpenpassion

I Flucht
II Schlucht
III Bergwald
IV Gipfelan
V Panorama
VI Gletscher
VII Grat
VIII Nachthütte
IX Wassersturz

 

Der Panamakanal (Zweite Fassung) I – IV


Claire Studer zu eigen

 

DER GROSSE FRÜHLING

Die göttliche Orgel

Wer von euch hörte die hektische Orgel nicht über den
Städten?
   Straßen sirrten wie abgebrochene Kometenschweife
um die rote Erde. Goldene Karussells des Sonntags umflogen die
Wochenwelt wie große Ventilatoren.
   Aus den Warenhäusern fielen die elektrischen Hespe-
ridenäpfel. Und jeder arme Passant, dem die wächsernen
Damen sich gaben, wurde zum Kind, zum Weihnachtskind.
   Aber spitz und gotisch stand die Orgel über dem
Quadrat der Städte: Orgel des Lebens, Orgel des Sterbens!
Alle Stimmen der Menschen schrieen gegen den bleiernen
Himmel.
   Die Orgel wußte vom ewigen Skandal der Erde.
Sie war voll versoffener Männerstimmen, voll blecherner
Klagen hungernder Witwen. Altes Husten klopfte aus
Spitälern. Zimbeln schlugen aus Kinderschulen. Und das
Frösteln einsamer Propheten gab sie wieder.
   Die Orgel orgelte den hektischen Gesang der Erde. Sie
strahlte groß und spitz über den aufgehäuften Häusern des
Elends.
   Ausgehöhlte Hotels zerbröckelten. Fabriken drohten mit
ihren keuchenden Schloten. Schlafgemächer stürzten ein zu
kalkigem Schnarchen. In den frühen Morgen schlotterten
die eisigen Glocken.
   Und die Orgel donnerte überall über der Welt!


Der Kinodirektor

Für einen Groschen öffnet sich euch das Paradies. Hier ist das
einzige Paradies der Welt: Chemnitzerstraße 136. Am Ein-
gang die goldenen Lettern leuchten es laut.
   An die Kassa! Die Dame hat echte Brillantringe. Jedem
schenkt sie ihr purpurnes Lächeln, dir, verschwitzter Dienst-
mann, und auch dir, hölzerner Soldat! Jedem will sie blonde
Geliebte sein: für einen Groschen!
   Die Welt sei euer. Der Portier im roten Frack ist euer
Sklave. Kein anderes Gefühl hat der Kaiser, wenn er in sein
Schloß tritt. Hier allein gibt es die glücklichen Menschen. Für
einen Groschen, o Brüder, könnt ihr glückliche Menschen sehn.
   Da fächeln sich Damen über sonnige Parks hinweg. Stra-
ßen, himmlische Spiralen, entheben die Passanten der Erde.
Und vor Tribünen fahren in überirdischen Galawagen die
Präsidenten ferner Republiken auf.
   Ihr Dumpfen, seht: ihr sollt angelisch werden! Hier im
Kino seid ihr jenseits der Erde. Gut und Bös des Lebens sind
ja nichts als ein Reflex wie Schwarz und Weiß auf dieser
Leinwand. Nichts ist! Alles ist!
   Ich schenke euch die Schöpfung Gottes: das Paradies,
ohne Schlange und Apfel. Fluch dem Skeptischen, der
lächelnd an die Leinwand klopft und sagt: Das ist ein weißes
Tuch! Fluch diesem Lügner: denn das ist das Leben, das
reellste Leben!
   Das ist das Leben: wo Urwälder noch und Niagarafälle
rauschen. Wo auf heißem Rennplatz ein Jockei sich den Hals
bricht. Wo Mörder im Frack zu Engeln werden.
   Das ist das Leben: Weinend sitzt ihr bei hungernden
Witwen. In unendlichem Mitleid beugt ihr euch über den
Bankier, der stehlen mußte, der armselige Mensch!
   O Schöpfung Gottes! O paradiesisches Orchester! Die
Geigen schluchzen Liebe. Flöten schaukeln wie Libellen
über dem Teich des Cellos.
Und ich: seht in mir den letzten Apostel! Seht, wie ich kämpfe
und leide und an euch sterbe. Ich muß für einen Groschen
meine ganze Seele hergeben.
   Ich muß euch den Kosmos herrollen. Ich muß euch alle
Leidenschaften aufwühlen. Ich bin der Souffleur Gottes.
   Hätte ich einen Groschen, wie selig war ich! Nur einen
Groschen! Kassandra sitzt an der Kassa und wird euch
lächeln. Schenkt ihr einen Groschen!


Der Student

Er kam aus den dunklen kleinen Pensionen. Da hatte er den
Mittagstisch schon zur tollen Tribüne erhoben.
   Aus Bakunin stand er auf. Aus zerkrampften Nächten.
Aus den notwendigen Examen. Aus Zweifel und Spott. Aus
tiefstem Schrei nach Gott.
   Seine Augen zwei schwarze Löcher in die graue Maske
des Alltags. Auf seinen Lippen schwebte wie ein Falter sein
Herz.
   Aber an jenem Tage war er überall, der Freund, der Bru-
der, der Mensch. Aus allen Pensionen trat so ein Student. In
allen Versammlungen sprach so ein Fanatiker.
   Er schleuderte den brennenden Spitzbart ums Kinn. Er
schlug mit der hageren Faust die Schlangen der Zeit nieder.
   Und um ihn die blassen Arbeiter der Vereine. Um ihn
die stillen Jüdinnen. Um ihn die aufkeimenden Knaben des
nächsten Jahrhunderts.
   Hoch wuchsen seine goldenen Säulen am Eingang der
Städte. Die Julis wälzten sich in den Mohnäckern naher
Revolte. Die Menschenengel schwebten aus den Mansarden
herab.
   Mütter taumelten mit ihren Söhnen hinterher. Auf Denk-
mälern stand er und zerballte die Zeit. Im Volk war er und
schrie nach Gerechtigkeit.
   Überall in der Welt war so ein aufgepeitschter Student.
Überall öffneten sich die Schleusen des Himmels.


