Gedichte 1914

Gedichte

1914

Alle Zeitangaben zu den Gedichten geben das Datum an, dem der Text zugeordnet werden konnte.
Bezug hierzu sind die Angaben aus der Sammlung der 1987 von Klaus Völker herausgegebenen Gedichte.


Inhalt

Silvester 1913

Januartag

Rummel-Vorort im Winter

Der Empörer

Vorfrühling

Heidauer Traueressen

Fleischerfest

Unserer Ohnmacht Grabgesang

Ich träume dir nach . . .

Porträt einer Beamtenfrau

Wandervögel

Der Vater

Der Sonntagabend sang- - -

Ich lebe!

Die Wartesäle

Porträt eines radikalen Knirpses

Ankunft in Berlin

Die spiritistische Sitzung

Kehraus

Lied

Emanuel nach seiner Kindheit barmt

Sonett der Enttäuschung

Martyrium

Lied für Leni Gebek

Eine Frau singt am Sommerabend

Der gefeierte Dichter

Sommertagfrühe in der kleinen Stadt

Der kleinen Stadt Refrain

Emanuel im D-Zug nach Berlin

Du fremdes Haus

Attentat

Sommerlied für die Potsdamer Straße

Des Anarchisten Tod

Der Greis

Schlaflosigkeit in diesen hellen Nächten . . .

Besuch bei einem Dichter

Eines dicken Weibes Flucht

Der Rezitator

Lied meiner Demut

Das Buch

Kriegsbegeisterung

Wir, die der Krieg zerbricht

Dein Glück nur ist mein ganzes Leben, Liebste!

Die Farbigkeit im Auge meines Hundes . . .

Einsames Tagesende

Abschied (1)

Abschied (2)

Sonett von unserer Erlösung

Vielleicht ward Gott jetzt jünger als wir selbst

Stilleben »Fruchtbarkeit«

In deinen Händen

Die Stoppelfelder

O lag ich herzlos jetzt. . .

Bleib du mir treu!

Mich holt dein Herz

Nun sind auch meine Nächte ohne Narben

Ein Dichter denkt im Kriegsweh:

Der Anfang

Die kleine Stadt

Abseits

Die Blessierten

Kriegsgefangene

Der fremde Leutnant

Freiwillige Gymnasiasten

Ein Abschied

Die Witwen

Melancholie

Der Familienskandal

Meinem Vater zum sechzigsten Geburtstage

 

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Anfang 01. 1914

Silvester 1913
(Neiße, »Hotel Kaiserhof«)

Schnee schneidet in unsre Füße. Kinder krakeelen.
Türen taumeln.
Ein Wirt schwenkt sich verschwommen.
Endlich blühn wir im Licht! Kellner kommen.
Wir wogen auf Wein . . . Und ich seh mich in vielen scheelen
Mienen am Galgen baumeln.

Noch sind Mauern zwischen Menschen. Musik beschwichtigt.
Erwartung knistert. . .
Eine Rede wirft neckisch Falten.
Die Uhren läuten. Geknall! Verstierte Gestalten.
Streit wird gestillt und Rache mit Rotwein berichtigt.
Alles schwindelt verschwistert.

Plätschern in Wünschen verlogen, flau . . . Offiziere
flirten verkatert.
Ein Lebegreis tanzt übertrieben.
(Wir sitzen auf unserm Stern, wo wir einsam uns lieben!)
Muttchens werden Kokotten und Töchterchens Tiere,
Tantchen Therese theatert.

(Mir ist als küßt ich den Saum deines Kleides!) - Wir gehen
innig verschwiegen . . .
Die Straßen strömen Gejohle.
(Ich träume, daß ich die Sterne vom Himmel dir hole!)
Fenster tanzen im Licht, Fenster neigen sich . . .
          Fenster stehen
stumm, wo Verbannte liegen . . .


Anfang 01. 1914

Januartag

Soldaten socken den Parademarsch
in ihren Zentnerstiefeln protzig, barsch.
Papphampelmänner mit dem Portepee
sickern gelinde Leutnants in den Schnee.

Ein Pfahlgreis schießt im Eise auf den Arsch.
Teilnehmend spitzt ein Grünzeugweib: »Wie warsch?«
Der Marktplatz blüht, ein Feld von weißem Klee.
Bei lieben Lampen duftet Rum mit Tee.

Skifexe latschen wichtig von der Bahn.
Blessierte Rodler schleppen dampfend Schlitten
und sind in Sweater stilvoll eingefaßt.

Der Dom starrt wie ein festgefrorner Kahn
zwischen den kleinen Giebel-Booten mitten.
Ein Rabe krönt des Turms vergessnen Mast.


14. 01. 1914

Rummel-Vorort im Winter

In grauen Gärten sterben steif und state
die Sommerbühnen und die Holzveranden.
Schnee übertünchte alternde Plakate
und machte Automaten schnöd zuschanden.

Ein Huhn hüpft auf dem Podium der Musicke
und läßt sich gackernd in das Tanzzelt fallen.
Erfrorne Wäsche knarrt am Vorhangstricke
zwischen verheerten Bier- und Selterhallen.

Brauknechte karren Eis vom Gondelteiche,
ein Karussell läßt still sich überwintern,
die Schreberlauben starrn wie Leich' an Leiche.
Auf Radrennbahnen kascheln Kinderhintern.


03. 02. 1914

Der Empörer

. . . Und manchmal muß ich mich in bang verstohlnen,
schreckhaften Träumen trödeln durch die Nacht
des sehr verhaßten Orts — mit unverhohlnen
Triumphgebärden: Ich habe alle umgebracht!

Muß schweifen, wie Gespenster, ohne Ruhe
um Kirche und um Schenke, gram, vergällt,
und spei auf meinen Rock und meine Schuhe,
weil dieses Haus sie gab, das mich wie Fieberfrost befällt.

Es würgen mich Wiesen und es züngeln Zäune
lüstern erfrecht nach meinem Angesicht - -
Ich schrei wie ein wütendes Tier und schlage an
          eine Scheune,
wo mich das Dorf hohnlachend wie einen dürren Zweig
          zerbricht.


05. 02. 1914

Vorfrühling

Gärten grünen zart und leise,
launig schaukeln die Chausseen,
wo an Bäumen Pinkelgreise
mühsam und beschäftigt stehen.

Ferne mit verliebter Blässe
zeichnen Berge sich japanisch.
Sänger bollern ihre Bässe,
Weiber wetzen sich sopranisch.

Pfingstlich knalln schon Bürger-Schützen.
Pferde schwingen helle Glöckchen.
Aus besonnten Frühlingspfützen
spritzt es unter weiße Röckchen.


08. 02. 1914

Heidauer Traueressen

In Bratendampf hat sich das Leid gebettet,
und letzte Tränen tröpfeln in die Suppen. -
Aus Flor und Schleier glühen Nasenkuppen
und bibbern Backen, feucht und angefettet.

Mit Röcken aufgepolstert, Plusterpuppen,
sind Töchter wie in einen Knaul verklettet.
Satt, in den Lehnstuhl am Kamin gerettet,
kratzt einer rülpsend sich vom Deetz die Schuppen.

Ein Bengel glubscht im Kommuniongewande
und macht sich fletschend feierlich und wichtig.
Die Erbschaft hecheln Sabbermuhmen reiflich.
Hemdsärmlig lümmeln auf dem Fensterrande
beleibte Väter, violettgesichtig,
und werden lauter und verliebt handgreifllich.


Februar 1914

Fleischerfest

Wie Groschen-Granden prätzeln die Gesellen
auf ihren abgetriebnen Karrengäulen.
In Droschken wuchten morsche Meister-Säulen
und schlagen mit geübten Wänsten Wellen.

