Gedichte 1926

Gedichte

1926

Alle Zeitangaben zu den Gedichten geben das Datum an, dem der Text zugeordnet werden konnte.
Bezug hierzu sind die Angaben aus der Sammlung der 1987 von Klaus Völker herausgegebenen Gedichte.


Inhalt

Abschied

Tölpel in der Nacht

Trauriges Liebeslied

Die Rosen. . .

Wo bist du, Liebste?

Gespenster

Ballade vom Alkohol

Sintflut

Großstadtrand

Schlachtensee

Flucht in die Berge

Karlsbader Kur

Abschied

Über den Dingen

Theater-Welt

Befreiung

Litanei im Wind

Herbsttäuschung

Du weinst um einen andern

Es liegen zwischen uns die tiefen Sorgen

Der Voyeur

Eines Alkoholikers Grabschrift

Der Morgen ist das Schlimmste

 


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12. 01. 1926

Abschied

Was bleibt, wenn Menschen bei dir waren,
wenn du zu Festlichem dich zwangst?
Die Züge aus der Halle fahren,
du stehst allein mit deiner Angst.
Sie konnten keine Hilfe bringen,
sie fühlten nicht den stummen Schrei.
Als Fremde kamen sie, und gingen
an deinen Nöten fremd vorbei.
Ob sie dir nah sind oder fehlen,
du bleibst verlassen und verweht;
sie kamen stets die Stunde stehlen,
die unter Glücksgestirnen steht;
sie kehren leer in ihre Pflichten,
und leer bleibst du und ganz beraubt,
mußt wieder einen Traum vernichten,
den du so sicher hast geglaubt!
So wird es stets einsamer werden
um deines Lebens Herbstlichkeit.
Schon bist du so allein auf Erden
als wie dem Winter ganz geweiht,
und zwischen dir und andern Stimmen
sind Kerkermauern, fest und dick.
Fern rauschen Meere, Schiffe schwimmen -
dein Ohr ist taub und blind dein Blick.
Von Menschen, die dir nahe schienen,
blieb nichts als Bitterkeit und Gram.
Was sind sie dir? Was bist du ihnen?
Du stehst allein mit deiner Scham.


27. 02. 1926

Tölpel in der Nacht

Er steht und schaut in die Sterne hinein:
er ist so allein, und er stört.
Sie fährt jetzt im Sturm in die Ferne hinein,
von der kein Stein ihm gehört.

Der Süden ist heiß. Er sehnt sich und friert.
Ihr Blut glüht im Glase Wein.
Er trinkt es ihr zu. Und ist trunken und stiert
mit der Nacht in ihr Fenster hinein.

Sie schläft wie ein Kind in die Kissen geschmiegt,
sie träumt nicht und ängstet sich nicht.
Er zittert im Wind, der im Flieder sich wiegt,
schließt die Augen im Lampenlicht.

Es raschelt durch welke Blätter ein Tier,
spielt im Wind und ist morgen schon tot.
Er ahnt dein Nahen, er weiß, du bist hier,
doch er versperrt seine Tür im Gebot.

Er läßt dich nicht in sein Zimmer ein,
als hätt' er dein Wort nicht gehört.
Er schaut in den Sternenschimmer hinein,
ist immer allein, und stört.


19. 03. 1926

Trauriges Liebeslied

Bist du mir fern, wie hast du mir gefehlt!
Die grause Einsamkeit bringt mich zum Weinen.
Die Leier spielt im Hof, und mir will scheinen,
als ob ihr Lied das Schlimmste mir verhehlt.

Auch du verschweigst, was du beschlossen hast;
ich schwieg aus Angst - doch böse ist dein Schweigen.
Ich möchte meine Zärtlichkeit dir zeigen.
Der Frühlingstraum auch ist verflossen fast.

Die Nacht ist kalt. Du liegst im Bett wie tot.
Ich wandre mit dem Stern und kann nicht schlafen . . .
Du landetest in einem fremden Hafen
und schickst mir nur als Gruß ein leeres Boot.

Ich möchte hinter deine Augen schaun:
was ist in diesem Spiegel festgehalten?
Ich bin im Winter und muß bald erkalten,
du willst dich neuem Frühling anvertraun.