Meeting der fünften Klasse

Ihr Mitmenschen! So seid ihr alle gekommen, durch die
abendgehöhlten Straßen, durch die Tunnels der Stadt: Ihr
Gedrückten, ihr Flüchtigen aus der Zwielichtwohnung, aus
haßerfüllter Kaserne und dumpfem Schlafloch! Euch alle,
meine Brüder, hat mein weher Ruf durchdrungen! Oh ihr
mußtet waten durch das grelle Gold des Boulevards. Ihr
wurdet vom gelben Gezisch der Kinos angespieen. Es war so
weit, so weit bis auf diesen offenen Abendplatz. Und nun?
   Hier steh ich, der ich euch rief. Da steh ich auf hölzerner
Estrade und habe nichts in den Händen als den großen
Himmel, nichts in den Augen als den Glauben an euch, und
nichts zu verschenken als ein Wort, ein einziges, schallendes,
tiefes Wort. Erwartetet ihr mehr? Glaubtet ihr mich bereit,
euch das Giftmittelchen Haß einzuimpfen? Ein Advokat
würde euch mit grandioser Geste an seine Brust drücken?
Oder ich sei ein Metzgerjunge, der je nach Bedarf ein Kilo
oder ein Viertelpfund Befriedigung an jeden verteilt, ein
bißchen Klassenkampf, ein paar Phrasen vom Kapitalismus
und von Lohntarifen?
   Meine Mitmenschen, wie habt ihr euch geirrt! Ich rief
euch alle und habe doch nichts im Munde als ein einziges
Wort, das wie eine blutige Sense über meine Lippen streift.
Schaut mich nicht so an: Ich bin kein Prophet. Ich bin ein
Mensch. Ich bin ein einsamer, nackter Mensch wie jeder von
euch. Stürzt mir nicht zu Füßen! Schluchzet nicht! Jeder von
euch könnte dasselbe tun und auf diese Tribüne steigen und
könnte die Menschheit befreien helfen. Er brauchte nur wie
ich sein aufgeblutetes Herz zeigen und das eine Wort aus-
sprechen.
   Das eine Wort, das ihr ja alle wißt! Das Wort, das mehr
Geist enthält als die Literatur des gesamten neunzehnten
Jahrhunderts, das mehr Revolte ist als alle Appells und
Proklamationen eurer bisherigen Führer, ein Wort, das sich
um die runde Erde wölbt wie der nächtliche Himmel, dun-
kel und so voller goldener Möglichkeiten doch. Ein Wort!
   Ihr alle kennt es so gut, auch wenn ihr es immerzu
verschweigt. Ihr fahrenden Zigeuner, die den bunten Wagen
hinter der Schießbude stehen ließet. Du, zynischer Apache.
Du Nachtasylenschläfer. Sträfling, dem die Nummer der
Zelle noch immer weiß auf schwarz vor den Augen flimmert.
Dienstmädchen, das in seiner Schwangerschaft nachher am
Kanal ein dichtes Weidengestrüpp aufsuchen wird. Durch-
gefallener Student, der trotz Mythologie und Philosophie an
diesem einen Wort, weil's unausgesprochen blieb, scheitern
mußte.
   Ich könnte übrigens dies Wort wie ein Zauberer auf dem
Markt aus der Tasche ziehen und vorgaukeln lassen. Ich
könnte es euch hinwerfen, wie ehedem der Ritter seine gol-
dene Börse unter das Fußvolk. Aber es ist nicht einmal nötig,
es auszusprechen. Es gilt nur, davon zu wissen, bewußt zu
sein, daß ein jeder es in sich trägt, wie der Chirurg behaup-
tet, daß ihr alle ein Herz in euch tragt.
   Schon brodeln eure dumpfen Stimmen. Schon bewegen
sich eure schweren Füße. Eure Hände sind gezackt. Ich
fühle, ich fühle, ihr habt mich verstanden! Wie könnte es
anders sein? Ihr alle seid ja selbst schon einmal an diesem
Wort gestorben. Ihr sähet Verwundete beschämt ihre Einge-
weide mit den Händen verbergen. Sähet Familienväter sich
toll über grünende Jünglinge stürzen. Und den Toten saht
ihr ins verglaste Auge, und das Wort stand erstarrt auf ihrem
schwarzen Mund.
   Ich brauche es euch nicht zu sagen. Ich habe in euer
Antlitz gesehen. Ich habe euer Herz geprüft an diesem gol-
denen Abend. Ich weiß, ihr seid bei mir, wie ich bei euch bin.
Ich weiß, schon ist das Wort kein Wort mehr, schon ist es
Tat, Sinn und Erleichterung: schon ist es die Menschenliebe
selbst!