Ein müder Möbelwagen holpert Heulen
von Instrumenten, die begeistert gellen.
Ein armes Luder mußte sich befellen
als Bär. (Bewundernd wursteln Ladenfräulen.)

Ein povrer Prinz macht verzweifelt Sprünge,
von Gassenjungen schmerzlich ramponiert.
Mit Bundesladen protzen Jüngelinge.

Ein Biedrer ölt befriedigt: »Wie Studenten! . . .«
Ein Reisefremdling prustet ungeniert. -
Das Fest wird Rausch und Mut zu Alimenten.


23. 02. 1914

Unserer Ohnmacht Grabgesang

Ob wir auch zürnen — wir vermögen nichts!
Und keine Schindel fällt um uns vom Dache;
wenn ich auch noch so spöttisch ihrer lache
und nehme sie zu Narren des Gedichts:

Sie ordnen mich wie eine fremde Sache
kühl in die Kästen ihres Weltgerichts,
sie zählen meines herben Angesichts
jedwedes Zucken in geheimer Rache.

Ob wir auch zürnen - wir sind stets besiegt!
Sie sielen sich gesättigter im Seichten
mit Glatzen, die der Henkersruhm beglänzte.

Wenn unser Leben unter Leid erliegt
und keucht in Krämpfen nach dem Nie-Erreichten,
so prangen unverwüstlich ihre Wänste.


28. 02. 1914

Ich träume dir nach . . .

Und immer bin ich so von dir ergriffen
im Allertiefsten und für alle Zeiten!
Du gingst. . . Ich träum' dir nach . . . Mir glänzt
          dein Gleiten
ganz nah, wie heimlich in mein Glas geschliffen.

Ich sehe dich die weißen Glieder breiten
wie Möwen ihr Gefieder über Schiffen;
und plötzlich hab ich meinem Hund gepfiffen
und singe ihm von deinen Zärtlichkeiten.

Von unten zuckt aus Zoten Biergekreische,
und auf der Straße fließen zwei und zwei
sich immer wieder in die fahlen Fleische.

Verfänglich hinter Fenstern schaukeln Schemen,
und Katzen schrillen Liebesraserei. -
Ich träum' dir nach . .. und sink' in Chrysanthemen .


Anfang 03. 1914

Porträt einer Beamtenfrau

Sie hält den schwanken Gatten fest im Zügel
und thront unwandelbar gesalbten Fettes,
und schleudert Blitze von dem heiligen Hügel
des dauerhaft verrammten Ehebettes.

Sie läßt sich von dem Schüchternen bestaunen
und mästet sich in seinen Amtsgebärden.
Langweilig, in Verlogenheit und Launen,
fault sie zu einem miesen Mutterwerden.

Sie knabbert neubegierig an Romanen
und plustert sich und kommandiert und segelt
vermessentlich zu breiten Größenwahnen,
auf denen sie wie eine Ente flegelt.


02. 03. 1914

Wandervögel

Sommersonntag. Wolkensegel.
Weiß und leicht. Beblumter Boden.
Billig schwärmen »Wandervögel«
mit der Laute und in Loden.

Ferien. Lido. Barkensegel.
Blaues Meer. D'Annunzio-Oden.
Billig pilgern »Wandervögel«
durch die Herrlichkeit in Loden.

Als moderne Argonauten,
Loden-Hellas mit der Lauten,
überschwemmen sie die Welt
und verbrauchen wenig Geld.
Bei Paris, Florenz, Veronen
kochen sie sich Speck und Bohnen,
selbst in München, siehste wohl!
hassen sie den Alkohol.
Luxus pereat! Grazie! Moden!
Vivat: Lautensack und Loden!

Sonntagabend. Bahnhofsruhe.
Plötzlich poltern Nagelschuhe
kunstgeübt auf deine Pfoten:
»Wandervögel« heimwärts knoten.

Doch der Turnbeamte Krögel
sang: »Hurra die Wandervögel!
Heil die frischen, freien Bua!
Hier ist richtige Kultua,
Deutschtum, Patriotengrips,
Wadenstrumpf und Eisenschlips,
Eiche, Schwert und Heldenbrust:
Müllern ist des Wandrers Lust!
Einer senkt die neue Saat schön
in des andern Herz und Hosen:
wenn sie durch die Berge latschen,
reifen sie zu Makellosen.
Werden zwischen Tanz und Tannen
Christgermansche Edel-Mannen!
Ach, die >höheren Kollegen<,
die befeinden uns vonwegen,
daß die Wissenschaften leiden,
wenn wir wandervogelweiden.
Als ob Geist und solcha Plunda
nur hienieden glücklich machte -
ich kam selbst kaum bis Sekunda,
wo ich jämmerlich verkrachte.
Dennoch heute stehe ich
als ein preußisch königlich
abgestempelter Vater Jahn -
Tugend ist kein Lehrer-Wahn!«

Schollensohlen. Trauernägel.
Als Ästheten-Antipoden
billig pilgern »Wandervögel«
mit der Laute und in Loden.

Kochgeschirr und Futtertrögel.
Bei Paris, Florenz, am Snowdon . . .
Billig ramschen »Wandervögel«
alle Herrlichkeit in Loden.


05. 03. 1914

Der Vater

Der Vater hängt am Pulte, krumm, verkrampft,
und rechnet kummervoll sein Leben nach:
daß der, den seine Güte fast zerbrach,
in stierer Freiheit seinen Stern zerstampft.

Trostlos in Trägheit ödet das Gemach,
in dem ein schwerer Ofen trüb verdampft,
ein sehr verwöhnter Köter röchelt sanft,
und Flaschenfelder liegen traurig brach.

Der Vater füllt die Fäuste und versinkt
in morscher Ohnmacht, die durch Striemen strudelt
und seinen Blick zu düstrer Wut zerdumpft. -

Der Stammtisch naht. Der Vater schmilzt, und schrumpft
in einen alten Wirt, der höflich sinkt
und spaßig taperhaft am Bierhahn wudelt.


15. 03. 1914

Der Sonntagabend sang - - -

Der Sonntagabend sang. Du lagst im Bette
und warst so süß geschwätzig von den Streichen
verklungner Kindertage: vom Beschleichen
verbotner Heimlichkeiten der Boskette,

von Spielen, die zu schnell den Sünden gleichen
vor Elternaugen; von gestörter Mette;
von Freundschaften, anklammernder als Klette
und plötzlich längst verlorener als Leichen.

Du warst so süß geschwätzig. Gärten gingen
und Bäche und erschreckte Augenblicke
und Spaße durch dein Blut, das kindlich sprang.

Die Stadt ward bunt. Aus hellen Fenstern hingen
spöttische Spiegel. Trunknen im Genicke
saß keck der Hut. Der Sonntagabend sang.


20. 03. 1914

Ich lebe!

Aushebungsschlurkse schlenkern durch die Straßen
und sind mir ekelhaft - und haben doch
wie ich Geliebtsein über alle Maßen -
oder ein einsam Junggesellenjoch!

Ein Kellner munkelt, daß ein Jungbekränzter
unrettbar sterben muß . . . jetzt sterben muß!
Aus Glut der Gläser glotzt ein Schwarzgeschwänzter
und Frühlingsfelder stampft sein Pferdefuß.

Und Kreuze krächzen um den Phallusturm,
und alle roten Dächer drosselt Sturm,
Same wird wüst, wo es viel Tode gibt -
ich aber lebe! - liebe! - bin geliebt!


Ende 03. 1914

Die Wartesäle

In ihre Kahlheit flattert ängstlich Öde,
ein Frösteln den verlassnen Gast befällt. . .
Der Schnellzug flitzt vorbei, der hier nicht hält.
Ein aufgescheuchter Kellner schaukelt blöde.

