Gedichte 1917

Gedichte

1917

Alle Zeitangaben zu den Gedichten geben das Datum an, dem der Text zugeordnet werden konnte.
Bezug hierzu sind die Angaben aus der Sammlung der 1987 von Klaus Völker herausgegebenen Gedichte.


Inhalt

O mythische Melancholie

Verkündigung aus Höllensturz

Jeder jagt nach seiner Feigheit Haus

Trostloses Ostern

Meinem Wege hoffnungslos entwendet

Eine taube Mühsal zehrt an meinen Stunden

Junge Akrobaten übertrumpfen den Tod

Mein Leben wird in deiner Liebe münden

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04. 01. 1917

O mythische Melancholie

Du sollst mich führen, wenn ich furchtsam werde,
ich suchte Einsamkeit, doch diese nicht,
die ohne jede tröstende Gebärde
mich in die Folter fremden Fronens flicht.

Du sollst mich halten, wenn ich mich verliere,
dorthin verliere, wo Verdammen droht - -
und halte fern die Furcht geträumter Tiere,
sehend Gefesselter im Flammentod.

So wahnverworfen wie in diesen Tagen,
die Gott ermorden, war die Welt noch nie,
du sollst mich schützen: Zuflucht sei dem Zagen
dein Zelt, o mythische Melancholie!


23. 03. 1917

Verkündigung aus Höllensturz

Und mit der Mutter, die dem rohen Morgen,
dem Würgenden der Werkelnot entfloh,
war ich im dunklen Bug der Flut geborgen
und deinen Ufern, welche lichterloh
mit Fackeln jagten nach dem späten Frieden
des gnadenhaften Abends unsrer Glut
kaum noch in Strudeln sichtbar, abgeschieden
von jeder Ewigkeit!
                         Da schlug dein Blut
sich opfernd unverbrüchlich eine Brücke
aus deiner Einsamkeit, die ich dir schuf,
zu meiner Schuld: und tränenreiche Tücke
ward so gering vor dir wie Eulenruf
vor sommerlich geöffneten Terrassen,
wo jeder Schatten Ohnmacht wird am Lied
weinfarbner Lauten und in lila Gassen
der Schrei der Selbstzerfleischung fruchtlos flieht.

Und noch einmal dem schmerzzersprengten Schoße
der Mutter ohne Wiederkehr erlöst,
an deinen Blick gebunden, als der große
Erstandene, den Stolz nicht mehr verstößt,
bin ich für alle Liebe: Sohn der neuen
Verkündigung, die keinem Zorn verzagt
sich preisgibt, keinem spielenden Bereuen
zum Rächer wird.
                         Und jenes Ostern tagt,
da ich der Mutter einsames Zerbrechen
zum Vater bringe, unverweslich nah, -
und wir sind eins in Ewigkeit und sprechen
heilig den Sinn von allem, was geschah.


02. 04. 1917

Jeder jagt nach seiner Feigheit Haus

Jeder jagt nach seiner Feigheit Haus
ausgehöhlt von mutterloser Nacht,
hungernd nach Entäußerung, die Zuflucht macht
aus den Feinden seines heiligen Weltenbaus.

Irgendwo erlag der Sieger schon
der Verleitung zur Erniederung
und verträumte seiner Tatkraft Tigersprung,
wurde Bruder, Herzverräter, Buhler, Sohn.

Durch den Wolkeneisgang kahler Nacht
treibt sein Obdach ohne Licht und Wand.
Machtlos fällt aus seiner Hand
jede Waffe zur Entscheidungsschlacht.


13. 04. 1917

Trostloses Ostern

So kommt Ostern heute,
daß kein Auferstehen frommt,
dem Tod wird leichte Beute
dein Herzblut, dem kein Ostern kommt.

Trugen auch mich die Fluten
zum Wehre, das leer und verfehmt
Scheeles lästert, und bluten
Ketten, deren meine Kehle sich schämt?

Ostern borgt sich Ohnmacht aus den letzten
Unabhängigkeiten meiner Angst,
die mich in entseelte Freuden hetzten,
aus denen du zu keinem Lied gelangst.


Pfingsten 1917

Meinem Wege hoffnungslos entwendet

Wie habt ihr fein mich meinem Weg entwendet
und planvoll um mein Eigenstes gebracht -
Einst hab ich mich an jeden Duft verschwendet
und jede Mühsal stand in meiner Macht!