Der pflichtvergessene Geistige

Ich aber hab euch nicht befreien dürfen! Ich war der Wahre
nicht, den ihr brauchtet! Ich hatte Gott bezwungen, aber
nicht die Menschen!
   Ich hatte Gottes Lächeln bekämpft. Das wallende Ge-
wand vor Abendhorizonten zurückgeschlagen. Mitternachts-
sonne blühte aus blauen Sternwäldern auf.
   Doch warum hab ich nicht die Menschen so bekämpft!
Das graue Profil steinerner Avenüen mit heißen Fackeln
erleuchtet! Dem Arbeiter aus haariger Brust das Herz her-
ausgerissen! Das starre Frackhemd des gecken Tänzers zer-
rissen!
   Warum bin ich nicht in die Dörfer gegangen, wo Bauern
wie schwarze Schatten an der Erde kleben. Warum bin ich
nicht hingegangen, ihnen zu rufen: »Es ist draußen Abend!
Kommt, wir wollen uns in die Augen sehn!«
   Warum hab ich die Knaben nicht aus den Waisenhäu-
sern gerettet, zwei zu zwei an der Hand, alle im gleichen run-
den weißen Kragen, und bin mit ihnen auf den Hügeln
gekniet: »Dort oben sind die Sterne: Küßt euch!«
   Was bin ich nicht in die Kontore gekommen, wo Knir-
schen des Telephons, Zorn zugeschlagener Türen mich emp-
fing. Ich hätte die Tippfräuleins auf die Straße geführt und
geschrien: »In den Potsdamer Platz mündet die Milchstraße!
Oh, steigt mit mir in diesen Omnibus: Wir fahren zum
Himmel.«
   Ich war der Starke nicht, den ihr brauchtet. Ich flüchtete
trotzig in die Einsamkeit Gottes. Ich spielte mit roten Vö-
geln. Behängte mich mit redenden Steinen. Ich bin's nicht
wert, heute euren zerklüfteten Leichnam zu küssen.
   Ich bin's nicht wert, heute noch von Liebe zu singen. Ihr
hasset mich, weil ich nicht mit euch hasse. Ihr wehrt mich ab
wie den steigenden Schatten der Sühne. Ihr Sterbenden, ihr
laßt mich nicht in eure Schuld einziehn!


Der Streik

Schwält noch gelber Schnaps in euren Mündern, giert noch
Dirnenblut in euren Augen: Hinter euch sind Schmerz und
Qual und Not!
   Hinter euch zerschlagen liegt das Haus der Nächte.
Höllen des Asphalts sind eingestürzt. Alle Winter glitschrig
aufgetaut.
   Eure Fuselgassen sind gesäubert. Die mystischen Fabriken
frieren nackt. Der Schlote steinerne Arme schleifen schlapp.
   Vergangene Frühlinge auf Balmdammhügeln! Hungernde
ihr vor vollen Bäckerein! O ihr armen Schläfer der Sonntag_
morgen!
   Auf, die Sonne häuft euch brennende Scheiterhaufen! Das
Pflaster singt euch unter den tanzenden Stiefeln! O ihr alle!
   Heiße Jünglinge reden selbstverständlich in die Menge.
Männer tragen den Sonnenturban ums kurze Haar. O die
Zeit ist neu! Der Mensch ist groß!
   Der Tyrann hängt an den roten Schloten. Makler müs-
sen die schweren Klumpen Goldes schwitzend schleifen.
Und ihr Proletarier seid voran.
   Morgenfrühe strahlt euch grünend um die Schläfen.
Arbeit glüht nach euren starken Muskeln. Und der Mensch-
heit Liebe ist bereit.


Die Prozession

O da brannte die Stadt ihre goldenen Opfer an. Die Straßen
waren mit Gold gepflastert. Unter den Dächern gingen
Petroleumsterne auf.
   Langsam wandelten die Männer in den Abend, des Stroh-
huts Heiligenschein rund um den schweren Nacken geflochten.
   Sie kamen alle zurück aus der Erde. Fabrik und Werk-
statt waren zu Asche zerfallen. Der Abend schwankte wie ein
blauer Baldachin.
   Kinderengel spielten vor den Spezereihandlungen mit Bon-
bons und Himmelskugeln. Junge Mütter gingen schwer, als
trügen sie den Mond unter der Schürze.
   Sie zogen, sie zogen alle herein. Leuchtende Prozession
des Feierabends: Durch die Schenken flatterten die Kellne-
rinnen hell. Absinth schwenkte grüne Laternen.
   Kinos rasten mit lärmenden Fackeln über die Boule-
vards. Stampfende Pianolas erlösten die steinerne Welt.
   Rostige Glocken, aus schüchternen Türmen, zerklirrten
an den Mauern Gottes. Des Menschen Stimme aber war lau-
ter und reiner.
   Der Mensch erhob sich zur Befreiung der Erde. In Ver-
einslokalen wurden die Weltbrüder begrüßt. Rote Meetings
schlössen sich um die grellen Plätze.
   Ladenmädchen öffneten die elfenbeinernen Altäre ihrer
Brust. Heiße Bestimmung trieb den Volksschullehrer voran.
   Krämer verteilten ihre Orangen umsonst.
   Mit Krawall stürzten die Scheiterhaufen der fremden
Hotels. Dienstmänner rissen die grüne Sklavenmütze von
der Schläfe.
   Mittlerweile erstanden die starren Barrikaden. Flatternde
Frauen hielten die roten Laternen darüber und sangen. An
diesem Abend stieg die Menschheit in heiliger Prozession.
   Sie kam zum Gipfel ihres Stadtgebirgs. Kometen fielen
aus allen Horizonten herab. Kometen gingen rund und rot
zwischen Menschenarmen und Erdeschloten auf.
   Die Revolte begann.
   Aber am nächsten Tag: da blühte der große Frühling über
der Erde. Die Akazienalleen öffneten sich der unendlichen
Prozession.
   Sonne, Sonne war überall. Man trug sie in einer Blume
einfach am Knopfloch. Aus jedem Fenster, winterblind, blüh-
te sie mit roten Zacken.
   Unendlicher Garten der Menschlichkeit! Menschen wan-
delnde Bäume! Gesang prasselte wie roter Wind über dem
Asphalt.
   Heilige schritten voran: Jünglinge den Adamsapfel aus
schmutzigem Kragen stehend. Frauen mit den schreienden
Menschen hart an der prallen Brust.
   Frühling! Frühling! Arme streckten sich nackt wie bren-
nende Fackeln. Alle tanzten in ihren Arbeitskleidern.
   Goldene und blaue Trams flügelten ins Land der Frei-
heit. Lifts stiegen hell zum Himmel wie Jakobsleitern: und
alle Menschen waren auf und ab wie Engel.
   O großer Frühling der wiedererstandenen Menschheit.