Das Fräulein am Büffet spielt Sich-Verstecken
und gähnt in einen Schmöker. Klingeln klirrt.
Ein Mützenmann, der Züge ausruft, irrt
von Zeit zu Zeit, die Stille aufzuschrecken.

Doch Sonntags werden diese Räume Nest,
und allzu enges fast, dem satten Knäuel
der standhaft starrenden Familienrudel.

Denn pflichtgemäß ist denen hier ihr Fest:
Sie pappen Wanst an Wanst und schmatzen Greuel
und würgen Nichtigkeit im Tratschgewudel.


Ende 04. 1914

Porträt eines »radikalen« Knirpses

Vor seinem Spiegel sprach er schmerzhaft: »Zwerg!«
Und schlug an seine Brust und kniete nieder.
Doch plötzlich gleitet Wahn in seine Glieder:
er türmt sich Zeitungen zu einem Berg,

und fälscht aus fremden Federn sich Gefieder
an seinen Buckel, und dann malt der Zwerg
auf diesen Hügel frech: »Mein Lebenswerk!«
Und thront gebläht und grinst verstockt und bieder.

Die Rechte greift nach Andrer grimmer Größe,
die Linke schleudert nach den Opfern Flüche
und zielt den Hohn auf ihre edle Blöße.

Sein Hintern haust in ihren Herz-Gedichten -
und plötzlich schwelen schrecklich Pestgerüche:
er stirbt aus Furcht vor seines Dünkels Pflichten!


11. 05. 1914

Ankunft in Berlin

Warum ist kein Luftschiff über uns gezogen,
als wir mit hoffnungsvoller Kurve in die Wunder
          der großen Flamme flogen?

Denn in unsern letzten Kleinstadtträumen von dir, Berlin,
war Propellergeprassel, Winken aus Wolken, Brunst
          von Benzin!

War Unerhörtes, das uns mit irgendeiner Raserei überfiel,
waren Seiltänzer auf Trambahndrähten, war ein Automobil,

das mit uns wie ein feuriger Engel über glühende
          Glätte stürmte,
durch lauter Reifen von Wind, der Leuchten auf
          Leuchten türmte!

Aber dann hockten wir plötzlich hinter einem
          verpfuschten Pferde,
von weißen Lampen lief nackt eine frierende Herde

gerupfter Strauße, die vor unserm Kommen wie
          vor einem Unglück floh —
und nur ein Blick von dir, beflügelt, tanzend, machte
          mich auf Kampf und Mühsal froh.


15. 05. 1914

Die spiritistische Sitzung

Der Hofschauspieler priestert Propaganda.
(Ein kleiner Dichter witzelt.) Kellner kreisen.
Ein reicher Christusgraf beginnt mit leisen,
verliebten Lauten. Die Cafeveranda
wirft einen Tango hoch, der Skepsis kitzelt.
Ein Kaufmann kniet. (Ein kleiner Dichter witzelt.)
Ein Talmidämon, jahrmarktlich gefirre,
macht eine Mißgeburt gewaltsam irre.

Ein Literatenhürchen, rasch bekehrt,
mimt Heiligkeit, die sie wie Brunst genießt.
Ein dicker Dummkopf schwelgt im Grenzenlosen.

Ein schuldbewußtes Witwenweib zerfließt.
Der Hofschauspieler polstert sich mit Posen,
wozu er mild ein Schinkenbrot verzehrt.


19. 05. 1914

Kehraus

Immer wieder kommt ein Kehraus und ein letztes
          abschiedliches Gehen
auf den hingeströmten Abendstraßen,
wo an offnen Fenstern junge Männer stehen
und auf weißen Bänken oft die Kinderfräuleins saßen.

Kommt die kleine, wie geraubte Rast im Stammlokale
und an Schaufenstern ein letztes Nippen -
aber schon liegt bitterlich der schale
würgende Geschmack der Tennung auf den Lippen.

Blumenduschen rieseln zaubervoll von fremden, freundlich
          flimmernden Balkonen.
Zwischen Tulpen schweben schöne Reiter . . .
Du verzagst: wo werd' ich morgen Abend wohnen?
Willst dich einem anvertrauen, doch alle wehn unfaßbar
          weiter.


20. 05. 1914

Lied

War ich munter, ohne Schwere,
von beschwingter Leichtigkeit,
tändelnd in geliebter Leere
und versüßter Seichtigkeit:

Oh! wie würd ich glücklich machen,
könnte selber glücklich sein!
Leben wäre nichts als Lachen
und der Tod ein Engelein!

Alle wären Schwestern, Brüder!
Jeder Freundschaft war' ich wert! -
Jetzt - belastet, müd und müder,
fall ich in mein eignes Schwert!


22. 05. 1914

Emanuel nach seiner Kindheit barmt

Oh! noch das schöne Kranksein und in weißen Kissen
          zu liegen,
warme Füße zu fühlen - etwas, das sehr süß schmeckt,
          zu schlürfen,
am Morgen nicht zur Schule zu brauchen, im Bett
          frühstücken zu dürfen,
wenn sich lauter Zärtlichkeiten wie Katzen weich an
          uns schmiegen!

Viel Spielzeug aufgebaut haben, etwas ungezogen sein
ohne Gefahr - Mittelpunkt und Zar alles Seins im
          Hause zu bleiben,
die heimliche Freundin sogar darf ein rosa Briefchen
          uns schreiben,
eine Tante bringt Blumen, und ein Mann eine
          Flasche Wein.

Fernfern ist die große schwarze Tafel mit den
          schweren Zahlen,
das Stillesitzen und Händefalten, und immer
ist der Vater oder die Mutter bei dir, oder ganz nah
          im Nebenzimmer! —

Kinderglück noch im Schmerz! — Jetzt, härteren
          Einsamkeitsqualen
preisgegeben hilflos und wie verschüttet in gräßlichen
          Gruben
büß ich mein Mannsein und seine Freiheit in der stummen
          Verbannung fremder, erbarmungslos feindlicher
          Stuben!


22. / 23. 05. 1914

Sonett der Enttäuschung

Als ich gefesselt lag in Heimatsgrotten
bei Fratzen, die mich mit Erbittrung trafen,
und blieb mir nur: mich in den Tod zu schlafen
oder sie (und mich selbst) zu Nichts zu spotten!

Oh, wie verhaßt war mir der tote Hafen,
wie sehnt ich mich nach allem Lärm von Rotten,
auch wenn sie tierischer und trunken trotten -
nur nicht die satte Sanftmut dieser Braven!

Und ich ward frei! Da schweifte ich beschwingt
und dachte leicht zu sein in Lust und Launen.
Doch plötzlich sah ich mich im Tanz von Faunen.

Von Hochmut stand ich widerlich umringt.
Da sah ich auch der großen Stadt Grimasse
und stöhnte unerlöst mein zweites: Hasse!


25. 05. 1914

Martyrium

Ich möchte mich immer und immer verschenken,
mitteilen an alles, was weint, was genießt,
ich möchte jeden Roman mitdenken,
den mein Nachbar in der Elektrischen liest.

Plötzlich rücken sie ab - Maskerade
starrt beleidigt, in Bosheit gebannt,
und daß ich mich selber mit Leid belade,
baut nur höher die wehrende Wand.

Blitze zucken. Es treffen Steine.
Ein Wort erwürgt alles Weh: Apostat!
Zertrümmert im ersten Frührotscheine
treibt jedes »Bruder!«, um das ich bat.

Menschen fliehen. Ich liege verlassen
in Rosen, die der Frost verdarb.
Wie Sargbretter sinkt Hassen
auf mein Herz, welches starb.


26. 05. 1914

Lied für Leni Gebek

Deine lieben Brüste sind immer auf mich bedacht;
sie träumen in Weiß und Weiß geborgen
von mir wie versponnene Vögel der Nacht.

