Gedichte 1900 bis 1910

Gedichte

1900 bis 1910

Alle Zeitangaben zu den Gedichten geben das Datum an, dem der Text zugeordnet werden konnte.
Bezug hierzu sind die Angaben aus der Sammlung der 1987 von Klaus Völker herausgegebenen Gedichte.


Inhalt

Sie füllen wohl noch einen zweiten Band

Abend. - Ich stehe am Fenster und schaue

Die Jugend . . .

Altes Eisen

Die zwölf sittsamen Gastwirte

Kumpanei

Mond über der Biele

Die Höschen

 

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lyrische Gehversuche 1900 - 1904

.Sie füllen wohl noch einen zweiten Band
die ungezognen Kinder meiner Muse!
Das Frauenzimmer ist doch arrogant.
Erst öffnet sie mir ihre Seidenbluse
und löst den Gürtel sich mit loser Hand,
nun reist sie ab und ruft: »Erziehe du se!
     Ich hab' das meinige getan, so schau,
     Ich bin eine emanzipierte Frau!«

So kommt denn her, stellt euch in Reih und Glied,
doch nicht so sehr nach Größe, als Charakter,
ein Trauerkantus nach dem Jubellied,
ein schöngeputzter Junge und ein nackter,
damit Abwechslung der Beschauer sieht. . .
»Aha! Erst ein konkreter, dann abstrakter . . .!«
     Und wollt ihr so noch nicht der Welt gefallen,
     so fehlt es an Geschmack - den Lesern allen!

Denn nur der Vater kennt die Seinen gut,
denn nur der »Dichter« hat das richtge Auge
für seine eigne junge »Musenbrut«.
- Verzeihet mir das böse Wort, ich tauge
zum vornehmen Erzähler absolut
nicht, daß der Leser sich voll Schönheit sauge.
     Ist einem dieses hier zu kurz gewesen,
     soll er nochmal das erste Vorwort lesen.


lyrische Gehversuche 1900 - 1904

.Abend. - Ich stehe am Fenster und schaue
sehnsüchtig hinaus auf den großen Hof,
in die Maienluft, in die linde, laue,
und denke an nichts - wie ein Philosoph . . .
Es ist wohl Zeit, sich ins Bette zu legen . . .
vom Nebenhaus her schreit ein kleines Kind . . .
hinter Vorhängen sieht man Menschen sich regen,
die gewiß schon alle im Hemde sind . . .
Vis-ä-vis, in die kleine Alkove
kann ich deutlich schaun von meiner Höhe . ..
ah! - da steht ja die dralle Zofe
mit dem Lichte und - sucht sich die Flöhe . . .
dabei glüht der kraftstrotzende Busen -
ganz wonneversunken wurzle ich da -
»Zum Teufel! - Finster . . . o neidische Musen!
denkt ihr denn, daß ich schon alles sah?!«
Auch im ersten Stock geht man zu Bette,
zwei Schatten verschmelzen . . . Was mag das bloß sein?
Ach! Wenn ich doch auch jemanden hätte!. . .
Ich fürchte mich nämlich, wahrhaftig!, allein. -


lyrische Gehversuche 1900 - 1904

Die Jugend. . .

Friedrichstraße. — Sonnenschein. —
Stolz spaziert ein Backfischlein. —

Sekundaner. — » Schönes Kind.« —
Folgt der hübschen Maid geschwind. —

»Gnädges Fräulein! Äh — Verzeihn —
Darf ich Ihr Begleiter sein? —«

»Flügelstunde. — Bitte sehr! —«
Froh geht neben ihr er her. —

»Wetter. — Eisbahn. — Sommerball. —
Zirkus. — Schauspiel. — Neuster Fall. —

»Jetzt am Ziele. — Danke schön. —«
»Adieu.« — Auseinandergehn. —

»Flügelstunde. - Falsche Töne —«
Sinnend seufzt die kleine Schöne.

