Gedichte 1919

Gedichte

1919

Alle Zeitangaben zu den Gedichten geben das Datum an, dem der Text zugeordnet werden konnte.
Bezug hierzu sind die Angaben aus der Sammlung der 1987 von Klaus Völker herausgegebenen Gedichte.


Inhalt

Vernichtung

Die Animierbaracke

Gefährtin der Gefangenschaft (1-7)

Nähe des Gerichts

Schattenhafte Lockung

Die Toten suchen dich auf

Fahrt ins Sterben

Verse des Tanzes

Verschwistert in Unheil und Segen

Sündenbekenntnis

Couplet desillusionné

Scham der Schauspielerei

Verbot

Alte Burschenherrlichkeit

Wenn wir uns in den Tod betrübten

Warum zürnst du?

 

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15. 02. 1919

Vernichtung

Mich schützt die Welt nicht mehr. Weihe ward Wahn.
Kein Glück ist jetzt mehr möglich, kein Vergeben.
Die Not will Aug' um Auge, Zahn um Zahn.
Die Sintflut steigt. Es geht um Tod und Leben.

Nichts beugt sich mehr in mir vor Stern und Mond.
Ich sehe mit dem bösen Blick der Armen:
die Liebe als Verrat, den Gott entthront,
den Heiland ohne Bitte und Erbarmen.

Jetzt segne ich die Rache und den Neid.
Er will, daß wer sich ihm entzieht, zerbreche.
Das Herz nur schenkend meinem eignen Leid,
lern' ich mich weiden an des Bruders Schwäche.

Denn Bruder: das ist Feind, und tödlich Feind,
wer mir mit Güte meine Wut entwindet.
Erst wenn der große Höllensturz uns eint,
glaub' ich, daß meine Seele Frieden findet.


28. 02. 1919

Die Animierbaracke
(für George Grosz)

Katakombenmaukig mufft
mies die Animierbaracke,
des Büffettes Blatternschuft
schielt aus der Sergeantenjacke.
Invalide durch den Dunst
ächzt die blecherne Kapelle.
Um betrunkner Schatten Gunst
ringt ein Kellneringestelle.
Stammgelichter feilscht am Schank
zweifelhaft bei düstren Bieren.
Schreckenskammeraugen krank
aus verrutschter Schminke stieren.
Hölzern klappern im Korsett
bunte Busenbillardküglein.
Zynisch fingert ein Skelett
auf der Bäuche Kindsgrabhüglein,
macht mit sanftem Folterkram
lasterhafte Tödlichkeiten,
daß der Toilette lahm
seine Töchterchen entschreiten.


beendet 02. 10. 1919

Gefährtin der Gefangenschaft

    1

Die roten Blätter, die wie Herzen schlagen,
sind deiner Sehnsucht singende Geschwister
und hüpfen zärtlich über meinen Weg.

Du hebst die Hand und legst um alle Dinge
Weihrauch und Gold. Und alle Glocken glühn.

Die kargen Lieder am Kartoffelfeuer
liebst du und wirfst sie in den Abendwind.
Und meiner Stube Stimmung machst du tiefer
und meine Lampe süß wie jungen Mond,
der sich in deines Haares Fluten hold
und wundersam versann . . .
Daß deine Augen immer bei mir blieben!



    2

Mein Blut entblättert sich -
so stürmt mein Sehnen!

Aus Fenstern und Straßenfurchen fielen die
          letzten Lichter!
Wo schläft dein Herz?
Meine Blicke möchten dir soviel abbitten, meine
Hände möchten an deinem Herzen sein.
Alle meine Wege träumen sich weit, weit in
          deine Augen . . .
ich wandre mir die Füße wund nach dir:

Wo schläft dein Herz?



    3

Wie du sänftigst meiner Seele Stürme,
läßt den Abgrund meiner Nerven blühn,
führst mein Dunkles auf die Morgentürme,
wo die Wälder weit zu Gott verglühn,

wie du meine schwersten Wochen leidest
und dich opferst für mein Auferstehn,
dich von allem, was dich schön macht, scheidest,
Wenn es meine Augen nicht mehr sehn;

wie du weiß in Abendwiesen schimmerst,
daß mein Herzweh keinen Stachel hat,
wie du all dein Glück für mich zertrümmerst:

solche Liebe wird in den Legenden
einer zukunftshohen Sternenstadt
ihres Gottes Testament vollenden.