Wie Sonnen steigen sie auf am Morgen
und flattern in meiner Hände Herd.

Sie haben mir immer alles beschert,
um was ich bat. Alle meine Sorgen
sargten sie ein bis zum jüngsten Tag.

Und weiß wächst dein Arm aus deinem Kleid
wie ein Birkenzweig aus der Mauer am Hag.

Jedes Lied ist mir leid,
das nicht zu deinen Füßen lag!


27. 05. 1914

Eine Frau singt am Sommerabend

Immer tiefer treib ich in der Schwebe
wie ein Nachen auf dem Strom -
Ein verzärtelter Ephebe
kniet in meines Herzens Dom.

Meine Augen gehn wie dunkle
Kirchenfenster in die Welt -
Dennoch flattre ich und funkle
wie ein Stern, der plötzlich fällt.

Jetzt in süßer Unrat jede
gleitet tiefer ohne Scham:
durch die Raine unsrer Rede
rieselt heimlich Glück und Gram.


28. 05. 1914

Der gefeierte Dichter

Er flog ganz klein, zerpflückt in seinen Flaus
geflüchtet, farblos hinter der Kulisse -
da plötzlich sprang, als ob ein Berg zerrisse,
erschütternd an den Vorhang der Applaus.

Er machte eine zaghaft ungewisse,
zerbrochene Gebärde ins Gebraus;
dann stieß man ihn vor das Parkett hinaus,
daß er die Beifallsfahnen höher hisse.

Er hing geblendet; lächelte verlegen
mit leisem Ingrimm, der aus Tagen kam,
wo Spott die Falten seiner Stirn bespie.

Da brodelte ihm wieder Lärm entgegen
und Duft, der das Bewußtsein fast ihm nahm,
und eines neuen Werkes Melodie.


28. 05. 1914

Sommertagfrühe in der kleinen Stadt

Die Hurenkneipe, abseits, wie verschminkt,
entläßt in Heimlichkeit die letzten Gäste.
Ein aufgescheuchter Vogel stürzt vom Neste
in den noch zagen Frührotschein und singt. . .

Befrackte ziehn von irgendeinem Feste.
Ein Trunkner klebt verirrt an einem Tor und klinkt.
Ein Wagen, der zum Markt Gemüse bringt,
rollt neben einem Kerl mit bunter Weste.

Am offnen Fenster mürbt auf der Matratze
ein Kellnerlehrling in der Bodenkammer,
daß alles Weh der Heimat ihn durchwühlt.

Vom Dache schrillt das Jammern einer Katze.
Dann schlägt der nahen Turmuhr Glockenhammer.
Der Morgen kommt, der allen Kummer kühlt.


30. 05. 1914

Der kleinen Stadt Refrain

Du bist zurückgekehrt und siehst die alten,
verfehlten Bilder in den Schauregalen,
wie sie ehrgeizge Zeichenlehrer malen,
die sich für unverstandne Meister halten.

Dieselben Bücher, die auf Käufer warten,
beim Fotograf das Brautpaar in der Pose,
der Firmling mit der ersten langen Hose,
am Zeitungsstand die alten Ansichtskarten.

Noch immer klimpert es auf dem Klavier
aus jenem Zimmer zur gewohnten Stunde.
Das gleiche Wesen läßt für Geld sich lieben.

Die gleichen Biedermänner gehn zum Bier,
die Rätin sitzt am Fenster mit dem Hunde.
Nachtwächter machen noch dieselbe Runde.
Dir ist, als wärst du ewig heimgeblieben.


Juni 1914

Emanuel im D-Zug nach Berlin

Wollt ihr mich einlullen
mit der verlognen Musik eurer Räderschlangen ? -
Ach, ich hocke in Bangen,
Sklave eurer Schatullen.

Drähte fallen nieder,
als ob sie meinen nackten Hals zerschnitten -
aber mein Kopf hat nur Lieder,
die verängstet litten!

Die Birken, die fliehenden, blassen,
wie peitschen sie mir Herz und Gedanken -
Gott wirft mich Sehnsuchtskranken
gekreuzigt in gellende, fremde Gassen!


12. 06. 1914

Du fremdes Haus

Du fremdes Haus, in dem den Freund ich suchte
mit schuldbewußter Liebe, die verloren
sich ängstete in deinen Korridoren,
und ihre eigne Schüchternheit verfluchte:

Du standest stumm mit deinen tausend Türen
und äfftest mich mit nichtigeren Namen,
die über mich wie Vogelkreischen kamen,
und keine Klinke durfte ich berühren.

Die Klingelknöpfe stachen mit dem Schielen
heimtückisch wachender, höhnender Hasser.
In einem Badezimmer wallte Wasser.
Und Hunde heulten auf verschloßnen Dielen.

Du aber triebst in immer neuer Treppen
unüberbrücktes mich und vage Stimmen,
und ließest meine Ohnmacht in die schlimmen
Schluchten verströmter Einsamkeit sich schleppen.

(. . . Und mein in Kellern hingekrümmter Schrei,
als ich versank, trieb tot an dir vorbei,
und deines Gartenhofes Blut
suchte mich heim wie Uberschwemmungsflut. . .)


15. 06. 1914

 

Attentat

Im Deckel meines Glases spiegelt spielerisch
die ganze Welt sich: jener Mann am Nebentisch,
der sich das Essen selbst verekelt, und die Frau,
die nach der Zeitung zischt, und etwas Wändeblau.

Im Deckel meines Glases spiegelt sich mein eignes
         Angesicht:
ich trinke, ist dies nicht ein Schlupfwinkel, der
         bald zerbricht,
und alles hat dennoch, wie ich, Abbild und Jünger
         und Trabant
und seine Seele in meines Glases Spiegelland, wie ich
         die meine, längst erkannt?

Neue Gäste gehn durch meinen Spiegel, der Wirt
spricht ins Telefon, die Kellner streift ein Streit,
der im Dunkel meines Glases wie in Labyrinthen irrt.

Entfriedet friert das Fräulein an der Kasse
im Deckel meines Glases, der über jeden Ort und jede Zeit
verfügt, bis ich ihn mit der Faust entzaubert, ganz umfasse.

Dann bringt er mir den Tod und allen Gästen und der
          rotbelichteten Terrasse.


16. 06. 1914

Sommerlied für die Potsdamer Straße

Junge Mädchen ziehn wie Zedern,
ihre schlanken Füße federn . . .
In den weißen Sommerblusen
singen Busen . . . singen Busen!

Nackter in den hellen Hemden
reichen sie sich jedem Fremden,
klopfen mit zerschmolznen Gesten
an die smarten Smoking-Westen.

Ihrer Brüste Bälle werfen
sie nach ungehemmten Nerven,
daß die in Verzückung schwingen:
Busen singen! Busen singen!


16. 06. 1914

Des Anarchisten Tod

Als die große Erregung der Massen wie Wind stieß,
gab es etwas, das ihn jung vorwärts stürmen wie blind hieß.

Bis ihn des Schutzmanns Säbel zu Tod traf
und er fand in Gerumpel, Nebel und Straßenkot Schlaf.

Mit der klaffenden Wunde dann plötzlich lag, wach,
seine Seele und dachte mit offnem Munde Tag für Tag
          nach . . .

Wo es immer wieder war, daß er schmerzhaft auf
          Stein schlug,
seine Braut, seine Mutter in weißem Haar redete ihm ab,
          fein, klug.

Aber er mußte sie von sich jagen, vor Leid toll,
Ängste würgten ihn, Klagen - sein Kleid schwoll.

Schwoll zum Sturm, der die Erregung der Massen trieb.
          - Schwieg! -
Plötzlich fiel wie ein Blitz, nicht zu fassen:
          Ich hab dich lieb! Stieg.

