Gedichte 1910

Gedichte

1910

Alle Zeitangaben zu den Gedichten geben das Datum an, dem der Text zugeordnet werden konnte.
Bezug hierzu sind die Angaben aus der Sammlung der 1987 von Klaus Völker herausgegebenen Gedichte.


Inhalt

Wir zweie . . .

Blessur

Das Symbolum

Konfession

Des Pasters Laster

Besuch

Pubertät

Auf der Flucht rastend

Seufzendes Sonett des Gefangenen

Nocturna

Ein Fest

Der Empfindsame

Eine kleine, verwahrloste, räudige Katze . . .

Masturbation

Der goldene Kneifer

Vergänglichkeit

Barockes Chanson  

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Januar 1910

Wir zweie . . .

So ganz verschiedentlich betätgen
wir zweie uns bei schönen Mädchen,
in nächster Nähe liebt er gerne,
ich himmle stets aus fernster Ferne!

Ich reime auf sie tausend Verse,
in seinen Armen fest hält er se,
ich mache ihnen süße Lieder,
das Kind macht ihnen er hinwieder!

Ich feire Kläre stolz als Muse,
und an dem Hintern tätschelst du se,
um mich ist's leer, du thronst im Vollen.
Vertauschen mer doch mal de Rollen!

                                                 Wie?!


Januar 1910

Blessur

Wie war es einstmals schön,
wenn unter Lustgestöhn
den lieben langen Tag
ich bei Mathilden lag.

Ich war im Paradies:
Wir machten das und dies;
sie war so neunmalklug
und kriegte nie genug.

Bis daß der Satan kam
und mich beim — Worte nahm
Nun hock an stillem Ort
ich mit gebrochnem - Wort.


Januar 1910

Das Symbolum

O, selig sind die Dichter, ihnen
muß alles zum Symbole dienen!
Z. B. ranken sich empor
Gefühle mir am Suspensor:

Mitnichten mein ich, Gute, Beste,
das Gleichnis von dem Vogelneste,
vom Blumenkorb und der Monstranz,
vom Eierbecher schweig ich ganz!

Im Gegenteil, mir will es scheinen,
als ließe sich damit vereinen:
— O Lucie, stick den Spruch nicht dran
»Das Weibliche zieht uns hinan!«

                                          Nicht?


Januar 1910

Konfession
(Lied zur Harmonika für Herrn Dr. Knoefel)

Ich bin ein Schwein von Gottes Gnaden,
ein rechtes niederträchtges Schwein,
ins Beet der Bürgerpromenaden
wühl' ich mich mit dem Rüssel ein!

Hingegen wer von mir sich Nutzen
und fette Schinken froh verspricht,
der wird beim Schlachtfest traurig stutzen,
wenn er die Zähne sich zerbricht.

Ich bin ja nur noch Haut und Knochen,
auch Sprungsau kann ich nicht mehr sein,
denn meine Kraft ist längst gebrochen.
Ich bin ein niederträchtges Schwein!


Januar 1910

Des Pasters Laster

Ich stecke tief im Laster drin,
obschon ich deutscher Paster bin,
und schwierig wird mir die Moral
trotz Bibel, Predigt und Choral.

Denn leg' ich meine Bäffchen ab,
so macht auch schon mein Äffchen Trab
und springt gewandt mir auf den Schopf
und krabbelt mir am Hinterkopf.

Und kribbelt so! Da kriselt es
und wabbelt es und rieselt es
und rappelt es und läßt nicht Ruh.
O, du verfluchter Affe du!


Januar 1910

Besuch

Es schmeichelt die Prostituierte
»Masseuse« sich auf dem Schild;
ich war an dem Tage der Vierte
und schenkte ihr mein Bild.

Der erste war ein Däne,
ein Maler und ungekämmt,
der zweite war Rumäne
und riß ihr ein Loch ins Hemd.

Der Knirps, der mich gestern rasierte,
der war ihr drittes Wild;
ich war das letzte und vierte
und schenkte ihr mein Bild.