Das Goldene Vlies

Als der Mensch zurückkam, trug er das goldene Vlies. Er
trug ums Haupt die Friedenskrone blauer Schwalben. Heller
   Mittag war's: um seine Schultern drängten sich die Sterne.
Der zerbrochene Mond war in seine Stirn geätzt. Kome-
ten neigten sich und sprangen wie Blumen um seinen Erden-
wandel.
   In seinem Blick wohnte die Güte. Aus seinen Wunden
träufelte die Erkenntnis. Aus wehen Händen schüttelte er
unendliche Verzeihung.
   Da wurde vor ihm die blasse Blumenverkäuferin zur
Madonna. Der heisere Schrei des Maklers duckte sich zum
Gebet. Der graue Schaffner wandelte als ein Herrgott durch
seinen Omnibus.
   Am Tage, als das goldene Vlies über der Erde wogte, ver-
stummte die Klage der tiefen Menschen. Das Lied der klei-
nen Plätterin wurde freudiger. Die Bitte des Bettlers klang
ganz erlöst.
   Die Blinden glaubten, sein Schimmern im Abendgold zu
sehn. Die Sterbenden hofften, er sei das Tor in die Ewigkeit.
   Smaragden rieselten die Kiesel hinter seinem Fuß. Beten-
de Frauen im blauen Gewand waren die Schatten seiner Glo-
rie. Er trug ums Haupt eine Krone von blauen Schwalben.
   Als der Mensch zurückkam mit dem goldenen Vlies, war
Friede auf Erden.


DIE ALPENPASSION

 

I Flucht

Florian:
Wie Fremde wandern wir auf Erden. Jeder in seinem eige-
nen Käfig gefangen. Verschlammte, moosige Steine sind wir
am Grund der Erde: die wallenden Wasser des Himmels
berühren uns nicht.

Stella:
Ach, es ist keine Liebe mehr von Menschen zu Menschen.
Es ist kein Schüttern von Einsamen zu Einsamen! Wir sind
wandelnde Grotten, Granit, die keine Welle durchzittert.

Florian:
O wir zu Pyramiden gehäuften Cafes, zu Meeren ange-
schwollenen Meetings, zu Gebirgen gesteigerten Konzert-
säle: Wir lügen, wir lügen! Jeder von uns ist einsam, einsam!

Stella:
Einmal, da näherten wir uns: und siehe, Haß glutete aus
unsern Augen. Krieg spreizte die gierigen Finger. Doch wir
glaubten, unserm Schicksal zu entfliehn, wenn Blut aus
unsern Körpern floh!

Florian:
Wir wühlten uns in die Erde, unsere Schlechtigkeit zu ver-
bergen: da wuchsen die monumentalen Gräber über uns!
Wir rissen die Städte auf und wühlten uns in die Lust: da
schrieen die Lachenden so bös wie im Tollhaus!

Stella:
Und jeder Nachbar, den wir töteten, war ein Stab mehr an
unserm Käfig! Jeder Bruder, den wir mordeten, war ein
Schrei mehr in unserer Einsamkeit.

Florian:
O wäre eine Flucht! O könnt' ich mich in die Wolke Gottes
hüllen! Den Himmel aufreißen und ihm zuschluchzen: Das
ist meine Qual: Ich bin ein schlechter Mensch!

Stella:
Ich bin ein schlechter Mensch! Alle Leiden der Erde sind in
mir. Alle meine Schwestern bäumen sich in meinen Leiden-
schaften empor! Alle Mütter in mir beweinen einen Sohn!

Florian:
Wir müssen uns selber fliehn: da werden wir uns wiederfin-
den. Wenn wir die Grate des Todes erst erklommen, dann
wird das sausende Leben wieder um uns sein.

Stella:
Wir wollen vor jeder gemeinen Butterblume knien: Dann
wird die große Sonnenblume lauter um uns donnern! Wir
wollen in uns selbst einkehren: dann wird die ganze Mensch-
heit erlöst in uns Einzug halten!


II Schlucht

Florian:
O Mensch, bist du mein Schicksal oder mein Gespenst?
   Noch hockst du grau an allen meinen Wegen. Stöhnst aus
Spitälern und spukst aus Spelunken.
   Dein Klagen ist im Wind. Deine Kasernen sind bis ins Ge-
birg gestaut. Dein Schatten klebt an allen meinen Schritten.
   Du schreist aus meiner Seele! Du klagst mich an, o
Wegelagerer, mein Bruder, mein Schatten!
   Und ach, ich leugne nichts: ich komm' aus deinen Städten,
deinen Kriegen. Ich hab es tief erlebt: ich bin von deinen
Mördern!
   Wirf Wahnsinn über mich! Kreuzige mich mit deiner
Mitleidsgeste! Spieß auf mein Herz mit deinen Schreien!
Die Menschheit tief in mir ist schuldig! Und ich bin
schuldig in der Menschheit! Ich hab' den Mord gesehn und
ihn geklagt!
   Ich hab' soviel gesehn: die grünen Leichen stürzend in
die Äcker. Um schwarze Munde Speichel rot erfroren. Die
Liebesleiber schwärend voller Ratten. Die Himmelsaugen
aufgeschäumt zu Schwefel. Und abgeriss'ne Arme, die im
Tod noch um Verzeihung flehten.
   Von Feuersternen überblühte Wüsten. Von Bomben-
domen überplatzte Nächte. Und bunt besungene Begräb-
nisse.
   Noch mehr: Zuchthäuser vollgeschwemmt. Kinder zu
Hungertod geschändet. Vögel und Gärten ihres Lieds be-
raubt.
   O Schlucht, o Mensch in mir, Erinnerung, Anklage,
Reue und Gerechtigkeit: ich weiß nichts mehr, als daß ich
Mensch und schlecht bin.
   Doch, Bruderschatten, sag: ist Sühne nicht genug gebaut
zu Massengräbern? Weht Trauer nicht genug um deine alten
Fahnen?
   Nun laß mich frei! Laß einen noch, der an Erlösung
glaubt! Der hell zu Mittemacht den Engel flattern hört; und
der zu Morgenaufgang Lächeln um der Sonne Lippen sieht.
   Nun laßt mich fliehn, Schlucht, Schatten, Schmerz! Es
gibt noch Wälder über euch, die singend schweben! Es gibt
noch Gipfel, die mit Purpur uns umglühn! Es gibt noch
Söhne, die uns glücklich brauchen!


