Gedichte 1916

Gedichte

1916

Alle Zeitangaben zu den Gedichten geben das Datum an, dem der Text zugeordnet werden konnte.
Bezug hierzu sind die Angaben aus der Sammlung der 1987 von Klaus Völker herausgegebenen Gedichte.


Inhalt

Die Nacht der Flucht entlarvt ein ganzes Leben

Gottes Bote meidet meinen Herd

Dein Herzschlag hat nicht einen Widerhall

Wandrer, den wir jeden Tag erwarten

Wir bleiben vereint unterm Dach der Gedanken

Behalt mich lieb!

Warnung!

Die Hymne: Dein Herz

Nichts gleicht dem Irrwahn meiner Tage

Bald werd ich bei dir sein . . .

Wir sind j a nur des Tales bange Kinder

Vernichtung

Dem Bruder Attentäter

Der Abtrünnige

 

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23. oder 24. 01. 1916

Die Nacht der Flucht entlarvt ein ganzes Leben

Das Tor ins Freie kreischt aus bösen Angeln,
daß der erwacht, der schon umschlungen schlief
nun wird ihm Schlummer bis zum Morgen mangeln,
nun ist er neben dem, der uns entlief.

Der ihm entlief und mir entlief und aller
Hemmung der Heimat und des Hauses Halt,
der als ein wegeloser Wüstenwaller
im Trotz der Unrast an die Mauern prallt.

Und Mütter, die noch einmal bräutlich brannten
und wieder in der Träume Wollustbad
wie Jungfraun stiegen unter feuchtem Fittich,

erkennen sich und bleiben Haß. Verbannten
Gedanken öffnet sich ein grader Pfad.
Dichter und Dirnen sind voll Eifer sittig.


28. 01. 1916

Gottes Bote meidet meinen Herd

Der Bote Gottes bringt den brüderlichen
Entsühnungskuß wie einen Kelch aus Eden:
und Reinheit rankt sich um die lüderlichen,
wider die eigne Scham verlognen Reden.

Er hat ein Lied aus Silber, das im weißen
Wallen des Monds jungfräulich Witwen weidet;
Mord muß zur Hölle, bis für seine heißen
Haßfluten Gottes Bote liebend leidet.

Er gibt mir wieder, was ich schon vergaß:
die Bilder, die ich gestern wunschlos fühlte,
Abgrund der Gegnerschaft und der Vernichtung Haß.

Bald werd' ich schlagen. Zuchtlos aus der Zeit,
die mir nicht Kummer noch Ekstase kühlte,
verstoßen. Gottes Bote weht vorüber - weit mir - weit.


11. 02. 1916

Dein Herzschlag hat nicht einen Widerhall

Was les ich Bücher, der ich alles dies schon weiß:
Wie man Kind ist, enttäuschter Jüngling, Gatte, Witwer,
          Greis .. .
Wie da und dort ein Buchstab' fehlt im Alphabet
für einen Laut, der aus gequälter Kehle weht!

Daß Bilder bleichen . . . daß in Krügen Trug
im Brot Verzweiflung wachsen kann . . . daß wie ein Zug
kaum angeschauter Vögel die Gedanken sich nicht fassen
und die Verlockungen sich erst nach deinem Höllensturz
          erlösen lassen!

Und überall die Feinde warten, daß du fällst;
und überall aus Nichts dir Schmähung spült
vom Schild den letzten Schmuck vor Gott!

Im Kot der Gasse deines Dorfes wälzt
der Einzige, der deinen Herzschlag fühlt,
sich vor dem Pöbel als ein Schenken-Spott.


März 1916

Wandrer, den wir jeden Tag erwarten
(Für den lieben Ernst Korth)

Wir gehen oft, den Wandrer zu erwarten,
der unser Heimweh herzlich heilen soll,
die blühende Chaussee hinauf zum Zoll,
oder zur Linde in dem Bahnhofsgarten.

Wo Züge zögern . . . abenteuervoll. . .
und wehn schon weiter, und uns Sich-Genarrten
wird aus der Lockung bunter Länderkarten
ein hoffnungsloses Klagelied in Moll.

Wir kehren ohne Trost in die Arkaden
des Marktes, der uns wie ein Überdruß
von Jugendzeit vertraut; wir sind verletzt.