Januar 1910

Pubertät

Er war ganz Unschuld noch. Da haben
an einem Sonntagnachmittag
ihn eingeweiht zwei andre Knaben,
wie Vater bei der Mutter lag.

Da sparte er sich Geld zusammen
und kaufte einen teuren Band,
ins Antlitz schlugen ihm die Flammen,
als er die Hälfte nur verstand.

Bald war er in der Köchin Kammer,
die lachte über seine Scheu -
seit gestern hat er Katzenjammer,
und morgen übt er sich aufs neu . . .


19. 01. 1910

Auf der Flucht rastend

Sie spotten meiner, daß ich müde bin,
doch keiner, der da spottet, ging die Wege,
die schweren Wege zu dem Gipfel hin,
und jeder weiß, wohin sein Haupt er lege!

Sie schwelgen alle in beglückter Ruh,
die sich ihr warmes Haus in Frieden bauten,
ich aber wanderte den Höhen zu,
um die wie Winterfrost die Wolken grauten.

Und nun ich raste, der ich lang gesucht,
trifft mich ihr Spott aus sichren Dunkelheiten.
O gönnt mir doch die Rast auf wilder Flucht,
bald steige ich empor in ewige Weiten . . .


Januar 1910

Seufzendes Sonett des Gefangenen

Mein Leben ist in engem Raum gefangen,
bei Menschen, die aus Liebe taub und blind,
in ihrem Kerker war ich schon als Kind,
und noch kann nicht die Welt zu mir gelangen.

Noch weiß ich nicht, wie draußen Menschen sind,
und lausche hoffend in geheimem Bangen,
wenn Lieder, die sie mir vor Jahren sangen,
die Vögel wieder singen und der Wind!

Ihr Singen ist mir ein vertrautes Grüßen
aus ferner Welt, dahin mein Herz mich zieht,
und dies mein Träumen immer wieder spiegelt,
doch trag ich schwere Ketten an den Füßen,
und Nacht ist alles, was mein Auge sieht,
und meines Kerkers Tür bleibt fest verriegelt!


Januar 1910 erschienen 17. 12. 1911

Nocturna

Aus Ängsten bin ich aufgewacht:
ein Schatten geistert durch den Garten,
ein Zug rollt fernhin durch die Nacht —
mit schwerem Atem, arbeitsharten . . .

Der Mond fällt auf mein Himmelbett,
malt auf die Decke helle Kreise;
es ist, als klang ein Menuett
vom See herüber, zaghaft leise . ..

Mir wird so bang, mir wird so weh,
mir wird so seltsamlich und eigen . . .
das Menuett ertrank im See,
und wieder lastet tiefes Schweigen.


24. 01. 1910

Ein Fest

Ich kann nicht fröhlich mit den Frohen sein!
Sie singen ihre jugendlichen Lieder,
mich aber drückt mein greiser Kummer nieder,
ich kann nicht fröhlich mit den Frohen sein!

Es tändeln weiche Küsse hin und her,
auf Lippen duftet's wie von jungen Rosen,
so glühen sie in sommerheißem Kosen,
die weichen Küsse tändeln hin und her . . .

Ich kann nicht fröhlich mit den Frohen sein!
Ich sehne mich nach stillem Lampenscheinen,
mir ist so einsam weh, so weh zum Weinen,
ich kann nicht fröhlich mit den Frohen sein!


Ende Januar / Anfang Februar 1910

Der Empfindsame

Ich traure, wenn ich Mädchen lächeln sehe,
die noch nichts ahnen von den schweren Tagen,
da sie die größte Last des Leides tragen
und dulden müssen das verhängte »Wehe«!

Da sie die Lust der kurzen Liebesstunden
in Lagen tiefster Pein so grausam büßen,
daß alles Schöne schwindet diesen Süßen,
und ihres Leibes Wunder trieft von Wunden.

Und welken sie und haben still im Herzen
Vergangne Zeiten, da sie lächelnd blühten,
duftende Kerzen, die so rasch verglühten . . .
Ich traure, wenn die Mädchen selig scherzen.