»Plato pauken. - Kein Vergnügen -
Morgen wird der Lehrer rügen.«


lyrische Gehversuche 1900 - 1904

Altes Eisen

Ich hab mich berauscht am Weib und am Wein
und im lärmenden Großstadtgetriebe . . .
und doch: nach dem Taumel, da war ich allein
- und mir fehlte immer die Liebe,
die Liebe, die alles erklärt und verklärt,
ich habe nur hastig genossen,
ich habe Becher um Becher geleert. . .
und so ist mir die Jugend verflossen,
so ging mir die Jugend rasend vorbei . . .
Dann erwacht ich aus all den Düften,
den schwülbetäubenden ... da war der Mai
gewesen - und nun roch es nach Grüften.
Und nun bin ich ein Greis, an Seele und Leib,
und habe alles durchkostet,
Wein und Großstadtjubel und Weib . . .
und dabei ist das Geld verrostet.
Altes Eisen bin ich, verschimmelt und schlecht,
der Lumpenmann packt's auf den Karren,
der Tod, dem ist es eben recht
als Dung auf dem Feld zu verscharren.


vor 1910

Die zwölf sittsamen Gastwirte

Ihr alle kennt den Dichter Liliencron,
den Freiherrn von Poggfred, den reichen armen Baron.
Doch bevor er sein Luftschloß, sein ewiges, baute,
war er Hardesvogt auf Pellworm und verdaute
Akten auf dieser »vermaledeiten einsamen kleinen Insel«
in der windigsten Gegend der Nordsee.

Im Amtskreis des Hardesvogts Liliencron
hatten dreizehn Gastwirte abwechselnd Tanzkonzession.
Und er ließ die Leute tanzen, soviel sie wollten,
mit der Dollste, wenn sie nach Noten dollten;
weshalb er noch heute dort der Tanzbaron genannt wird,
wenn der Wind mal leise seinen Dichternamen hinträgt.


Da erhielt der Hardesvogt Liliencron
eines Morgens eine Denunziation:
Gastwirt Nielsen untergrabe die guten Sitten,
er habe wiederholt den »Turnus« überschritten.
Und verfaßt war das Skriptum nicht etwa vom Herrn Pfarrer,
sondern von den andern zwölf Gastwirten dieser
»vermaledeiten einsamen kleinen Insel«.

Der Flerr Hardesvogt, der Dichterbaron,
kannte seine lieben guten Sittenwächter schon.
Und nächsten Nachmittag mußten die zwölf Tugendreinen
beim Gastwirt Nielsen, ihrem Konkurrenten, amtlich
             »erscheinen« —
und der Hardesvogt sprach vor Vernehmung des
             Tatbestandes:
Nu laat uns mal fix ierst 'n lütt Runn' Grogk kriege!


Alsdann ließ leutselig der Herr Baron
den Ersten sich äußern, ohn' Ansehn der Person.
Er ließ ihn weitschweifig immer weiter schweifen,
er hörte wohl draußen die Möwen keifen,
bis der nichts mehr wußte - da sprach der Herr Hardesvogt:
denn laat uns man fix noch 'n lütt Runn' Grogk kriege!

Und dann ließ der leutselige Herr Baron
den Zweiten sich äußern im nämlichen Ton.
Er hörte wohl draußen über den Deichen
die Schneegänse schnatternd durchs Abendrot streichen -
bis er abermals sprach: Na denn, meine Herrn,
denn laat uns man noch so 'ne lütt Runn' Grogk kriege!

Und dann lauschte dem dritten und vierten Sermon
der Herr Hardesvogt, der Dichterbaron.
Er hörte derweil wohl draußen im Grauen
einen wilden Schwan sich Bahn durch den Nebel hauen —
bis Gastwirt Nielsen Licht machte und höflich meinte:
Schall't denn woll noch so 'ne lütt Runn' Grogk sien?

Und so hörte der Hardesvogt Liliencron
alle zwölf Konkurrenten, ohne Ansehn der Person.
Und als der zwölfte seinen Sermon geschlossen,
da war die siebente Runde Grogk genossen,
und das machte per Mann ein Mark und fünfundsiebzig
oder zusammen zweiundzwanzig Mark fünfundsiebzig.