III Bergwald

Stella:
O Wald, du bärtiger, lächelnder Gott,
Du nimmst mich auf mit deinen großen Armen, als war' ich
   eine Nymphe und keine Menschentochter,
Als sprang' ich blond aus blauem Brunnen, und klebte nicht
   roter Staub an meinen Schuhn!
Deine wilden Tiere grasen aus meiner Hand, als schnüffelten
   sie nicht das Blut an mir:
O Wald, du leuchtender, tausendäugiger Freund,
Du nimmst mich auf!
In dein Zweigengewölk blitzen die Sonnenpfeile,
Erdbeer und Waldmeister tanzen
Um deine schwarze Erdebrust:
O du väterlicher Freund und Gatte,
Wald mit dem offenen Herzen im zottigen Blätterfell,
Du nimmst mich auf!

So sollen alle Frauen an dir Liebe und Mitleid und Demut
   lernen!
Daß sie wie junge Quellen über zermürbte Leiber sich
   ergießen,
Wie Palmen mit offenen Händen Sonne auf die Schlum-
   mernden träufeln.
O du friedensstarker, mächtiger Gott,
Gib mir soviel Arme, als Elende in den Ritzen der Erde sind,
Sie aufzuheben,
Gib mir soviel Munde, als Schreie und Qualen und Ver-
brechen sind,
Sie zu trösten,
Gib mir so ein tausendfältig Herz,
Als schluchzende Mütter in dunklen Alkoven hocken,
Als frierende Waisen an leeren Bäckereien vorüberhungern,
Als tolle Verwundete ihr Fleisch mit glühenden Nägeln hetzen,
Als Erblindete mit stochernden Stäben an stumme Wände
   pochen,
Gib mir so ein tausendfältig Herz,
Als du grüne Spiegel hast, zu zittern und zu schimmern,
Über die Menschheit mich zu beugen,
Über sie hinzurauschen
Wie du, ein Wald von Liebe.


IV Gipfelan

Florian:
Erde, du verquälte, schlaflose Magd,
Was wissen wir Menschen von deinem Schmerz!
Bist unsre Mutter doch, und wir schlagen dich
Wie die erwachsenen Jungen die buckligen Alten schlagen,
Verachten dich, wie die Bürger ihre verlassenen Dirnen ver-
   achten.
Wir kratzen uns in deine rindigen Höcker,
In deine verwitterten, knöchernen Felsen,
Wo du den krummen Adler beherbergst,
Doch über dich hinaus, du Tränenarme,
Steigen wir, den Himmel zu erobern!

Du bleibst unten, härene, nächtige Mutter,
In deinen Kriegstälern und steinernen Gräbern gefangen,
Wie in besudeltem Wochenbett:
Uns aber dürstet nach dem Wein der Wahrheit!
Aus deinen unergründeten Tiefen prallt unser Schrei
Und gellt die Qual unsrer vermummten Geschlechter!

Mit unsrem Geist, dem Menschengeist,
Der in den Feuern der Welt verbrennt,
Mit unsrem Geist, der über Nacht und Schmerz
Sich täglich aufwärts ringt zu dem Ewigen,
Wollen wir steigen, daß unsre runde Stirn
Als drittes Gestirn über dir leuchte, Mutter!
Wir wollen dir deinen Stolz wiedergeben,
Dein Lächeln und deine ewige Liebe:
Denn es ist wahr, o schüchterne Magd, o Erde,
Ein Gott ist dein Gatte, und heilig sind deine Söhne!


V Panorama

Florian:
So ist es wahr! Die tausend Gipfel um mein Haupt sind
Zinken meiner schwebenden Krone! Es schimmert die Erde
um mich wie eine marmorne Kathedrale!
   So ist es wahr! In meinen mürben Menschenhänden zit-
tert der Schöpfung Allerheiligstes. Kristallene Türme hängen
vom Himmel hernieder. Und Weihrauchsäulen wirbeln aus
tiefgeknietem Tal.
   So ist es wahr! Ich lasse die Erde und die Sonne um mich
kreisen. Mein Geist führt zu Erkenntnis und Versöhnung.
Ich bin ein Mensch: der Mittelpunkt der Welt!

Stella:
Ja, es ist wahr! Die Welt ist deine Kathedrale. Du bist der
Bischof ihrer Prozession. Du bist der Erste der Erkennenden.
   Aber vergißt du, daß du Erde bist? Aus schwerem Stein
gebaut ist dieser Dom. Aus Opfern ein gestützter Scheiter-
haufen. Ein aus Jahrhunderten gesteilter Sonnenberg.
   Und alles Elend ist in deiner Prozession! Die an der Diele
Knieenden. Die mit den Säulen Emporgeschrieenen. Die
Humpelnden und die Verstümmelten. Die Zaudernden und
die Zornigen. Die Gedemütigten und die Verschüchterten.
   Sie alle: Die blutgebäumten Mütter. Die grinsenden Selbst-
mörder. Die Glühenden zu Mitternacht. Die Fröstelnden zu
Mittag. Und die den Kelch ihres Herzens unter dem abge-
schabten Mantel verbergen. Und die weißen Kerzen der Kin-
dermelodien. Die von Leidenschaft verwaschenen Mienen.
Und die von schandhaftem Lachen ausgehöhlten Schlüfte.