    4

Daß du mich liebst, hat dir nur Leid gebracht:
nun liegt dein Leben hoffnungslos entlaubt
im leeren Angstplan einer bösen Nacht,
verloren büßend, weil es an mich glaubt.

Weil es mir durch Zertrümmerung und Not
das Sternenantlitz neigt, das Stürme stillt -
Vernichtung reißt der Flammenfahne Rot
auf jedes bethlemitische Gefild.

Du aber gabst für jede Stunde Furcht,
die ich dir schuf, mir tausendfältig Frieden
zurück und bringst dein Herz als Opfer dar.

Und deine Stirn, von meinem Gram zerfurcht,
hat einen weihnachtlichen Christaltar
mir doch zuletzt als Obdach stets beschieden.



    5

Lockt mich auch des Lebens Abenteuer,
fremder Frauen Duft und Rätselblick,
sehnt mein Dichterwahn sich auch nach neuer
fabelhaft vielfältiger Musik,

will ich oft der eignen Pflicht entfliehen,
jeder Form, die mich eindeutig bannt,
und im Sturm von Zaubermelodien
- nicht zu fangen - wehn von Land zu Land,

immer neu geboren, neu geborgen,
daß sich Blüte neu aus Blüte treibt,
lockt mich auch ein immer neuer Morgen:

Alles Chaos endet doch in deinen
Zärtlichkeiten, und Erfüllung bleibt
unsrer Herzen großes Sichvereinen.



    6

Ich vertraue dem Wunder (das nie geschieht?),
ich vertraue dem Traum (der jeden noch trog?),
fehlt deiner Seele der Glaube, der Wunder sieht,
war das dein Zagen, das meinem Traum sich entzog?

Ich vertraue dem Wunder - ob es geschieht? -
Dich zu finden im Haus unsrer Liebe? . . . Du gingst!
Ist es dein Zagen, das meinem Traum sich entzieht?
Ach daß du stark wie Maria den Engel empfingst!

Ich vertraue dem Wunder . . . Das Haus unsrer Liebe
liegt verlassen, und mich erwartet kein Trost,
der aus zärtlichen Augen das Leben erhellt?

Ich vertraue dem Wunder, dem Wunder der Liebe!
Und du kehrst mir zurück, und daß du entflohst,
bleibt nur ein böser Traum . . . Und wir segnen die Welt.



    7

Was war' mein Weg in einer Welt,
die nichts von deinen Wundern wüßte? -
Oft wenn mich feig ein Zorn anfällt,
den ich mit Weinen büßen müßte,

dein Herz - o schweig! - mich lieb behält,
und jedem greinenden Gelüste,
das zweifelhaft wie Wind mich treibt,
dein Blut in Treuen willig bleibt.

Wo wäre Licht an einem Tag,
der nichts von deinen Augen sähe? -
Wenn mein Verzicht dem Leid erlag
und tilgte mich aus deiner Nähe
und Selbstgericht mit schroffem Schlag
traf deine Schläfen und die jähe
Zerrüttung schrie, verwarf mich nie
die Nachsicht deiner Melodie.

Wie überstand ich eine Nacht,
die nicht von deiner Güte träumte? -
Oft wenn mich eine Übermacht
von Visionen rot umbäumte
und jenes Spiel, da sacht und sacht
mein Herz in deines sinkt, versäumte,
vergaß dein Lieben Tag und Traum
und hob verschwistert uns empor
in der Gestirne großen Chor
untrennbar, über Zeit und Raum
in Ewigkeit,
in Ewigkeit,
in Ewigkeit!


21. 04. 1919

Nähe des Gerichts

Ich weiß, wie nah der Tag ist, der mich richtet,
und welches letzte Urteil meiner harrt;
was jetzt mein Stolz sich lügenhaft noch dichtet,
ist dann an meines Kreuzes Fuß verscharrt.

Mit Bangen werf ich jeden Morgen wieder
mich hin, ob er in seinem Netz mich fängt,
mit Bangen sink' ich in die Nächte nieder,
was wohl ihr Dunkel über mich verhängt.

Und jeder Schritt von jedem meiner Tage
fühlt sich dem Schrecklichen entgegengehn:
Ich weiß, wie ich mich selbst zu Grabe trage.

Und dieser Unentrinnbarkeiten Bann
läßt jeder Lust mich noch beiseite stehn,
weil sie das Gift des Urteils bergen kann.


14. 05. 1919

Schattenhafte Lockung

Flüchtige Neigung mag mich verwirren, wie Harfen
schattenschneller Verlockung Lied mich verwehn,
wenn im herzlosen Taumel leichtlebiger Larven
meine belasteten Träume wie Blinde stehn.