Du hast ja Recht! Mit dir ist alles Glück,
die Welten warten auf dein frohes Kommen.
Mir hat man schon das Glück der Not genommen,
und unnütz geh ich in mein Grab zurück.

Wie sicher liege ich dort, unbeseelt!
Ein Toter unter Toten, Stein bei Steinen!
Vielleicht läßt Einsamkeit auch dich einst weinen;
bin ich dir fern, so hab' ich dir gefehlt.


26. 03. 1926

Die Rosen . . .

Die Rosen in dem engen Kelch des Glases
welken wie ich und sind gleich mir allein;
ich möchte gern zu ihnen zärtlich sein
wie zu dem ersten Grün des Maiengrases.

Sie aber sind weltfern, in sich verloren,
gefaßte Dulder, schweigen weiß und rein
und sterben vornehm, ohne aufzuschrein.
Wozu hat man uns für den Tod geboren?

Ich kann nicht schweigend und ergeben dulden! -
Der Blumen bleicher Abschied ist Gedicht
und reimt sich schüchtern auf erloschne Flammen.

Doch dir muß ich ein ganzes Leben schulden.
Bist du bei mir, so blühe ich dir nicht;
bist du mir fern, sind wir beglückt zusammen.


25. 04. 1926

Wo bist du, Liebste?

Wo bist du, Liebste? Welten, Sterne weit.
Und zwischen uns harrn Flüsse, Berge, Steppen
des Liebesrufs, der durch die Ferne schreit,
mich an dein Bett zu schleppen.

Wo bist du, Liebste? Seltsam wacht die Nacht
an deinem Schlaf mit einer fremden Sprache.
Und einer spielt mich selbst in fremder Tracht
in deinem Schlafgemache.

Und morgens blüht vor dir ein fremdes Land,
schließt dich die fremde Stadt in ihre Arme,
erweckt dich eine fremde weiche Hand
ins südlich Warme.

Dann steigst du in den Himmel goldne Treppen
empor zu einer fremden Ewigkeit,
Sternbild hoch über Meeren, Bergen, Steppen . . .
Wo bist du, Liebste? . . . Weltenweit.


Ende 04. 1926

Gespenster

Gespenster stehen auf und sind.
Die ich begrub und längst vergaß,
mit denen ich war spielend Kind
und trauerte und trank und aß,
mein Lehrer einst, mein Gegner einst,
und die ich haßte oder mied,
schon sind sie da und werden Lied,
mit dem du lachst, mit dem du weinst,
und sind so fremd und fühlen's nicht,
sind lang schon tot, und leben neu,
kaum noch Gestalt, noch nicht Gedicht,
treulos, und waren eben treu!

Ich habe hold von dir geträumt
und dir's zu sagen nicht gewagt.
Weil immer Eifersucht mich plagt,
ward stets das Zärtlichste versäumt.
Sprech' ich zu dir, entführt's der Wind.
Will ich dich halten, greif ich Luft.
Und wieder ohne Gnade sind
mir Wiesengrün und Blütenduft.
Ich will sie nicht, wenn du mein Lied nicht willst.
Magst du mich nicht, verzieht ich auf den Mai.
Den Frühlingssturm in mir, den du nicht stillst,
stillt nicht die Melodie der Lorelei.
Es sank in Staub, was ich an Stolz besaß,
und trieb auf alle Meere mit dem Wind.
Was ich begrub und was ich längst vergaß;
Gespenster stehen auf vor mir und sind!


05. 1926

Ballade vom Alkohol

Wir haben's schwer, mit schwarzem Bier
Ekstase zu erkaufen.
Wir blicken blind. Die Uhr schlägt vier.
Wir sind verliebt. . . und saufen . . .

Und irgendwo stehn Bettler krumm
und müßten uns beschämen.
Wir aber sind längst blind und stumm
und mögen uns nicht grämen.

Wir blicken blind. Die Uhr schlägt vier.
Der Teufelswecker klirrt:
Der Freund springt auf: das Arbeitstier
wird an die Fron geschirrt.

Doch andre schlafen lange noch
und bleiben jung und frisch.
Und sind verliebt. Kein Ehejoch
zwingt sie zum Mittagstisch.

Sie sitzen in der Mittagszeit
auf duftenden Promnaden;
kein karges Kind, das »Vater« schreit,
kann ihrem Schwärmen schaden.