Florian:
Die Menschheit zog mit mir wie eine dunkle Wolke. Doch
wenn des Tags Erkenntnisgeist erstrahlt, taumelt die Nacht
zurück zur äschernen Unterwelt.
   Dann gibt es auch kein Elend mehr, ihr Schuldigen. Dann
gibt es keine Schuld mehr, ihr Elenden. Wie unbewußte
Quellen werdet ihr aus euren Qualen springen. Mit Gesten
tiefen Wissens den erlösenden Strahl um euren Scheitel
schlingen.
   Hier ist der brennende Turm des Sonnenaufgangs. Hier
ist die offene, schallende Halle Gottes. Hier ist in meiner
Brust die Menschheit befreit!

Stella:
Aus Leid und nicht aus Glück erbaut ist dieser Dom. Aus
Schlucht und Schluchzen schöpft die Orgel ihre Fugen. Aus
tiefer Demut kommen die goldenen Glocken.
   Versteig dich nicht in deine Einsamkeit! Du wirst an zuviel
Sonne blind, an zuviel Himmel wirst du irr! O Mensch, bleib
deiner Menschheit treu!
   Du hörst von Gipfel zu Gipfel säuseln die silberne Stim-
me der täglichen Ewigkeit. Doch ist es nicht dieselbe Stim-
me, wenn ein Mensch zum andern hinüberschreit?


VI Gletscher

Florian:
Gletscher, du Einsamer, Einziger gegen den Sturm! Du nie
Berauschter, nie Aufgetaner! Nie geschrieener Schrei! Im
Sturz Erstarrter, Herber und Harter!
   Männlicher Schmerz: Stumm in deinen Stolz gebeugt,
steil in deinen Himmel gestemmt! Dunkles Genie, geizig
über dein Leid gekrümmt wie die Buckligen. O nie schwin-
gender Egoist; männlicher, heiliger Weltenschmerz!

Stella:
Gletscher, ewige Mutter der Welt, deren Schoß das Blut der
Liebe entquillt!
   Überschwang, Überfluß, Überflut! Nie genug der Hände
und Schreie und Küsse, zu lieben, zu lieben. Nicht genug der
Wimpern zu weinen, zu schluchzen. Nicht genug der Arme,
der klagenden, der flehenden, der umarmenden, nicht genug
der Arme, zu umschlingen!
   Nicht genug der Schreie zur Geburt und Revolte! Nicht
Täler genug dich auszuschrein und zu vergeuden! Nicht
Menschen genug zu trösten und zu laben!
   O du allgemeine, ewige Mutter!

Florian:
Gletscher, du steinerner Gott, dem täglichen Kampf Entho-
bener! Hier ist der Rand des Himmels, und der Turm der
Erde stürzte zu Staub.
   Säulen, hymnische, tragen die Arkaden deiner Gewalt.
Wie in spielender Träumerei fügt sich des Schicksals geome-
trisches Gesetz.
   Einziger du, in Einsamkeit verbittert, in Ewigkeit verknö-
chert. Einziger, an dem die Größe des Alls sich mißt!

Stella:
Gletscher, aus dir erstieg das Volk und die Gemeinschaft!
Aus dir kommen verbündet und vereint die Niederen und
die Starken, die Nackten und die Schämigen, die Inbrünsti-
gen und die Ungläubigen.
   Deiner geöffneten Brust entstürzen die tausend Söhne
des Tals, springen die Knabenbäche, rauschen die Arbeits-
ströme, steigen und steigen die Ozeane!
   Dein ist der Ruf, wenn sie mit irren Zungen in Schlucht
und Schlachtfeld den Frühling der neuen Welt verkünden!

Florian:
Gletscher, Märtyrer der Erde, steiler Block vor des Himmels
Geheimnis: bleib', o bleib' der Gefangene deiner Größe!
Nicht erschwachen darfst du und schmelzen, nicht dich
lösen zum Tal der Qual, wo Hunde winseln, wo Menschen
auf Krücken hüpfen über die Brücken.
   Wo Schlachthaus mit rotem Auswurf dich bespeit, Fabrik
mit eklem Atem dich beschmutzt; staubige Häfen und salzi-
ge Meere einander bekämpfen, einander vernichten.
   Gletscher, du Starker, hüte dich vor dem Volk und der
Freiheit! Bleibe der Knecht! Bleibe der König! Bleibe der
Große, der Stumme, der Einzige!

Stella:
Gletscher, steh auf, da die Tuba des Aufruhrs erschallt! O
Völkerwanderung, o Auszug aus Verbannung und Verken-
nung! O Erlösung aus der tiefen Schmach!
   O allgemeine Gleichheit, o befreiter Gletscher der
Menschheit! Staubtropfen im Wind, fremder Passant auf
dem Boulevard! Ihr alle und jeder!
   Jeder von euch erhebt sich, schreit, erstrahlt! Bankier und
Prolet verwechseln Spazierstock und Krücke. Bettler und
Kaufmann küssen sich als Brüder!
   Die Ketten klirren in den Kerkern. Die Köpfe lodern über
der Erde wie Sterne. Alle Gletscher reißt es hin zu Tal. Alle
Völker schmelzen zusammen in Liebe.