Stieg und stand über seiner Stirn, weiß!
Aus Strahlen ein heiliges Band, kühlte sein Hirn, weiß!

Und als der erste Vogel schrill im Kerkerschacht zirpt,
spricht er friedlich, still: Es ist vollbracht! Stirbt.


17. / 18. 06. 1914

Der Greis

Meinen alten Beinen
tut Sommer wie Winter weh!
Trinken scheint Trost, doch wenn ich dahinter seh,
bleibt immer nur Frösteln und Weinen.

Junge Leute lachen,
sind sorglos, verschwenderisch,
reden fremd, fern, noch blickt alles blenderisch,
weh, wenn sie nicht erwachen!

Meine alten, braven
Augen wurden des Schauens satt,
mein Mund des Mahnens, meine Hände des Bauens satt!
Ich sehne mich danach, recht schlicht zu schlafen!


19. 06. 1914

Schlaflosigkeit in diesen hellen Nächten . . .

Schlaflosigkeit in diesen hellen Nächten:
wenn man sich nicht in Hinterhalte flüchten kann,
im Grübeln, verbundnen Auges, sein Fleisch
          vernichten kann,
sondern muß mit seiner eignen Finsternis von Angesicht
          zu Angesicht fechten.

Wer alles Verschluchtete seiner Geilheit schlichten kann,
an dem sich nicht die Raserein unreiner Jahre rächten,
der darf die weiße Stille dieser Stunden um die
          kühle Stirn sich flechten
zu einem Kranz und »Amen!« sagen zu allen Süchten dann.

Wer ist so frei von jedem Frost?
Wen peinigen nie Visionen, die er sich selber schaffen muß?
Und niemals kommt ihm so unsaubre Kost?

Ich möchte mich wie ein Vogel in diesen Himmel von
          Helligkeit heben,
aber wer in den Winkeln der Wollust wohnen – bei
          seiner Feigheit Affen - muß,
dem wachsen keine Schwingen, frei zu schweben.


21. 06. 1914

Besuch bei einem Dichter

Ich ging zu einem Dichter, und nun hielt
dies »Dichter« mich im Gehn zurück,
ich fühlte meine Schritte wie gespielt
von einem fremden Mann zu einem fremden Stück.

Ich fühlte so im Gehn, wie jetzt geschehn,
ganz körperhaft schon jeden Blick und Laut,
mein Wankend-Wer den, stammelnd vor ihm Stehn
und jede Falte seiner fahlen Haut.

Das ängstliche auf einen Abschied Lauern
und krampfhaft denken, daß man nichts vergaß
von allem, was man wichtig sagen wollte.

Dann hielt das Haus mit den bekannten Mauern
mich schon umschlossen, und ich sah im Glas
des Spiegels, daß mein Kopf vor seine Füße rollte.


23. 06. 1914

Eines dicken Weibes Flucht
(dem Maler Ludwig Meidner)

Sie rannte. Schlickernd schlotterten die Schluchten
und Wabbelwülste in dem Flackerfleische.
Brüste zerbröckeln. Mannes-Wogen wuchten.
Vor einem Auto kringelt Fettgekreische.

Sacht sickern graue Socken auf die Waden.
Der Hinterfronten schwankende Balkone
wölben auf Hängehüften Kolonnaden.
Links tropft und rechts die quatsche Brustzitrone.

Des Bauches Bürde pflanzt sich wie ein Pfeiler
in der gestrafften Röcke strammen Strudel.
Wie rote Fische schnappen Hände Luft.

Der Steiß ebbt ab und steigt und hebt sich steiler
und schwingt wie eine Fahne im Gewudel
gebauschter Buxen, die ein Föhn zerpufft.


26. 06. 1914

Der Rezitator

Erst kommt ein Kopf. Kahl wie ein Kürbiskegel.
Dann lüftet sich belichtet eines Mimen
zermürbte Maske. Finstre Furchen striemen
sich in der Priesterfratze Pudersegel.

Drapierungen, die alten Zaren ziemen,
legen sich um die Lippen. Nach der Regel
zirkelt die Nase sich - still ragt der Kegel! -
Und dunkle Nüstern schnappen wie die Kiemen.

Er rezitiert. Die eine Tatze, nackt,
zerschneidet wie ein rotes Beil, kompakt,
bis sie in krausen Kapriolen hupft.

Dann hat sie jäh die andre sich gepackt,
die weißbehandschuht hing, und wie im Takt
wird von den Fingern das Gehäus gezupft.


Ende 06. 1914

Lied meiner Demut
(Strophen von eines Menschen Stolz)

Ich lese, in Erbittrung krank,
was andern Dichtern leicht gelang,
und denke - und Verzweiflung tobt -
wie man den liebt und jenen lobt,
der nie in dumpfen Zweifeln rang,
der nie in Süchten trüb versank,
den Selbstverspottung nie bespie,
dem nie die Kraft in Krämpfen schrie!


Der steigt wie eine Lerche leicht
zu königlicher Kunst!
In Tiefen, die er nie erreicht,
zerbricht
mich meine Brunst.
Der wirft sein Glück in alle Welt -
stumm lebt ein Held sein Glück! -
Wenn Schwermut
meine Scham zerschellt,
kriecht
er bekränzt zurück.

Sie wissen nichts von Herzensblut,
sie sind der eignen Geilheit gut,
der Beste ist ein keusches Kind,
das sich ein süßes Spiel ersinnt.

Sie steigen schnell, sie sterben bald!
Mein Wort ist Wipfel einem Wald,
wo jeder Weg sich selber weist
zu Ewigkeit und Gottes Geist!


08. 07. 1914

Das Buch

Ein Buch ist etwas, das meine Stirn bestiehlt
um alle Stille zu ihres eigenen Buches Bau,
was meinen Fingern fremde Rhythmen befiehlt
und wird meiner Wanderlust lähmende Leichenfrau.

An meinen Augen nagt es wie eine Maus
in Zwielicht-Nächten und legt auf meine Nerven Last
um Last,
mit meiner Worte Efeu behängt es meines Hirnes Haus,
daß ich mich blind, wie betäubt, von Seite zu Seite tast'.

Flieh ich ins Bett, umklammert es meine Sehnsucht
nach Schlaf
und läßt sich noch schleifen in meiner Träume
entlegenste Spur.
Der erste Blitz, der meinen Blick im Morgenerwachen traf,
immer aus dem lichterfüllten Himmel des fremden
Buches fuhr.


29. 07. 1914

Kriegsbegeisterung

An Anschlagssäulen fummeln wichtige Flappen,
Begeisterung sickert von den Telegrammen,
nach denen ausgefranste Schnauzen schnappen.
Und Alkoholgemüter schlagen Flammen.

Geheimnisse verteilen die Friseure
freigebig in geübter Kräusler-Kurve;
Veteranen unter schwarzgewichster Röhre
entwickeln sich zu schwerem Faltenwurfe.

Mit Trinkgeld klimpern Kellner Kriegsfanfaren.
Kampfesmut landet in die Dirnenmieder.
Aus Königshymnen Rowdy-Fäuste fahren.
Mord wird pensionsberechtigt, zahm und bieder.

Die Leutnantssäbel sperren jedes Pflaster.
Analphabeten sind bebrillt und lesen -
Abseits wird ein zerplatzter, tiefverhaßter
Poet ins Grab gefegt von Kehrichtbesen!


08. 08. 1914

Wir, die der Krieg zerbricht

Wir glaubten: Was wir schön in Worte weben,
ist alle Zeit in jeden Geist geprägt
und steht wie Stein und hat wahrhaftig Leben
und ist, weil wir ihm Form und Farbe geben,
gefestigt, daß es Ewigkeiten trägt.