Sie gehn verliebt durchs Kaufhaus hin
und winken einem Busen.
Wenn ich schon früh im Saufhaus bin,
so freuen sich die Musen.

Wenn du schon früh zur Mühsal mußt,
so weinen Amoretten.
Ein stummer Zug, umstellt, verrußt
stöhnt unter seinen Ketten.

Ich weiß davon und will bewußt
nichts fühlen und mich retten
in die verräterische Lust
der feigen Wollustbetten.

Du liebtest früher meine Hand
und heucheltest Vertrauen;
doch heut steht eine steile Wand
starr zwischen unsren Auen.

Sie blühn in voller Maienpracht
und suchen nach Gespielen.
Ich fürchte mich, weil schon der Nacht
Vorschatten auf sie fielen.

Des Todes Dornenhecke schließt
sich dicht um meinen Garten.
Der Lebensbach schon spärlich fließt
kein Mädchen weiß ich warten.

Die Uhr tickt weiter . . . Zeit verrinnt,
ich altre, eh ich's wollte.
Die Welt bleibt stumm. Kein Mädchen sinnt,
wie sie mir schön tun sollte.

Nur eine alte Barmamsell
bemüht sich, mich zu neppen.
Und einsam - wird der Morgen hell -
muß ich mich heimwärts schleppen.

Ich hab' es schwer, mit Schnaps und Bier
Vergessen zu erkaufen.
Aus Todesangst und Lebensgier
bleibt nichts als: fruchtlos saufen!!


08. 06. 1926

Sintflut

Dieser Regen will nicht enden:
wie ein Meer mein Garten wogt.
Schwalben, die ihr südwärts zogt,
werdet ihr den Flug vollenden?

Trägt euch übern Ozean,
mit dem Lorbeerzweig im Schnabel,
eine wahrgewordne Fabel
zu des neuen Noahs Kahn?

Oder müßt ihr bald nicht sein
und verwehen unbeweint?
Und kein Lied, kein Dach erscheint
eurem letzten Hilfeschrein . . .

Ist kein Mensch mehr ausgezogen,
zu bestehn den großen Sturm,
Obdach für Getier und Wurm,
bis verweht das große Wogen?

Nein, es stürzte müde, feig
sich der letzte Mensch ins Fluten.
Und der Morgenröte Gluten
küssen Stein nur und Gezweig.

Küssen eines Felsens Knie,
weiß im Wasser, meerumwogt.
Schwalben, die ihr heimwärts zogt,
euer Sterben endet nie
.


28. 06. 1926

Großstadtrand

Trostlos im Wüsten an der Großstadt Rand
steht roh und öd die gräßliche Kaserne,
ein häßliches Geschwür im Gartenland,
nie leuchten über ihr des Abends Sterne.

Der Bahndamm sperrt die Stätte wie ein Wall,
die Züge laufen Wette mit dem Wind.
Wo ist ihr Ziel? Die Welt grüßt überall,
nur hier nicht, wo die Tage Selbstmord sind.

Gelassen strömt der ölige Kanal
vorüber an den Zwingern der Fabriken.
Verboten Badende machen Skandal,
vom fernen Festplatz tönen die Musiken.

Die Eisenbrücke schwankt, ein Schaugerüst,
auf dem die Bahnen tollkühn Drahtseil tanzen.
Und es betastet Abendrots Gelüst
der toten Festung wehrlos stille Schanzen.

Am andern Ufer tuten Autos laut,
klirrt die Elektrische und stampfen Pferde,
wird eine neue Stadt ins Bild gebaut,
küßt der Eroberer die Heimaterde.

Reicht sich dem kühnen Schwimmer eine Hand,
nahn sich des Lebens oder Sterbens Boten.
Unnahbar, wieder an der Großstadt Rand,
droht ein Begräbnisort mit seinen Toten.