Oder wenn vor dem flimmernden Dirnchen der Bühne
Sehnsucht der Kindheit nach williger Schwester erblüht,
daß dem Mutlosen noch die verspätete, kühne
Schattenliebkosung gelingt, die doch fiebernd verglüht.

Die im Entstehn schon zerstäubte, eh sie noch Rede
spielerisch wurde, und hindert sich selber als Feind -
Inniger schmiegt sich mein Herz in das deine, durch jede
imaginäre Versuchung dir mehr nur vereint.


29. 06. 1919

Die Toten suchen dich auf

Die abendliche Hand an schwankender
verhüllter Tür ins Dunkel sinkt;
des Leuchters seltsam wankender
Gespensterschatten webt und winkt...

Aus schwarzen Falten tritt Vergangnes
und blutend lehnt es sich und kalt
an deine Schulter: ein gefangnes
schweigendes Tier, und schwindet bald.

Und fernher weint ein Fremdes kläglich;
der Uhr herzloses Zählen höhnt.
Die Toten suchen dich, unsäglich
verlassen, und die Stille stöhnt.

Die geisterhafte Hand an schwankender
verhüllter Tür ins Leere sinkt.
Des Wahnsinns seltsam wankender
Gespensterschatten winkt. . . und winkt. . .


08. 07. 1919

Fahrt ins Sterben

Mir ist, als führ' ich in mein Sterben,
als wäre dies die letzte Fahrt;
als sei unheimliches Verderben
an ihrem Ziel für mich verwahrt.

Ob an der Feindschaft der Gesichter
das oft enttäuschte Herz mir bricht,
ob endlich dort der fremde Richter
mir mitleidslos das Urteil spricht;

ob Abende, die jäh erdrosselt
verstummen müssen, ob der Haß
der kahlen Wände mich erdrosselt
in meinem einsamen Gelaß:

Es ist unheimliches Verderben
an ihren Wegen mir verwahrt,
denn in das heimatlose Sterben
führt diese bange Unheilsfahrt.


18. 08. 1919

Verse des Tanzes

Dies hurtige Seimen, wie Falter zu schweben,
dich flackernd dem Winde der Rhythmen zu geben,
zu schaukeln im gaukelnden Abenteuer,
zu sprühen im Glühen hintaumelnder Feuer,
auf Sternliederwiesen als Schlänglein zu gleiten,
im Züngeln unendlicher Zärtlichkeiten,
an alles dich schenken, an alles dich schmiegen,
jetzt lächelnd entschlüpfen und hoch überfliegen
die haschenden Hände, jetzt tiefer dich senken,
im Husch dich anschmiegen, im Husch dich verschenken:
Wie läßt es dich blühen!

                                        Wie mußt du ermatten,
verbannt es dich in die Erstarrung der Schatten!
Dein Leben muß leicht sein, mich leicht zu beglücken,
die Dornen vom Kranz meiner Stirn mir zu pflücken,
und eh ich's noch spüre, mich leicht zu befreien,
und was mich verführe, im Tanz zu verzeihen,
im Wirbel deiner Entrücktheit den ganzen
Ballast meiner Schwermut ins Blaue zu tanzen,
meine Träume auf deinen Flügeln zu tragen,
mit einer Flamme zum Himmel schlagen!


18. 08. 1919

Verschwistert in Unheil und Segen

Wir in verlassnem Abend obdachlos,
geängstet von Unheimlichem, verloren
wie Kinder, die ein jäher Schicksalsstoß
entriß der lieben Bucht, die sie geboren
und sanft geborgen hat; verwunschnem Tal
unrettbar preisgegeben; und das bittre
Gericht des Sterbenmüssens und die Qual
endlosen Leids, vor dem ich einsam zittre,
in jedem Augenblick auf unsrem Tag:
so durch der Schmerzen Zeugenschaft verschwistert,
ob uns ein Glück zu einen auch vermag?

Wenn alles Böse, was mein Traum zuflüstert
dem eignen Unmut, Wirklichkeit gewinnt,
daß ich in fernste Dunkelheiten schleiche,
bleibt deine Liebe mir doch so gesinnt,
daß noch mein Schlimmstes durch die wunderweiche
Heilandsberührung deiner weißen Hand
sich wandelt in den Segen deiner Güte,
dann fiel in Trümmer auch die letzte Wand
der Trennung und das Paradies erblühte
um zwei Beglückte über jedes Glück,
und noch ihr Leid ist nun als Glück erkannt,
von wo kein Weg zur Erde führt zurück.