Wir waren immer liebend Hingegebne
an alles und von jedem Laut geliebt;
das ganze Dasein lag wie eine Ebne,
drin Glück und Güte als von Gott gegebne
Versprechen blühten, die er willig gibt!

Bis uns jetzt Krieg und krumme Brunst zerbrachen
und zeigten uns - wir welken wie entlaubt -
daß wir nur immer mit uns selber sprachen
und spiegelfechteten und silbenstachen
und daß der irrt, der an »Unsterblich« glaubt.

Jetzt ist in einem Augenblick gerichtet,
verraten, was ihr für Äonen sangt:
Tot ist der Ton, der Name liegt vernichtet, -
was frommt, wer jetzt noch hilflos Himmel dichtet,
dies Blindheitsspiel, wenn Grund und Hölle wankt?


09. 08. 1914

Dein Glück nur ist mein ganzes Leben, Liebste!

Ich wünsche mir nur, dich immer glücklich zu wissen:
daß dir Trübsal und Reue für ewig erspart bleibt,
das Morgenrot deiner Wangen bewahrt bleibt
und der Glanz deiner Augen vor Finsternissen!

Daß dein Schlaf immer tröstet wie Träume von schönen
beseligten Stunden, die still und besternt sind,
daß immer, weil Fürchten und Feindschaft entfernt sind,
unsrer Betten Brücken von Tänzen tönen!

Daß alle rein zu dir reden und lieb an dich schreiben,
daß dein Gang durch den Garten ein holdes Geschenk wird,
daß die Welt nie zu weit dir, dein Haus nie zu eng wird,
denn nur wenn du glücklich bist, darf ich leben bleiben!


10. 08. 1914

Die Farbigkeit im Auge meines Hundes. . .

Die Farbigkeit im Auge meines Hundes
mit Sonne vollgesogen, vom Bruder Schollenweg gebräunt,
Pfad in die Wälder, Garten von Tau bezäunt,
du in den Himmel Bogen, Leuchtend-Rundes.

Du Halbmond, hell von Herzlichkeit und Güte,
du Freund, dem Frechheit sich zu Sternentänzen verklärt,
Wölkchen, aus dem der Blitz jäher Hingebung fährt, am jungen
Stamme zarte Erstlingsblüte:

Träumst du von mir, manchmal, wie ich mich tief
in deine schwer-versponnenen Spiele träume?
(Fast fühl' ich, wie mein Schlummer stets bei deinem schlief.)

Oder geschah es, daß dich mein Wunsch nur ins Leben rief?
Oder, wie ich mich tändelnd oft versäume,
daß deine Sehnsucht sich in diese fremde Form verlief?


18. 08. 1914

Einsames Tagesende

Schlüssel klappern. Wie gehetzt
taumeln Tore zu. Lichter löschen aus.
Überall gehn jetzt
Menschen müde und enttäuscht nach Haus.

Ich gedenke jener Trennungstränen,
als der Zug zur Abfahrt pfiff,
als ich noch nach deinen Händen griff -
wie ich dann bei nächtlichen Fontänen
eines fremden Platzes planlos strich,
auf den Lippen und im Herzen dich,
dich, nur dich, durch alle Wirrsal tragend,
wie aus Gläsern oft dein Schlanksein glitt,
daß ich trostlos unter Sehnsucht litt,
meine Stirn an fremde Schlösser schlagend.

Lächelst du? Zerreißt dich Unrast? Treibt
Angst dein Blut, daß es wie Schnee erbleicht?
Meine Seele, die in deiner bleibt,
glaubt: jetzt wird das Schwerste gut und leicht!

Schritte noch zuletzt,
über, neben mir. Selbstgespräche. Und ein Lied verliert
          sich, kaum begonnen.
Überall sind jetzt
müde Menschen weiß in Schlaf versponnen . . .


18. 08. 1914

Abschied (1)

Der dicke Gastwirt vom
Roten Lamm
betrinkt sich, flucht: »Daß Gott verdamm! -
Noch einmal Schwärtel-Braten! -
So alt noch zum Soldaten! - - -«

Büffet und Geld übergibt er der Frau:
»Borg nicht und dulde keinen Radau!
Den Kellnern sieh auf die Pfoten,
die betrügen dich nach Noten!

Schließ und flieh, sind die Russen im Land!
Mein Testament liegt rechter Hand
im Sekretär. Wenn mir's dreckig geht,
heirat einen, der was vom Geschäft versteht!«

». . . Mußt mir auch eine Kirchtafel stiften . . .
Soll sich das
Blaue Lamm giften!«


19. 08. 1914

Abschied (2)

Zum letzten Mahl sind abendlich
alle heut vereint:
der Vater spricht das Tischgebet.
Die Mutter weint.

Der Älteste im neuen Kleid
als Leutnant hockt und träumt:
Wirtstochter war noch immer wach . . .
»Versäumt! —«

Der Jüngste, unbefangen, lärmt
von Kriegsspiel und Gerauf -
die Schwester stiert in ihren Schoß,
füllt zitternd Suppe auf . . .

Der Vater war bei Sedan mit,
es stürmt ihm was ins Blut,
er trinkt dem Sohne herzhaft zu:
»Mein Fritz, machs gut! —«

Der Jüngste stürzt auf einen Ruck
mit »Hurrah!« sein Glas Wein.
Die Schwester schweigt. Die Mutter packt
viel Liebes ein . . .

Durchs offne Fenster das Gepfeif
der Züge sickert sacht -
weil tausend Söhne fahren weit
in ungewisse Nacht - - -


19. 08. 1914

Sonett von unserer Erlösung

Du hast uns, mein Gott, so mit Angst umgittert
und mit den Gruben des Grauens umstellt,
hast den Speer meines Spottes zersplittert
und meine schamlosen Gesten zerschellt.

Unsre Lippen haben gezittert,
jedes gute Wort klang vergällt,
Dank war verdammt und Bitte verbittert
und unsre Birken lagen gefällt.

Aber der Blitz, der die Kronen zerkrachte,
hat auch ins Tiefste den Himmel erhellt:
als unsre Liebe vom Alptraum erwachte,
schenkte sich uns eine neue Welt:
und wir fühlten in Leiden umfriedet,
Herz an Herz unlösbar geschmiedet!


22. 08. 1914

Vielleicht ward Gott jetzt jünger als wir selbst

Vielleicht, daß Gott mich nicht mehr so gerne hat,
vielleicht, . . . daß ER sich in der Sterne Bad
verjüngte und nun keine Kranken mehr
mag und keine greisen Gedanken mehr . ..

Vielleicht, daß er dieser ewige Güte satt
mit Füttern umflochten die heilige Blöße hat,
daß ER des spottet, der seine Vergangenheit grüßt,
daß er sein Fessellos jetzt selbst mit Befangenheit büßt. . .

Daß ER so jung noch einmal, uns Junge mit Alter schlug,
daß ER zerstäubt wie ein Strahl, verweht wie ein Falterflug
läßt unsern starren Ingrimm und Hohn zu gewappneten
          Wachen böse geballt
wie einen Schneemann stehen, und über tausend Bergen
          schon sein aufreizend jugendlich Lachen
          schallt!


23. 08. 1914

Stilleben »Fruchtbarkeit«

In des Nachbars Suppe
zischen Nachttopf - Stimmen.
Einer dunklen Gruppe
schwangre Wänste schwimmen.

Häßlich wie Insekten
krauchen Bälger träge.
Auf die sehr bedreckten
Ärsche prasseln Schläge.

Schulbuchmädchen selber
fummeln schon befruchtet.
Und der Abend wuchtet
auf die Wanstgewölber.


23. 08. 1914

In deinen Händen

Der Sonntag war wie ein Geheg
von Heuduft und Holunder.
Ein Wiesel wehte übern Weg,
die Wipfel taten Wunder.