VII Grat

Florian:
Umsonst, umsonst! Ich hab' mich an der Glasur des Himmels
blutig gekratzt. Ich hab' mir die Flügel an den Säulen des
Himmels lahmgeschlagen. Umsonst hab' ich mich aufgerissen.
   Der Nagel der Sonne kreuzigt mich an die Erde. Die Ge-
wölbe des Himmels zerplatzen über meinem schläfrigen Auge.
Die Gletscher haben schwarzen Speichel um die Lippen.
   Taub bin ich in der Symphonie der Welt. Denn mein Ohr
ist wie die Muschel des fernsten Meers. Die schwarzen Hori-
zonte der Erde tönen wie nächtliche Gongs. Und die Rufe
der Menschen überdröhnen die Kantate der Berge.
   O es schreit in mir der Abgrund und der Tod. Es schreit
der Zweifel und der Streit. Es schreit Zerknirschung und das
Kruzifix. Es schreit in mir die Erde.
   Es schreit und zerrt mich bleischwer nieder. O Mutter
Erde, du hast mich mehr geliebt, als ich wußte. O Mensch-
heit, du bist größer, als ich wähnte! Alle Erkenntnis ist Lüge,
die nicht der Liebe entflammt!
   Jeder von euch, ein Betder oder ein Siecher; er hat mehr
Himmel in seinem Auge als über den Mont Blanc gewölbt ist!
Jede von euch, eine Schwester oder eine Braut: sie hat mehr
Tränen in ihrem Herzen als der sommerliche Gletscher!
   Weil ihr dort unten seid, seid ihr Erhabene! Ihr werdet
nichts von der Leere und Kälte des Himmels ahnen und von
der Dunkelheit Gottes: aber ihr werdet an die ewige pur-
purne Hamme der Liebe glauben!
   Weil ihr Schlechte seid, seid ihr gebenedeit! Euch werden
die Guten ihre Liebe schenken, die Hellen ihre Schönheit
und die Frommen ihren Gott.
   Lieben, lieben will ich wieder lernen! Güte, Güte will ich
wieder üben! Über sich selber sich erheben ist schwerer als
über Berge schweben!


VIII Nachthütte

Florian.
Auf der Welt ist graue Sintflut. Wolken rollen durch den
Himmel. Platinmond zerschmolz im Gletschertiegel. Nacht
hat alles überschwemmt.


Stella:
Aber wir sind in der Arche schwankend, schwankend hinge-
tragen. Ganz mit Wind die Wände ausgeschlagen. Schallende
Musik die Fenster. Schütterer Schnee ein tiefer Teppich.

Florian:
Hör', die Stürme Gottes rauschen. Wölfe schleichen durch
die Himmelsschluchten. Und Giganten schlagen ihre
Keulen!

Stella:
Nein, es sind Lawinen, die zu Tränenstürzen schmelzen. Don-
ner wirbt wie eine Vaterstimme. Und die Engel sind uns nah.

Florian:
Das Gewitter rauscht wie Heimatglocken. Von den Gle-
tschern stürzen Schiffe, die uns Hochzeitsgäste bringen.
Deine Stimme ist ein roter Wein.

Stella:
Alle Sterne sind erloschen. Einzig unsre Liebesarche schau-
kelt auf dem Meer der Nacht. Eine rosa Ampel, wacht sie
über der Menschheit.

Florian:
O ich fühl' uns niederrauschen. Aus der Nacht schält sich
das helle Tal. Wollen wir die weiße Taube senden?

Stella:
Unsre Liebe schlingt sich um die ganze Erde. Tausend Vögel
schwirren uns entgegen. Tausend Menschen schauen zu uns
auf. O, wir wollen alle, alle lieben!


IX Wassersturz

Florian:

Wasser und Mensch,
Ihr seid die ewige Bewegung!
Ihr seid der Trieb von allen Trieben: ihr seid der Geist!
Da steht kein Felsen starr und keine Gottheit hoch:
Vor eurem Strahl zersplittern die Blöcke Granit,
Vor eurer Stimme birst das Schweigen des Todes.

O Wasserfall, du Perlentänzer,
Aus deinem steilen, einzigen Wasserstamm
Blühst du Millionen Wasserzweige an die Erde!
Der giftigen Nessel am Straßengraben gibst du dich hin,
Du treibst den grünen Springbrunnen der Palmen empor;
Vergißmeinnicht fröstelt in deinem Tau,
Und der fette Ölbaum saugt dich mit kupfernen Pumpen auf.
Du bist der unendliche Geliebte der Erde!

So will ich, dein unsterblicher Geliebter,
Über die Menschheit strömen und überströmen:
Hinunter, hinunter aus der Einsamkeit
Schäumend von Liebe niederschmelzen,
(An den Gipfeln ermaß ich die Tiefe der Täler)
Zurück zur Menschheit will ich mich ergießen,
Zu den dunklen Schluchten der Besiegten und Geknechteten,
Zu den grauen Wüsten der Streber und Unfruchtbaren,
Zu den endlosen Ebenen der Armen und der Tölpel,
Zu den rauchigen Häfen der Vertriebenen und Gezwungenen -
Hinab, hinab, dem ewigen Trieb muß ich gehorchen,
Wer sich verschenkt, bereichert sich am meisten.
Ich will mit sprudelndem Mund und lachenden Augen
Die große Liebe dieser Nacht vergeuden,
Mich geben und geben, da ich weiß:
Unversiegbar sind die Gletscher der Erde,
Unversiegbar sind die Quellen des Herzens!


DER PANAMAKANAL
(Zweite Fassung)

     I

Noch lagen die Jahrhunderte des Urwalds mitten zwischen
den Meeren. Mit goldenen Zacken ausgeschnitten die Golfe
und Buchten. Mit zähem Hammer zerschlug der Wasserfall
die gestemmten Felsen.
   Die Bäume schwollen in den sinnlichen Mittag hinein.
Sie hatten die roten Blumenflecken der Lust. Schierling
schäumte und zischte auf hohem Stengel. Und die schlanken
Lianen tanzten mit weitoffenem Haar.
   Wie grüne und blaue Laternen huschten die Papageien
durch die Nacht des Gebüschs. Tief im fetten Gestrüpp
rodete das Nashorn. Tiger kam ihm bruderhaft entgegen
vom Flußlauf.
   Feurig kreiste die Sonne am goldenen Himmel wie ein
Karussell. Tausendfältig und ewig war das Leben. Und wo
Tod zu faulen schien: neues Leben sproßte mit doppeltem
Leuchten.
   Noch lag das alte Jahrhundert zwischen den Menschen
der Erde.