Und werden uns zur eignen Mahlzeit laden
wie Gäste unsres Wandrers, daß er jetzt
an unsern Einsamkeiten leiden muß.


März 1916

Wir bleiben vereint unterm Dach der Gedanken
(Für Leni, Pfingsten 1916)

Warum, durch innigen Liebeszwang vermählt,
verwunden wir uns doch bis zur Verzweiflung oft;
warum wird jener Himmel, den sich Herz von Herz erhofft,
zur Zwietracht, wo der Leidende durch Leiden quält?

Da mich die Welt in Todesängste treibt,
wehr' ich mich jäh, und meine Waffe trifft -
          dein Angesicht!
Einsamster Schrei in Reue: »Wenn dich meine Wut
          zerbricht,
weiß ich nichts, was mir noch vom Leben bleibt!«

Verschwistert sind im Innersten die Ranken
untrennbar ineinander, und es wohnt
das gleiche Wort uns schöpferisch im Blute.

Ewig vereint das Dach uns der Gedanken,
mit Liebeslust wird Liebesnot belohnt,
und das Vermorschte loht zu jungem Mute.


03. 07. 1916

Behalt mich lieb!

Was sühnt aller Selbstanklagen
zermürbtes: Vergib! -
Will dir nur eins immer sagen:
Behalt mich lieb!
Wenn dich der Berge Erbarmung
entrückt in Lauben von Licht,
ach, in des Glückes Umarmung
vergiß mich nicht!
Wenn deines Abends Frieden
die Mutter zärtlicher macht,
sei mir das eine beschieden:
im Wind zu sein, der euch bewacht,
unsichtbar um euch zu singen
in des Waldes Geraun,
aus den spiegelnden Dingen
stumm eure Augen zu schaun!
Aus dem Rollen der Wagen,
aus dem Lied, das dir blieb
leis im Blut, will ich dir sagen
eins nur: Behalte mich lieb!


03. 07. 1916

Warnung!

Du hast mich bei den Menschen jetzt gelassen,
die mich nicht lieben, die mich zügeln möchten
zu dem und jenem Ziele: sie verflöchten
mich allzu gern ins Triebwerk ihrer Kassen.

Und bögen mich zum Allgefällig-Leichten,
das ihrer Eitelkeit leibeigen diene,
daß sie mit dünkelhafter Gönnermiene
als ihr Erzeugnis rings zum Beifall reichten.

Sie sollten lernen, meiner zu entraten
und sich an willigeren Stoff zu wenden,
der biegsam die ersehnten Bilder bietet!

Eh es zu spät ist; eh mein Zorn zu Taten
aufprallt! Denn lieber will ich mich verschwenden,
als daß man mich um Sündenlohn vermietet.


Mitte Juli 1916

Die Hymne: Dein Herz

Ich lag am Strande eines tanzenden Meeres
von Mohn, das seine roten Muscheln mir
trunken von der Musik des Sommersturms
über die Schultern schüttete. Der Nachen
der Sonne ließ sich tausendfach zerschellen
auf seiner Flut und warf sich tausendfach
zurück in seinen Hafen: in dein Herz! -
Ich sah ... ich sah dich lachen
auf dem Balkon des fernen Auslugturms
und sah den tausendfachen Zug des Heeres
von weißen Schilden schimmernd hin zu dir,
zu deines Haares duftbedachten Wellen,
die leuchtend durch des Turmes Luken rannen,
ein Sommerbach!
Der diesem großen Heer von zagen
und stolzen Stirnen mit keiner Furt mehr frommt. . .
ich lag . .. und ließ mich so von deinem Lachen tragen
bis zu dem Quell aus Diamant, von dannen
der Ozean der goldenen Monde kommt:
          in dein Herz.