Den weißen Wolken war so wohl,
die Stadt stand wie ein Heiligenschrein.
Du hieltest deine Hände hohl:
Da ward meine Wehmut Altarwein.


25. 08. 1914

Die Stoppelfelder

Viel Prozessionen gehen um
wie Herden Laub, die Herbstwind weidet,
der Welt verweintes Witwentum
ist ganz in klanglos Grau gekleidet.

Die Stoppelfelder sterben. Tot,
verlassen liegt das Letztgemähte.
Am Rain verderben Blum und Brot
wie Opfer, welche Gott verschmähte.

Die Bäume, ihres zerschlissenen Kleids
letzte Fetzen zusammenraffend im Fieber,
schluchzen Hymnen des Herzeleids.
Herzlos reitet der Himmel vorüber.


03. 09. 1914

O lag ich herzlos jetzt. . .

O wär ich tot! - O hätt ich nie erlebt,
daß wir des Pöbels Bösestem erliegen,
daß schuldlos Blut an jeder Stufe klebt,
auf der wir einst zu reinen Sternen stiegen!

Du armes Herz, o bliebe dir die Marter,
von jedem Wort zerfleischt zu sein, erspart!
O daß dir doch ein unverwundbar harter
Panzer der Blindheit mitgegeben ward!

O war ich tot! Verschollen vor der Zeit,
da Schändliches auf jeder Lippe lauert!
Schön, herzlos lag ich jetzt im Sterbekleid, gefeit,
nicht trauernd und von Niemandem betrauert!


04. 09. 1914

Bleib du mir treu!

Wenn ich die ganze Welt verlöre -
daß
du nur bliebst! daß du nur bliebst!
Wenn ich nur noch dies eine höre,
daß
du mich liebst! daß du mich liebst!

So einsam hatt' ich nie zu tragen,
als wie an dieser Tage Last,
da meine Schläfen Schlachten schlagen,
noch wenn du mich am Herzen hast!

Gehetzt, verstoßener als Steine
und ausgeschütteter denn Spreu,
weiß mein Gebet nur noch das eine:
bleib
du mir treu! bleib du mir treu!


10. 09. 1914

Mich holt dein Herz

Der Berge dunkle Dächer
ducken sich, wie ertappt -
Die Sonne hat ihren Fächer
sachte zugeklappt.

Um die Kartoffelfeuer
flattert ein letztes Lied,
wie ein Abenteuer,
das vor sich selber flieht.

Es läuten die Glöckchen der Pferde
den Schlaf der Landstraßen ein.
Mich holt dein Herz. Ich werde
bald wieder glücklich sein!


16. 09. 1914

Nun sind auch meine Nächte ohne Narben

Nun neigt
dein Atmen über meine Nacht sich auch,
und jeder Hauch
von deinen Lippen singt der Liebe Letztes,
          was der Tag verschweigt.

Der Sturm
rüttelt am Tor, - der obdachlos verlorne Sohn.
Und Ton um Ton
des Glockenschlags, vom dunklen Wein der Stille trunken,
          stürzt vom Turm.

Es blüht
mein Schlaf in Frieden hinter deines Atmens weißem Zaun
Und glücklich schaun
in deinen Augen meine ihren Sabbath, wenn der
          Morgen glüht!


16. / 19. 09. 1914

Ein Dichter denkt im Kriegsweh:

Wie mir vor diesem Markt von Mördern graut!
Jetzt ist jede Mühle auf einem Mord gebaut,
jeder Weizen wächst aus Wunden, jede Rose blüht
          auf einem Grab,
ein Splitter vom Marterkreuz steckt in jedem Thyrsosstab.

An meiner Hand bleibt Blut, wem immer ich sie
         reichen mag,
die Nacht ist voller Sterben und voller Tränen der Tag,
jede Lust wird ein Laster, jedes Lachen erwürgt einen
         Wald von Leid,
jeder Trost ist zertrümmert und trübe von Bitterkeit.

Bei Astern und bei Trauben sind mit Schwertern
Gegürtete und strecken ihre Hände
an allen Tafeln aus und tragen auf der Stirn
          das Mördermal.

O war ich der in fernen Göttergärten
Bewirtete, der dort Vergessen fände
und ein umblühtes Haus und dies: Ewig entrückt sein
          aller Menschenqual!


20. 09. 1914

Der Anfang

Es warteten die Wege in den Wällen
wehmütig auf den Henker Herbst. - Ich ging
wie einer, den der Frieden tief umfing,
mit Versen spielend wie mit bunten Bällen.

Doch plötzlich war die Stille wie in Stücke
zerrissen, und ich fühlte einen Zug,
wo jede Stirn ein brennend' Wundmal trug,
hindonnern über eine dunkle Brücke.

Noch wüßt' ich keine Deutung diesem Bilde:
da fand ich an ein Feld, wo Roß an Roß
sich reihte, und des Abends Röte floß
wie Opferblut von des Gebirges Schilde.

Da starrten Männer, unterm Kinn die Kette,
den irren Blick von Fremdheit wie zerfetzt,
und einer kam, barhäuptig und gehetzt,
als warf ihn Todesgraun vom Hochzeitsbette.

Und schrie wie einer, der ertrinkt, sein »Krieg !
«
Und wie mit Waffen war der Wald bewehrt,
aus jeder Glocke fuhr ein Flammenschwert,
in Eisen lag das Herz der Welt und schwieg.


22. 09. 1914

Die kleine Stadt

Zur gleichen Stunde, auf den gleichen Wegen
wackeln die gleichen Greise sich entgegen.
Rauch steigt aus allen Essen, Lichter bleiben
zur gleichen Stunde hinter allen Scheiben.

Dieselben Bettler auf denselben Bänken,
dieselben Scherze in denselben Schänken
als wie zuvor . . . Vom alten Glockenstuhle
der alte Klang . . . Und Kinder gehn zur Schule . . .

Und auf dem Markte sitzen, wie sie saßen,
die alten Frauen . . . Und die alten Straßen
kauern umfriedet, warm bei warm, zusammen -
Nur manchmal stürzt ein Schrei vor Telegrammen.


24. 09. 1914

Abseits

Du trinkst dein Abendbier und blätterst satt
in allem Letternlug und Bildertand,
doch plötzlich greift ans Herz dir Gottes Hand
und ein Damaskus wird das Zeitungsblatt.

Denn einer, der mit dir am Tische saß,
liegt irgendwo verscharrt in fremdem Land -
O daß dein Leben allzu rasch vergaß
und eingelullt den alten Gleichmut fand!

Fühlst du, der Mund, den du einst liebtest, leidet
und Stirnen, die du haßtest, sterben schwer
zur Stunde, wo dein Witz am Nichts sich weidet!

In deinen Augen tausend Augen brechen,
du aber bleibst umhegt und kannst nicht mehr
als müßig deine Monologe sprechen!


25. 09. 1914

Die Blessierten

Mit langsam tastenden, besorgten Schritten
gehn die Blessierten in dem abgeschieden
schattigen Klostergarten, als erlitten
sie wie entfremdet diesen Abendfrieden.

In langen, grauen Mänteln, gleich Gespenstern,
humpeln sie durch die düstren Baumalleen,
bis hinter allen kleinen Zellenfenstern
wieder die milden Fieberlämpchen stehen.

Dort liegen sie wie Leichen und versuchen
zu lächeln, und sie fühlen die Grimasse,
die grausam ihr Gesicht verzerrt, und fluchen.

Und möchten schlafen und von nichts mehr wissen,
und träumen Morde, bis der herbstlich blasse
Morgen mit seinem Lorbeer kränzt die Kissen.