04. 07. 1926

Schlachtensee

Der erste Sommerabend dieses Jahres:
man sitzt auf der Terrasse überm See,
es winselt die Kapelle Sonderbares
aus dem verkitschten Ausflügler-Cafe.
Im Bade drüben hört man Mädchenlachen,
auch zeigt sich auf dem Sprungbrett ein Trikot,
und mit Gesang sind zwei in ihrem Nachen
jetzt ihres Lebens, ihrer Liebe froh.
Viel Paare haben sich im Wald gelagert,
ein Bettler nutzt, daß ihnen lyrisch war.
Langweilge Kiefern stehen abgemagert
und so mokant wie eine Tantenschar.
Man hört es unken und man wittert Lurchen,
im Schilf ist irgendetwas blümerant.
Das Motorboot zieht kühnlich seine Furchen,
von sieben Passagieren stolz bemannt;
bringt es den Tümpel etwas mehr ins Rollen,
fühlt sich auf wildem Meer der Rudrer Chor,
die Angler an den Ufern aber grollen -
sie fangen nichts nachher und nichts zuvor,
sie fingen nie, nun dürfen sie doch schimpfen,
dann kippt befriedigt man die Flasche Bier.
Die Wäsche unterm Arm gehn Badenymphen
jetzt frisch lackiert zum Charleston-Tanzturnier.
Die Jazzband klappert aus den Waldlokalen
in die Natur, auf die das Dunkel sank.
Ein wenig Rot sich noch die Wolken malen.
Ein Sonderling bleibt furchtlos auf der Bank.
Im Landhaus falln die Jalousien hernieder.
Und hier und da Laternenlicht noch winkt.
Gespenstisch rauscht und regnet ein Gefieder,
ein Echo johlt, Scheinwerferblenden blinkt.
Der Sternenhimmel zeigt sein Wunderbares,
die Wolkenberge liegen tief im Schnee;
der erste Sommerabend dieses Jahres
ist uns ein holdes Weihnachtsfest am See.


13. 08. 1926

Flucht in die Berge

Es verjagte ihn ins Walderbarmen,
wo er sich dem Menschenhaß verbarg.
Wieder lag er wie in Mutterarmen,
war noch einmal alles ohne Arg.

Zeit wird nicht gezählt. In alle Winde
singt sein Wanderlied sich abendhell.
Wenn Begierde quält, ist Baumes Rinde
Brot und Labsal seinem Durst ein Quell.

Als das eigne Bildnis drin sich sonnte,
schreckte ihn dies fremde Angesicht,
dessen er sich nicht erinnern konnte,
auch des Echos Ruf erkennt er nicht.

Doch die kleinen Vögel in den Zweigen
sind mit seinem stillen Gang vertraut,
einer Märchenlichtung jähes Schweigen:
seinem frommen Herzen klingt es laut.

Hingegeben kniet er auf der Erde
an der Waldameisen stummem Zug.
Daß aus Früh und Abend Schlummer werde,
seiner Sehnsucht ist es Glück genug!

Eichhörnchen zeigt ihm die kühnsten Sprünge,
jeder Falter weilt auf seiner Hand.
Das Geheimnis, wie er sich verjünge,
sucht vergebens dennoch sein Verstand.

Nichts verspricht ihm hier, er werde bleiben;
an die Steine schlägt er seinen Stab.
Unrast wird ihn immer weiter treiben
bis zu seinem schneeverwehten Grab.

Felsen stürzen über seine Klage,
keine Spur von ihm bewahrt die Nacht.
Talein dankt das Glockenspiel dem Tage,
singt er abendlich: Es ist vollbracht.


23. 08. 1926

Karlsbader Kur

Dies ist das Paradies für Masochisten,
hier opfert man dem rohen Moloch: Kur.
Von Juden, Christen oder Atheisten
siehst du hier diesen einen Kultus nur.

Im Morgengraun schon springt man aus dem Bette
und jagt im Hundsgalopp zum Sprudelplatz,
stellt sich geduldig an in langer Kette,
als stände man im Krieg um Brotersatz.

Hier liebt man sich die Tage zu vermiesen,
bindet sich selbst die Dornen aufs Gesäß:
Das Lebenswerte kühnlich zu genießen -
beileibe nein! das war nicht »kurgemäß«!

Scheuklappen vor dem Puritanerauge
schleicht man vorbei an jedem Reize hier,
schluckt tapfer eimerweis die laue Lauge
und ängstet sich vor einem Gläschen Bier.

Die Ärzte stellen hinterlistge Fragen,
dann wird, was du gewöhnt bist, nicht erlaubt;
sie müssen dir doch etwas untersagen,
daß man an ihre schöne Weisheit glaubt.