20. - 25. 07. 1916

Nichts gleicht dem Irrwahn meiner Tage

Mein Weg ist dorniger als jeder
der euren, die zum Lorbeer leiten:
Er hat kein Ziel und landet weder
am Wasser, wo des Mondschwans Gleiten
Musik ist über Sternenkieseln,
noch rinnt er in das grüne Rieseln
flimmernder Büsche vor den Spiegeln
von weißen Schlössern, wo verborgen
in einem Netz aus Nacht und Morgen
sich Witwen vor der Welt verriegeln.
Denn meine Mühsal ist ganz ohne
den fahlsten Schatten einer Frucht,
sie weiß von keiner späten Krone,
von keinem Rasten nach der Flucht,
sie bleibt in unerfülltem Irren,
bis ihre Haare sich verwirren
im Astwerk jenes ewig gleichen
mächtigen Waldes, wo die letzten
sinnlos und grundlos totgehetzten
Gedanken ewig unnütz bleichen.


26. 07. 1916

Bald werd ich bei dir sein

Bald werd ich bei dir sein . . .
über ein Kleines
ist meine Sehnsucht ein
Lächeln beim Lampenschein . . .

über ein Kleines
weiß ich, wenn Wandrer gehn,
daß ihnen Wiedersehn
zärtlich beschieden . . .

dort: in der Schmiede
springt aus dem Feuerschein
Purpur wie Willkommenwein -

bald werd ich bei dir sein!

über ein Kleines . . .


August 1916

Wir sind ja nur des Tales bange Kinder

Daß wir uns bargen in das Abgetan,
ins Äußerste der hüttenlosen Hügel
uns flüchteten — was half es? Unserm Wahn
und Weh entrönnen nicht der Morgenröte Flügel.

Und unter uns, umhütet, eingeschmiegt
den abendlichen Falten sanfter Hänge,
die schlichte Sanftmut ihrer Hütten liegt,
die wir verachteten, töricht von Träumen wir!
          - Daß uns gelänge

noch einmal klein wie ihrer Herzlichkeit
geringes Glück und ihrer Gärtchen Güte
zu werden und bei ihren schmalen Lämpchen Gast!

Gewiß in Gottes Hand wie erste Blüte
und erster Schnee, abhold dem dumpfen Streit
gehässiger Nerven und in sonnenlosem Winterschlummer
          ewig fast.


13. & 14. 10. 1916

Vernichtung

Fielen deine Tränen
in mein Angesicht
wie den sterbenden Schwänen

sterbendes Mondeslicht
in das entfärbte Gefieder,
drin der Morgen schon bleicht -
keines meiner Lieder
hat deine Liebe erreicht,
keine meiner Taten
war deiner Träume wert,
von mir selber verraten
stürz' ich ins eigene Schwert,
von mir selber gerichtet
laß ich fallen in Nacht
- sei es für immer vernichtet! -
was ein andrer gedichtet
und überschwenglich gedacht,
der meine Stimme flüstert,
so ein Dolch ihn bedroht,
und dem ich demnach verschwistert
bleibe bis in den Tod.


22. 10. 1916

Dem Bruder Attentäter

Der du kommst von einem kahlen Wege,
Kämpfer warst und wüst und ohne Ruh,
Bruder, dem ich an die Brust mich lege,
weil dein Leiden größer ist als du,
weil in deinen mitleidslosen Taten
alles Böse, das mir Sehnsucht bleibt,
lieber selbst sich richtet, als verraten
von den eignen Träumen Gott vertreibt!

Aber nun du alles ausgestanden
und den letzten Trost zertrümmert hast,
segne, die in deinem Haß sich fanden,
bleibe unsers Henkersmahles Gast,
bis wir alle ohne jede Lüge
deinem wundersamen Herzen nah,
daß sich deine Furcht in unsre füge,
gehn mit dir empor gen Golgatha.


11. oder 12. 1916

Der Abtrünnige

Des Gerechten Rede ist zerrissen,
und der Gütige im Geiste fiel
in Verführung, daß er sein Gewissen
tanzen ließ nach Satans Saitenspiel.

Er verbirgt sich vor dem Ebenbilde,
das in Gottes Augen spiegeln kann,
hinter des Versuchers trübem Schilde
und verleugnet, was er gut begann.

Und der neue Herr schmückt ihn mit schönen
Sternen, die er Liebes-Himmeln stahl,
und mit blinden Völkern ohne Zahl.

Doch von Gottes treugebliebnen Söhnen
durch sein lügenhaftes Lichtgewand
wird die Nacht in seiner Brust erkannt.


 

 

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