27. 09. 1914

Kriegsgefangene

Den Nacken gesenkt, im verschloßnen Gesicht
einen letzten Trotz und ein letztes Hoffen
und sich selbst nicht gestandenen Lebensverzicht,
gehn sie, als ständen die Tore offen,

immer dasselbe verkümmerte Stück,
zwischen Haus und Mauer, hin und zurück,
von einer ganzen feindlichen Welt
mit Gaffern und Wachen boshaft umstellt.

Und zwingen dies Totsein in Melodie,
als war es ihr Stolz, nicht hinauszutreten:
Mancher sucht eine Heimat in alten Gebeten.

Einer denkt an sein Pferd, einer macht Testament,
und fühlen doch, daß jetzt irgendwie
jede Brücke von Bruderherz zu Bruderherz brennt.


03. 10. 1914

Der fremde Leutnant

Die eine Stunde, die er stets im Freien
verweilen muß, hält er sich krampfhaft grade,
als wie daheim, im Glanz, auf der Parade -
und fühlt doch dies: nur jetzt. . . nur jetzt nicht schreien.

Und weiß: die Freunde möchten ohne Gnade
ihre Verachtung ihm ins Antlitz speien,
und noch der Feinde lächelndes Verzeihen
schmeckt wie ein trübes Trösten, flau und fade.

Und immer schnürt ihn dieses Bildes Kette:
ein Feld in Sonne . . . weit. Die Vögel singen.
Sie reiten hell. Er dreht die Zigarette.

Da stürzt ein Donner, daß die Schollen schweben.
Ihn faßt ein Wirbel. Seine Leute ringen.
Er aber kniet und stammelt: »Leben! Leben!«


12. 10. 1914

Freiwillige Gymnasiasten

Es riß sie blitzhaft aus den Schundromanen,
von Indianerbraut und Lagerfeuer--
So nah war jetzt erträumtes Abenteuer
und über jeder Straße wehten Fahnen.

O ihr verhaßten Lehrer und all euer
in Zahlen Eingezäuntes! O mein Ahnen!
Griechen und Perser! Römer und Germanen!
O Nebenmann, du Kampfgenoß, du treuer!

Hinauszutreten aus des Schulstaubzwingers
Eintönigkeit und gleichen Wert zu haben!
Und jede Keckheit schmückt sich mit dem Kranze!

Sie jubeln hin. Stumm wächst aus seiner Schanze
ein Riese in die Nacht und löscht die Knaben
mit einem müden Winke seines Fingers.


15. 10. 1914

Ein Abschied
(für Fritz Grieger)

Und wir gingen eine kleine Weile
Hand in Hand erst, als der Abend kam,
keiner sprach zum anderen: »Verweile
noch ein wenig!«, als er Abschied nahm.

Doch ich hörte, wie sich schwer dein Schreiten
abseits in die Nacht verlor, und bog
in des Hofes leere Helligkeiten
einem Vogel gleich, der sich verflog.

Lange stand ich noch in eine steile
Geste eingeschlossen voller Scham.
Lebst du noch? Wir gingen eine Weile
Hand in Hand erst, als der Abend kam.


07. 11. 1914

Die Witwen

Ach, wir streifen ruhlos durch die Straßen
wie noch nicht gewöhnt an soviel Weh -
Spotteten die Spiegel im Cafe,
wo wir einst in sichrer Schönheit saßen?

Jetzt - an jedem Tage überwehen
Trommelwirbel schwarz ein offnes Grab,
eine Fahne tropft wie Blut hinab,
Salven sprühn wie Spatzen durch die Schlehen.

Immer kommen eines letzten Briefes
Lustigkeiten schmerzhaft in den Sinn.
Gaben wir uns einem Fremden hin
und verspielten uns an Tödlich-Tiefes?

Wieviel Zärtlichkeiten uns verdarben,
die ein krummes Nichts verkrüppeln ließ!
Ob, wer alles hielt, was er verhieß,
mehr behält als dieses Herz voll Narben?

Hab' ich mir - und andern - abzubitten
oder färbt der Frühling alles bunt? -
Küssen werd ich einen jungen Mund
und nicht glauben, daß ichs längst erlitten!


19. 11. 1914

Melancholie

Tief deckt der Schnee:
Grab liegt an Grab, wie Tag um Tag verrann . . .
Wer weiß, ob je
uns noch einmal ein Frühling werden kann!

Wie wundersam
der Wein im Kelche deiner Kehle klang! -
Doch so viel Gram,
ein Tiger, in die Blumen unsres Garten sprang!

Und war es doch,
daß mich dein Blut mit Rosen überspann . . .
Wer weiß, ob noch
uns jemals wieder Frühling werden kann!


27. 11. 1914

Der Familienskandal

Aus einem Wulst von lauter Barchent bellt's,
»Das Weibsbild, sag' ich Ihnen, trägt 'nen Pelz!
Sie schämt sich nicht: wir leben täglich kärger! - -
Der Vater Stadtrat rülpst vor lauter Ärger.

»Mein einzger Sohn, sie hat ihn wie behext!«
Klack: hat er sich den Schlips mit was beklext.
»Der Junge zittert unter ihrer Fuchtel!«
Auf Mutters Fetthaar schlottert die Kaschuchtel.

»Die ganze Stadt ist voll davon: die Schmach! - -
Sie jappt: »Ich hatte eine Braut bereit.«
Er seufzt entsetzt der Abstandssumme nach.

»Der Bürgermeister hat mich angelappt,
es wäre ein Skandal -«. »Papa, dein Kleid - - !
»Pardon!« Der Hosenschlitz wird zugepappt.


11. 12. 1914

Meinem Vater zum sechzigsten Geburtstage

Ich schied und kam: du bücktest dich auf Zahlen,
und jede war ein Zärtlichsein und mehr.
Sogar die Ohnmacht der Enttäuschungsqualen
ließ deine Lippen nie von Liebe leer! -
Ich irrte fern durch allerlei Getöse:
Wenn ich auch schwieg, von dir kam stets ein Gruß
Da fühlte ich, es findet Gut und Böse
in deinem Herzen Amen und Beschluß!

Mit wunden Füßen eilt' ich auf den Wegen
der Fremde einer neuen Hoffnung nach -
noch immer sah ich leuchtend deinen Segen
sich wölben über meiner Bettlerschmach.
Noch wenn ich, Jäger hinter andrem Glücke,
als du mir wünschtest, auf der Lauer lag,
Breitete deine Treue eine Brücke
von deinem Tag zu meinem Werkeltag.

Das Erbe, das mir deine Hände bringen:
Der Letzte sein zerbrochner Bauernschaft,
(von Männern, welche plötzlich abseits gingen,
von Fraun, die Reichtum ohne Sinn erschlafft)
hat tiefer mich zu meinem Werk verpflichtet:
Die Wiese meines Wortes, Duft und Glanz!
Herbst reift in Trauben, was mein Frühling dichtet,
und deinen Winter schmückt mein Erntekranz!

- Ich schied und kam: und immer war dein Leben
so köstlich, weil es nichts als Mühsal war,
und ein Dein-Blut-für-meine-Wünsche-geben!
Die Blätter fielen, und es blich dein Haar;
und manche Hoffnung schlummert unterm Hügel,
und manche Sehnsucht ließ der Wind verwehn -
Doch deine Hände falten ihre Flügel
des Friedens über meinem Wohlergehn.

Und Jahre fallen wie die Sensenhiebe
auch meiner Fahrt ins farbige Gefild,
und Freiheit stirbt und Jugend. Nur die Liebe
blüht sommerlich und golden um dein Bild!
Da darf ich dir trotz allem Garben binden
aus Versen, die dein Atemzug beschwingt:
Daß tausendmal noch in den grünen Linden
dir Vögel sängen und die Sonne singt!


 

 

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