Was folgst du dem berufsmäßigen Quäler?
Was zwingst du dich zu dem, wovor dir graut?
Rings lockt die Pracht der Hügel und der Täler,
in die ein braver Kranker sich nicht traut.

Es lockt im Laden die Delikatesse,
es lockt verführerisch ein Mädchenbein;
du tust, als hättest du für nichts Intresse:
Du bist ein Kurgast, willst ein Kurgast sein!

Das Kabarett auch darf dich nicht verlocken;
wenn es beginnt, heißt es für dich: Gutenacht!
Doch kannst du fleißig skaten und tarocken,
weil dich das blöde und gefügig macht.

So schaffst du selbst dir wieder einen tristen,
verlornen Sommer und bist stolz darauf
und kehrst im großen Chor der Masochisten
zum selbstgewählten strengen Lebenslauf.

Uns andern aber blüht nach Haus die Reise
im Speisewagen schon bei Bier und Wein,
und wieder werden wir bewährterweise
uns tummeln, saufen, lieben:
Menschen sein!


05. 09. 1926

Abschied

Nun war ich, überrascht, an dieser Stätte
vier Wochen glücklich - aber was ist Glück?
Als ob ein fremder Traum gegeistert hätte,
kehr' ungern in den Alltag ich zurück.

Es bleibt: ein sehnsuchtsvolles, wehes Wissen,
daß ich dem Vater Wald sehr nahe kam;
nun werde ich ihn ewig lang vermissen,
der mich in seine gütgen Arme nahm.

Wer wandelt jetzt auf deinen kahlen Hügeln,
wo gestern ich im Grün begeistert ging?
Noch seh ich ihn, mit seinen bunten Flügeln,
den seltsam schwärmerischen Schmetterling!

Der Falter starb wohl auch im Herbsterkalten
und gelbes Welken regnet auf die Reben.
In dieser hügelfernen Unstatt halten
die Hände nicht das flüchtge Trugbild: Leben!

Als ob es nur im Traum gegeistert hätte,
sinkt es in seine Schattenwelt zurück.
Erwach ich:
Unterm Kreuz, die Schädelstätte,
nur Stein und Wolken.
Über Not und Glück!


16. 09. 1926

Über den Dingen

Die Kühle. Weiße Wolken. Mond aus Eis.
Die Welt stirbt ab. Es herbstet die Promnade.
Das Zirkuszelt sinkt grau, ein kranker Greis.
Um mich auch ist es künftig nicht mehr schade.

Ich bin längst tot. Nur noch mein Schatten schwankt
gewohnterweise herzlos unter allen.
Ich lächle leise: diese Stadt auch wankt
und ahnt es nicht und muß, gleich mir, bald fallen.

Noch sitzen sie beisammen Tisch an Tisch
und reden, locken, schmeicheln, spielen, lügen.
Und jedem welkt schon Gelb verräterisch,
der Winter winkt aus den geschminkten Zügen.

Ich seh das Taumeln jedes stolzen Baus,
und jede Stube will die Angst verschweigen,
und eine Totengrube ist das Haus,
und Sintfluttränen tropfen von den Zweigen.

Die Autos, Wagen und die Eisenbahn,
die uns Undankbare so lang ertrugen,
sie rächten sich an unsrem Menschenwahn,
indem sie jetzt uns Schwächliche zerschlugen.

Es wüten Feuer, Wasser, Seuchen, Blitz,
der Elemente Haß ist aufgeboten.
Zu nichts zerstiebt Kunst, Heim, Stolz und Besitz,
gleichmacht das große Chaos all die Toten.

Dann singt das Glück sein Lied so märchenleis,
vergessen ist die Hast der Menschenschar.
Nur weiße Wolken . . . Kühle . . . Mond aus Eis . . .
Kein Traum, daß diese Hölle wirklich war.