Da erhob sich der deutsche Dichterbaron
und sprach im königlich preußischen Regierungston:
Der p. p. Nielsen hat sich fraglos als sittenlos erwiesen,
und somit tu ich hiermit demselben zu wissen:
er zahlt die Ordnungsstrafe im Betrage von drei Reichsmark -
Adjüs, meine Herrn!

Da erhielt der Hardesvogt Liliencron
nie wieder eine Denunziation.
Aber leider trat die hohe Regierung
mit seinem Tanzbein in zarte Berührung;
item ist er auf Poggfred, sein ewiges Luftschloß gezogen,
denn da tanzen wir alle nach seinem Fidelbogen.
                             Alle!


vor 1910

Kumpanei

Ein Herr Laus, ein Floh und eine Wanze
setzten sich an meinen Tisch.
Sprach der Floh: Brüderchen, tanze!
Hoppla! Frisch!
Sprach ich bald: ich kann nicht tanzen
so wie Sie, Herr Floh!
Sprach das Fräulein von den Wanzen:
Klettern Sie mal Stroh!
Sprach ich gleich: Wer kann Strohklettern
so wie Sie!
Sprach der Läuserich: Entblättern
Sie mal Schein, hihi!
Sprach ich: Ihre Kunst, wer könnte
die wohl ebenso!
Sprach ich. Und die drei Talönte
waren sterbensfroh.


Erschienen Anfang der 20er Jahre
wahrscheinlich früher in Neisse geschrieben

Mond über der Biele

Ich geh so gern spazieren
allein und manchmal nicht,
ich lieb's zu promenieren,
wenn nachts der Mond aufbricht.

Wie eine Apfelsine
hängt er im Wolkenraum,
steigt dort nicht Melusine
aus weißem Biele-Schaum?

Das kühle Wasser duftet
und zieht viel Mücken an,
ich fühl' mich waldumgruftet
und halt' den Atem an.

»Mein Fräulein, darf ich's wagen ?«
sprach' gern ich wohl mit Faust,
doch hör' ich schon sie sagen
»Ach nein, mein Herr, mir graust «

Sie steigt ins Wasser wieder
und macht dabei mich naß,
ich aber stärk' die Glieder
bei frischem Bier vom Faß.


Wahrscheinlich 1909/10

Die Höschen

In seinen Metamorphosen
vergaß uns völlig Ovid,
drum singe ich jüngste der Hosen
jetzt meiner Ahnenschaft Lied,
ich singe es voll gloriosen
Gedanken der Pietät,
ein Seufzer steigt durch die – losen
Falten, von Rührung gebläht.

Völlig von vorn zu beginnen,
schickt sich für mich wohl nicht ganz,
wollt' euch nur flüchtig entsinnen
der Mode vom Feigenblattkranz:
Eva sah jäh sich erbosen
den Engel mit feurigem Schwert,
da fiel ihr das Herz in die – Rosen-
ranken, von Kummer verzehrt.

Und traute sich lange nicht wieder
hervor ans Sonnenlicht.
Viel später erst riß hernieder
ein Taumel die Hüllen so dicht.
Es wurde vom Volk der Franzosen
umgewälzt unsre Sphäre sogar:
Sanskulotten zerrten die - losen
Schleier vom Venusaltar.

Auch hab ich die Bühne betreten
Als Tochter freieren Tons,
gefeiert von Wollustpoeten
im Reigen der Barrisons.
Wie lockt' ich in reizenden Posen
und verhieß verwegnen Genuß
und hatte im Zentrum der – losen
Geschichte doch plump einen Schluß.

Geschlossen wird immer mehr Mode,
weiß, bunt, bei jung und bei alt,
umpolstert nicht oft sogar Lode
den Trumpf einer schönen Gestalt.
Doch kann selbst im Grenzenlosen
ich nie völlig untergehn:
du wirst als weiß wolkige Hosen
der Engel am Himmel uns sehn.


 

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