29. 08. 1919

Sündenbekenntnis

Viel Unrecht hab ich überall getan
und suchte stets bei andern jede Schuld,
ich überließ mich hemmungslosem Wahn
und gab mich nie der Demut und Geduld.

Des Eigennutzes Vorsicht log ich dreist
in Güte und den Trotz in Glauben um.
Zur Eitelkeit mißbrauchte ich den Geist
und spielte mit der Liebe Heiligtum.

In meinen Wünschen sann ich manchen Mord
und mit Gedanken trieb ich Haß und Neid,
ich täuschte Milde vor mit meinem Wort,
doch mein Gefühl bleibt mit sich selbst entzweit.

Nun geh' ich, wie Verworfne störrisch gehn,
und trage meine Einsamkeit gezückt
wie eine Waffe. Gottes Augen sehn
allein, daß nie mein Leben mich beglückt.

Wie dies sein Herz es mir zur Sühne zählt
und mich entschuldigt mit der eignen Pein,
wird er von meiner Hoffart so gequält,
daß er erstarrt zu einem Gott von Stein.


Herbst 1919

Couplet desillusionné

Ob de Kahlbaum, Kantorowitz oder Mampe frequentierst,
ob de ehlich lebst, verhältnismäßig, Töchterchen verführst:
auf die Schwulen mußt de zahlen, um die Alten mußt
          de buhlen,
und die als platonisch prahlen, sind durch alle
          Zasterschulen.
Und bei [Rother's] kriegst du nie ein Freibillett,
S'ist das heiligste der Mottos: »Selber essen, das macht
          fett!«

Einmal dacht' ich: heute macht' ich meine Arbeit tadellos,
jetzt verstatt' ich mir 'nen Bummel, bin ich auch nicht
          gut bei Moos.
Erst trank ich zwei, drei Liköre, o verflucht, das reißt
          ins Geld,
dann ging ich mit einer Göhre ins beliebte
          Treffpunkt-Zelt.
Als wir uns zuhaus verglichen, wollt' sie Bares
          und ich Rares
und wir trennten uns recht stürmisch. Andern morgen
         hatt' ich Lust,
freie Kunst im Sturm zu kosten. Auch die kost't,
         s'is nicht umsust!

Schließlich alles zu vereinen, schrieb ich ein Theaterstück,
wo gesoffen und geliebt wird. Und da hatt' ich auch
          kein Glück.
Auf der Bühne lebt sich's bene. Wasser sind die
          schönsten Weine,
unter Ehequarantäne steht die nuttennettste Kleine,
und die Kunst, die ist gar keine, und die Liebe
         ist im Dreck,
so daß ich mich ewig sehne, und det Ende von bleibt weg!

(Refrain für alle drei Strophen):

Der Suff und der Puff
und die Kiki-Kaka-Kunst,
gehn die dir nich uff,
war dein Leben doch umsunst.
Für umsunst? Blauer Dunst!
Zahlen mußt de janz ejal
Liebesgunst, Geisterkunst.
Ideal gleich Kapital!


14. 11. 1919

Scham der Schauspielerei

Als meine Stimme aufstieg
über's Gebirge des bösen
Mißtrauens, das mich umschwieg,
und sich die Seelen zu lösen
leise begannen und hier,
hier und dort, sich ein Atem
regte still wie ein Tier
in der Horde der Feinde,
die meine Stimme umscharten,

und aus Atem und Atem
mitlebte eine Gemeinde
leise summender Herzen -

fing ich mich plötzlich zu schämen
an und erkannte dies Feige:
stolz zu sein auf ein Nichts . . .

Bis ich mich zwanghaft verneige
in der spöttisch vornehmen
Gelbsucht des Rampenlichts.


November 1919

Verbot

In meinen Nächten funkelte
dies Rosenblatt auf deinem Blut. . .

Du weißt, er ist dir stets verwehrt
und Unrecht bleibt es, daß dein Herz
besinnungslos sein Herz begehrt.

Du weißt, daß zwischen euch der Blick,
der vorwurfsvoll umdunkelte,
sich aufhebt wie ein Nachtgeschick.

Und hat sein Schritt dich auch erweckt:
du darfst ihm nie Erfüllung sein;
er muß im Dornenbusch versteckt
von ferne schaun dein süßes Spiel,
stumm bleiben und von Nacht bedeckt.
Wenn deines Stolzes Schleier fiel,
lag zwischen euch mein nacktes Schwert,
blieb Herz und Herz wie Stein und Stein.