O schöne Schwermut, keinem sonst verpflichtet,
und noch der harte Kummer ganz mein Teil,
und jede Demut nur von mir gedichtet,
und jede Wunde von dem eignen Pfeil!

Jetzt habt ihr mich umhegt mit fremder Sippe,
mit einer Fron belastet, die mich zwingt,
Glück zu verleugnen, und auf meine Lippe
den Fluch des ewigen Verstummens bringt.

Was mich bestätigt hätte, aus der Tiefe
der Sehnsucht aufzubaun, ist mir verwehrt,
und jener Tod, zu dem ich gern entschliefe,
in ein Erwürgtsein vor der Zeit verkehrt.

Wie habt ihr mich dem eignen Blut verleidet,
in Haß - der nicht aus meiner Seele kam -
als wie in falschen Panzerzwang gekleidet,
daß ich der Güte Lied nicht mehr vernahm.

Daß ich in Wut der Notwehr ganz erblindet
erstickte, was mit Liebe noch mich hielt,
und was ein Mensch das eine Mal nur findet,
abtat wie Judas, der sein Herz verspielt.

Der Garten, der in Immergrün erlaubte,
die Reise abzuwarten, ist versperrt,
weil ich der eignen Ruhe mich beraubte,
ward mir mein Werk ins Widerspiel verzerrt.

O große Ruhe, die so gern ich riefe
zum letzten Heilandhafen auf der Flucht! - - -
Und jener Tod, zu dem ich gern entschliefe,
ist nun Erwürgtsein ohne Stern und Frucht!


07. 08. 1917

Eine taube Mühsal zehrt an meinen Stunden

Alles liegt entzaubert, seit du mich verließest,
ach, verblichen weicht der Landschaft zarter Blick:
was ich hoffte, glaubte, was du mir verhießest,
ward verschüttet durch ein schonungsloses Paria-Geschick.

Wie verraten ragen die entseelten Kissen
in ein Morgenlicht, das dich verlangt;
Liebesworte zagen; trübe im Gewissen
schatten Schuldgefühle, denen vor dem Richterspruch
          einsamer Nächte bangt.

Eine taube Mühsal zehrt an meinen Stunden,
noch die schlichteste Liebkosung ist versklavt
          dem lahmen Trott,
und der Glaube Mühsal, und nie mehr gefunden
Gnade vor den Menschen und vor Gott.


09. 08. 1917

Junge Akrobaten übertrumpfen den Tod
(Den vier Geschwistern Schenk, Akrobatenfamilie,
»Apollotheater« Berlin, Aug. 1917)


Sie wissen zu spielen: irre Kindlichkeit springt
um den Popanz Tod mit kichernden Possen,
daß er, entwaffnet, nicht strafen kann und umflossen
von lauter Leichtsinn sich trunken zum Opfer bringt.

Seine dunkle Schwere schämt sich vor ihrem Geflacker:
er macht sich leicht und schenkt seinen wildesten Sprung
ihren jungen weißblühenden Leibern und wird selber jung
und flammt zersprühenden Flieder aus winterlich
          glosendem Acker.

Da überfalln sie die Zweige mit huschendem Spuk,
der ihren Übermut österlich stachelt mit Ruten,
dran sich blindselig die frühen Ekstasen verbluten,
ehe noch Reife in karge Gebundenheit schlug.


Silvester 1917

Mein Leben wird in deiner Liebe münden

Nun sind wir vor des neuen Jahres schwarzem Wall
hilflos allein gelassen. Tut kein Tor sich auf?
Führt uns kein Stern zu Bethlehems verklärtem Stall?
Wo landet dieses zweifelhaften Flusses Litaneienlauf?

Geht jemals auf entrückten Gipfeln Geist
vom Geiste grenzenloser Ewigkeit mit mir?
Bleibt Frühling hoffnungsleer und Winter traumverwaist
und Tag und Nacht brüllt der vergessene Opferstier?

Doch wem ein Gott ein ganzes Glück vergönnte
- und sei's nach tausend Jahren Jammers -, diesem ließ
in dir sein Evangelium er verkünden.

Wo anders als in deiner Liebe könnte
mein Leben landen! Und im Paradies
der Unverwelklichkeit mit deiner Liebe münden!


 

 

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