06. 02. 1910

Eine kleine, verwahrloste, räudige Katze . . .

Eine kleine, verwahrloste, räudige Katze
ist nun mein einziger Freund und Gespiel.
Beschau ich im Spiegel meine Fratze,
so weiß ich, warum ich der Welt nie gefiel!

Dann kann ich verstehen, daß sie mich flohen,
daß mir die räudige Katze blieb,
daß alle, die Niederen wie die Hohen,
meine gallenbittere Fratze vertrieb.

Und auch das Vieh wird mir nicht lange bleiben,
bald ist es wieder fett und wohl,
und lacht der Frühling warm durch die Scheiben,
so habe ich nur noch den Alkohol!


Februar 1910

Masturbation

Er hockte wie in einem Sarg
mit dunklen Tüchern dicht verhängt,
als einer, der sein Glück verbarg,
da man sein Bestes tief gekränkt!

Zwei Kerzen stehn auf seinem Tisch,
die leuchten matt als wie durch Flor,
und aus zerknülltem tintigen Wisch
liest er sich selbst Gedichte vor.

Gedichte, die er selbst gemacht,
heult er mit Pathos und Gefühl
sich selbst ins Ohr. - Die Mitternacht
hört schweigend zu und lächelt kühl. . .


Februar 1910

Der goldene Kneifer

Auf dem Nachttisch träumt ein goldener Kneifer,
daß er zwei Menschenaugen nicht mehr hinter sich hat -
aus dem Bette starren mit ängstigem Eifer
zwei Menschenaugen verschwommen und matt. . .

Sie starren verängstet in das nächtige Dunkel
oh, da gespenstert plötzlich ein sehr seltsames Licht,
welches seine Strahlen mit grellem Gefunkel
recht tückisch grinsend im Kneifer jetzt bricht.

Doch da wird der Mensch vor Schrecken ganz rüde
ach, und er schmeißt den Kneifer ganz entsetzt
               an die Wand!
Lehnt sich dann zurück in die Kissen recht müde
und er träumt sich bald in ein seliges Land,
              in ein kneiferloses, seliges Land . . .


25. 02. 1910

Vergänglichkeit

Das Gleiten in den andern Tag hinüber so sanft,
so leicht wie du dies bunte Band
mit jenem tauschest - dieses trüb und trüber
des kurzen Abends, der wie Gestern schwand.

Das Gleiten in die ewigferne Stille,
wie jenes Gleiten in den andern Tag,
und das kein Mut und kein erstarkter Wille
und keine Macht zu hemmen je vermag.

Und jene, welche immer um dich waren,
entgleiten dir, indes du trauernd sinnst
und hast ein Ängsten vor dem Wunderbaren,
in das du selbst so sanft, so leicht verrinnst. . .

Doch dieses: Welten sinken hin in Nichts,
indessen du den Becher Weines leerst
und hast um dich die Fülle goldnen Lichts,
und ist kein prunkend Ding, daß du entbehrst

Doch dieses: Menschen leiden ihr Geschick,
indessen dich Musik wie Duft umweht,
sie aber bergen Qual im letzten Blick
und Leiden, welches über Dornen geht!

Doch dieses: was dein Liebstes ist, verstirbt,
indessen dir die Bühne greller winkt,
und alle Lust wie Zauber dich umwirbt -
doch dieses: auch dein eignes Sein ertrinkt . . .


April 1910

Barockes Chanson

Ich habe dich gesucht wie eine Nadel,
du Madel ohne Tadel und voll Adel!

Ich habe dich gesucht, du klare Cläre,
wie eine rare, wunderbare Ware!

Und wieder habe ich gesucht jetzunder
durch allen Schunder-Plunder wunder Wunder!

Ich habe dich gesucht bei den Kohorten
mit Jammerworten dorten allerorten!

Und habe dich gesucht an jeder Stelle
wie eine helle Quelle schrecklich schnelle.

Und habe doch vergebens dich gesucht,
und stöhnte in der Schlucht der Flucht: Verflucht


 

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