     II

Da kamen die langen, langsamen Arbeitertrupps. Die Aus-
wanderer und die Verbannten. Sie kamen mit Kampf und
mit der Not.
   Mit keuchenden Qualen kamen die Menschen und
schlugen die dröhnenden Glocken des Metalls.
   Sie hoben die Arme wie zum Huch und rissen den Him-
mel zürnend um ihre nackten Schultern.
   Ihr Blut schwitzte in die Scholle. Wieviel magere Kinder, wie-
viel Nächte, angstvolle, wurden an solchem Tag vergeudet!
   Die Fäuste wie Fackeln aufgereckt. Zerschrieene Häupter.
Aufgestemmte Rümpfe. Es war Arbeit. Es war Elend. Es war
Haß.
   So wanden sich die Spanier einst am Marterpfahl. So
krümmten sich die Neger einst in verschnürtem Kniefall.
   Das aber waren die modernen Arbeitertrupps. Das waren
die heiligen, leidenden Proletarier.
   Sie hausten in Baracken und in Lattenhütten stumpf. Ge-
ruch des Bratfischs und der Ekel des Branntweins schwälten.
Die hölzernen Betten stießen sich an wie Särge im Friedhof.
   Am Sonntag sehnte sich eine Ziehharmonika nach Italien
oder nach Kapland. Irgendein krankes Herz schluchzte sich
aus für die tausend andern.
   Sie tanzten zusammen mit schwerem, schüchternem Fuß.
Sie wollten die Erde streicheln, die morgen aufschreien
mußte unter der Axt. Dann schlürften sie für fünf
Cents Himbeereis.
   Und wieder kam das Taghundert der Arbeit.

     III

In ein Siechbett verwandelten sie die Erde. Die roten Fieber
schwollen aus den Schlüften. Und die Wolken der Moskitos
wirbelten um die Sonne.
   Kein Baum mehr rauschte. Kein Blumenstern blühte
mehr in dieser Lehmhölle. Kein Vogel schwang sich in den
verlorenen Himmel.
   Alles war Schmerz. Alles war Schutt und Schwefel. Alles
war Schrei und Schimpf.
   Die Hügel rissen sich die Brust auf im Dynamitkrampf.
Aus den triefenden Schluchten heulten die Wölfe der
Sirenen. Bagger und Kranen kratzten die Seen auf.
   Die Menschen starben in diesem unendlichen Friedhof.
Sie starben überall an der gleichen Qual.
Den Männern entfuhr der tolle Ruf nach Gott, und sie
bäumten sich wie goldene Säulen auf. Den Weibern ent-
stürzten erbärmliche, bleiche Kinder, als ob sie die Erde stra-
fen wollten mit soviel Elend.
   Von der ganzen Erde waren sie zum knechtischen Dienst
gekommen. Alle die Träumer von goldenen Flüssen. Alle
Verzweifler am Hungerleben.
   Die Aufrechten und die Wahrhaftigen waren da, die
noch an ein Mitleid des Schicksals glaubten. Und die dunk-
len Tölpel und die Verbrecher, die tief ins Unglück ihre
Schmach verwühlten.
   Die Arbeit aber war nur Ausrede. Jener hatte zwanzig
verbitterte Generationen in seinem Herzen zu rächen. Dieser
hatte die Syphilismutter in seinem Blut zu erdrosseln.
Sie alle schrien im Kampf mit der Erde.

     IV

Sie wußten aber nichts vom Panamakanal. Nichts von der
unendlichen Verbrüderung. Nichts von dem großen Tor der
Liebe.
   Sie wußten nichts von der Befreiung der Ozeane und der
Menschheit. Nichts vom strahlenden Aufruhr des Geistes.
   Jeder einzelne sah einen Sumpf austrocknen. Einen Wald
hinbrennen. Einen See plötzlich aufkochen. Ein Gebirge zu
Staub hinknien.
   Aber wie sollte er an die Größe der Menschentat glau-
ben! Er merkte nicht, wie die Wiege eines neuen Meers ent-
stand.
   Eines Tages aber öffneten sich die Schleusen wie Flügel
eines Engels. Da stöhnte die Erde nicht mehr.
   Sie lag mit offener Brust wie sonst die Mütter. Sie lag
gefesselt in den Willen des Menschen.
   Auf der Wellentreppe des Ozeans stiegen die weißen
Schiffe herab. Die tausend Bruderschiffe aus den tausend
Häfen.
   Die mit singenden Segeln. Die mit rauchendem Schlot. Es
zirpten die Wimpel wie gefangene Vögel.
   Ein neuer Urwald von Masten rauschte. Von Seilen und
Tauen schlang sich ein Netz Lianen.
   Im heiligen Kusse aber standen der Stille Ozean und der
Atlantische Aufruhr. O Hochzeit des blonden Ostens und
des westlichen Abendsterns. Friede, Friede war zwischen
den Geschwistern.
   Da stand die Menschheit staunend am Mittelpunkt der
Erde. Von den brodelnden Städten, von den verschütteten
Wüsten, von den glühenden Gletschern stieg der Salut.
   Das Weltgeschwader rollte sich auf. Es spielten die blauen
Matrosenkapellen. Von allen Ländern wehten freudige
Fahnen.
   Vergessen war die dumpfe Arbeit. Die Schippe des Prole-
tariers verscharrt. Die Ziegelbaracken abgerissen.
Über den schwarzen Arbeitertrupps schlugen die Wellen
der Freiheit zusammen. Einen Tag lang waren auch sie
Menschheit.
   Aber am nächsten schon drohte neue Not. Die Handels-
schiffe mit schwerem Korn und Öl ließen ihre Armut am
Ufer stehn.
   Am nächsten Tag war wieder Elend und Haß. Neue
Chefs schrien zu neuer Arbeit an. Neue Sklaven verdam-
mten ihr tiefes Schicksal.
   Am andern Tag rang die Menschheit mit der alten Erde
wieder.


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