Gedichte 1906

Gedichte

1906

Alle Zeitangaben zu den Gedichten geben das Datum an, dem der Text zugeordnet werden konnte.
Bezug hierzu sind die Angaben aus der Sammlung der 1987 von Klaus Völker herausgegebenen Gedichte.


Inhalt

 

Ein Luftschloß

An einen Gegner

Euch Jungfraun hasse ich!

S. C.

Ein Herbst

Meine Gasse  

 

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1906

 

Ein Luftschloß
(Meiner geliebten Kaete)

Unser Häuschen liegt oben am Hange,
ist ein entzückendes Nest für uns zwei,
ziehen Studenten schwärmend vorbei,
grüßen sie uns mit jauchzendem Sange.

Abends auf der Veranda trinken
wir versunken des Freundes Glück,
denken erinnernd ein Stückchen zurück,
ist uns, als ob in der Ferne sie winken.

Und um Weinlaub und Wasser und Weide
huscht unser Träumen die Iser entlang -
unser Häuschen liegt oben am Hang,
ist ein entzückendes Nest für uns beide.


1906

An einen Gegner

Es sind wie schlecht geschliffne schwere Beile
die groben Worte, die dein Mund ausspricht —
und meine Worte sind wie leichte Pfeile,
auf einmal fühlst du Schmerz, und sahst sie nicht . . .

Sie sind wie feine, bunte, spitze Pfeile,
die leichtbefiedert sausen durch die Luft —
wie eine Phalanx starrt die plumpe Zeile,
die deine Wut mir laut entgegenruft.

Was soll ein Kampf mit so ungleichen Waffen,
wie wenn ein Low mit einem Mädchen ringt,
das Mädchen windet sich im Lauf und singt,

und ihres Tanzes Wiegen macht zu schaffen
dem plumpen Riesen, der die Keule schwingt. —
So meine Rede, die dich lächelnd zwingt!


1906

.Euch Jungfraun hasse ich! Es ward vollbracht
durch eure übersatte, feige Tugend:
euch dank ich, daß vergiftet meine Jugend,
euch dank ich manche qualvoll ekle Nacht.

Denn ihr seid schuld, daß mich die Dirne küßte:
ihr wußtet, welches Feuer in mir lohte
und daß es bald mich zu verzehren drohte
und daß ich dann wohl unterliegen müßte.

In euch auch drängte es zu jenen Zeiten;
ihr aber ließt den schwärmend reinen Knaben
nicht seine keuschen Frühlingsküsse haben —
bis Dirnen seine Lippen frech entweihten.

Drum, Jungfraun, hass' ich euch, so heiß ich kann
Durch euch bin ich ein kranker, weher Faun.
Ihr werdet brave, deutsche Ehefraun -
betrogen von dem »feinen, reichen Mann«!


um 1906

S.C.

Ich stand an der Eisbahn, dem Hurenplateau,
wo die girrende, lockende Jagd ging,
und wo der Korpsstudent - »comme il faut«! -
mit dem Farbenköder die Magd fing.

Die Mägdlein fallen dort, glaub ich, leicht,
weil die Fläche ziemlich glatt ist -
das Herrchen tugendlich seitwärts schleicht,
nämlich — wenn es schon matt ist.

Die Mädels werfen sich ihm an den Hals,
der mit Stehkragen hoch geziert ist,
und bei ihm nennt mans »Liebelei« allenfalls,
wo man sonst über »Dirnen schockiert ist«.

Ich weiß ja, wenn einer ne Bockkappe hat
und einen schillernden Bandwurm,
dann hat er auch ein Belagsreservat
vor dem simplen Plebejer vom Landsturm.

Ich finde aber, es bleibt sich ganz gleich,
ob das Kind aus dem Kösener Ställchen,
oder vom Storch aus dem großen Teich,
und der Vater nur »Simpel mit Röllchen«!


1906

Ein Herbst
(Meiner verehrten Freundin C. K.)

Der Himmel überwölkt. Nur einzeln tiefe
lichtblaue Kissen, wie wenn im Gezelt
ein Mädchen hinter dichtem Vorhang schliefe,
der nur vom Wind gezaust bisweilen fällt.

Als ob nach Festestagen Fahnen blieben
an grauen Häusern leuchtend einzeln wehn.
»Die lieben Zeilen, die du mir geschrieben,
werden mir unverrückt im Sinne stehn!«

Es hängen an den Bäumen, schwer von Früchten,
die Ähren noch, gestreift vom Erntezug.
Verwelktes Laub fegt hin, wie Vögel flüchten,
die Frühlingssehnen nach dem Süden trug.


1906

Meine Gasse

Du kleine liebe Gasse,
du Mädchen, traurig und arm,
du Frau, verschüchterte, blasse,
du Greisin in weinendem Harm . . .

Du kleine liebe Gasse,
du wuchsest mir fest ans Herz,
ich fühle und umfasse
dein Leben und deinen Schmerz!

Ich fühle und umfasse
deines Kummers schlichten Choral
du kleine, liebe Gasse,
lächle mir doch einmal!


 

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