So heiß dein Herz sein Herz begehrt,
bleibst seiner Sehnsucht stets verwehrt,
bleibt deiner Sehnsucht stets verwehrt. . .
dir stets verwehrt!


01. 12. 1919

Alte Burschenherrlichkeit

Die Schneppen auf dem Mittagsstrich erhalten
jetzt wieder eine schmutz'ge Konkurrenz
von aufgeblasnen Studikergestalten
wie einst im Lenz.

Wie einst im schönsten Lenz der Kaiserära
kann man jetzt wieder mittags pünktlich sehn
die künft'gen Richter oder Oberlehrer
Reklame gehn.

Reklame für die Ordnung, welche bieder
Elitejüngelingen gut und gern
jedweden Tag will zaubern immer wieder
zum Tag des Herrn,

des alten Herrn, dem seine Kapitalien
nun bleiben schön bestätigt und vermehrt,
indem er hier schiebt oder nach Neutralien
sich sichern fährt.

Derart gesichert darf jetzt wieder protzen
auf dem beliebten Mittagskorso breit
so zwischen Fechten und Frühschoppenkotzen
die alte Burschenherrlichkeit.

Der alten Herrlichkeit alter Zinnober:
Bockkappen und des Bändelwurmes Zier
schmückt die feuchtfröhlich schmissigen Erobrer -
Hoch das Panier!

Hoch das Panier und crescat, floreat, vivat
Korpsgeist, Besitz, Komment, Macht, Vorrecht, Schneid -
So geht es wieder öffentlich und privat
in eine neue große Zeit.


Weihnachten 1919

Wenn wir uns in den Tod betrübten

Wenn ich dich in den Tod betrübte,
wenn ich roh, abenteuerlich
Verrat an deinem Glück verübte,
um fremder Lust Strohfeuer strich,

wenn ich aus törichtem Verlangen
- enttäuscht zum ach wievielten Mal! -
nahm falsche Anmut fremder Wangen
als Trost meiner verspielten Qual:

wolltest du kaum zum Zorn dich zwingen;
und winktest nur, weil Gott ertrug,
daß auch des Wahnes Satansschwingen
mich Unrast wieder weit verschlug.

- Wenn du mich in den Tod betrübtest,
wenn du leichtsinnigen Verrat
an meiner Eitelkeit verübtest,
mir tatest, was mein Wahn dir tat;

wenn du aus törichtem Verlangen
- enttäuscht zum ach wievielten Mal! -
in falschen Netzen dich gefangen
und ich verging in Sehnsuchtsqual:

muß ich mich zur Versöhnung zwingen
mit keinem Hauch. - Ich bin versöhnt
mit allem, was die Tage bringen,
mit dem auch, was mich quält und höhnt,

weil alles, was durch dich gegeben
von meinem Schicksal zu mir kommt,
in diesem oder jenem Leben
mir dennoch zur Erfüllung frommt.


30. 12. 1919

Warum zürnst du?

Warum zürnst du meinem Händefalten
vor des Schicksals ungewissem Schlage?
Ach, mein Leben stürzt, nicht aufzuhalten,
rettungslos zum Abgrund meiner Tage.

Soll ich fruchtlos meine Fäuste ballen,
mich empören bis zur Niederlage?
Ach, von Stern zu Stern nur tiefer fallen
muß mein Flug zum Ende aller Tage.

Mitten in der Menge, unerkannt,
angelacht, beschimpft und hingerissen
von zufällgem Antlitz und Gewand,
eingeengt vom eigenen Gewissen,

bleib ich deiner Mahnung untertan -
Aber wehr ich mich, sinkt meinem Schlage
deine Not zum Opfer, und der Wahn
falschen Stolzes wird zur Niederlage.

Schmerzlich zürnt dein Herz dem Aufbegehren
meines Herzens, das dich so verletzte,
deine Liebe blutet an dem schweren
Wundmal in der Brust, die ich zerfetzte.

Meine Einsamkeit mit harten Schritten,
da sie ihre Hunde auf dich hetzte,
stürzt sich selbst ins Dunkel und inmitten
roher Tode duldet sie das Letzte.

(Leise Vogelrufe überglitzern
weiter deine grünenden Altäre,
und es trifft mit süßen Silberspritzern
die Geburt der Venus deine Fähre.)


 

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