21. 09. 1926

Theater-Welt

Theater. Nur die Lippe spricht. Kulissen.
Das Herz verschweigt, woran es eben litt.
Zur Arie wird die Armut hingerissen,
es bändigt sich der Gram zum Bühnenschritt.
Ein Klingelzeichen: Lächeln oder Sterben?
Ein Lichtsignal: der dunkle Dulder springt.
Der Zahme tobt und schlägt sein Glas in Scherben.
Und dann ist alles Spaß: man hüpft und singt.
Ein Kind, halbnackt, steht frierend an der Rampe,
der Taktstock schlägt nach seinen magren Beinen,
und vor dem grellen Licht der großen Lampe
beginnt es hilflos bitterlich zu weinen.
Da stürmt der Regisseur aus der Gardine,
stößt es hinab in des Orchesters Bett.
Ein Fall, ein Schrei. Mit süßlich fader Miene
tanzt schon herein das billige Ballett.
Der Komiker sitzt feixend auf dem Kasten,
uralte Witze machen alle alt.
Mit lüstern kecken Greisenfingern tasten
sich die Gedanken an die Nacktgestalt.
Da schließt um ihren Leib sich ein Küraß.
Die Orgel tönt ein kirchliches Gedicht.
Und tief im Walde geht ein Mann fürbaß,
der weiß von diesem ganzen Zauber nicht.
Er bricht von seinem Zehrungsbrot den Bissen,
der Abendwind hält mit ihm gleichen Schritt. . .
Theater. Nur die Lippe spricht. Kulissen.
Das Herz verschweigt, woran es eben litt.


13. 10. 1926

Befreiung

Wenn die Welt mich schlägt,
wird mein Werk mich trösten.
Wen der Haß bespeit,
wird vom Geist gekrönt,
wer die Schmach erträgt:
Freundschaft. Liebe lösten
sich in dieser Zeit,
die den Menschen höhnt.
Jedes böse Wort
wird zum Strahl der Sterne.
Wenn mir Träumer graust
grüßt ein guter Spruch.
Aus der Hölle fort
führt in selge Ferne
mich ein Doktor Faust
auf dem Zaubertuch.
Lärm der Stadt und Schreck
sind nicht mehr zu spüren,
unter meinem Flug
sinken sie in Nichts.
Bauch und Gassendreck,
Regen wie aus Schnüren
bleiben fremd und Trug,
Spott des neuen Lichts.
Keine Fabel darf
mehr von ihnen sagen.
War ich schwach und klein,
ist es nicht mehr wahr.
In die Tiefen warf
ich von Menschentagen
jede Lust und Pein.
Freundschaft und Gefahr.
Und es dringt kein Laut
mehr aus ihrem Streiten
jetzt zu dem empor,
den die Wolke trägt.
Selig singt und blaut
nun um den Befreiten
seines Werkes Chor,
wenn die Welt ihn schlägt.


22. 10. 1926

Litanei im Wind

Es weht der böse Wind,
man zittert wie ein Kind,
die Frau kommt wieder nicht nach Haus,
man trinkt den ganzen Cognac aus
und ängstigt sich wie sie:
Gedicht und Onanie.

Die Katze kam und ging,
die Freude war gering,
das Grammophon macht nicht mehr Spaß,
die Liebste ist und bleibt ein Aas,
ich selber bin dran schuld —
Geduld, mein Herz, Geduld!

Im Spiegel schein' ich bleich,
zuletzt ist alles gleich,
du ärgerst dich, du freust dich sehr,
spielt alles keine Rolle mehr,
ob Liebes Leid, ob Lust,
wenn du hinunter mußt.

Schlaf dich noch einmal still,
es wird, was werden will,
heut lebst du noch und fühlst dich wohl,
hast Obdach, Wärme, Alkohol:
verbrauch es mit Genuß
und denk nicht an den Schluß!

»Denk überhaupt an nichts!«
ist Weisheit des Verzichts.
Ins Bett gepackt, die Seele leicht,
sauf Schnaps, solang der Vorrat reicht,
lall selig wie ein Kind!
Es schaukelt dich der Wind . . .


25. 11. 1926

Herbsttäuschung

Das braune Laub auf allen Rasenflächen
blüht mittags diesem warmen Herbst zum Lenze.
Auch ich bin auf des Herbstes, Winters Grenze
und stehe müde an des Lebens Bächen.

Und lasse mich durch diese Sommerspende
noch einmal gern zum Jugendtraum verführen:
es singt der Wind von grünen Liebesschwüren,
die Beete ahnen nicht das nahe Ende.

Es singt mein Herz, dem deinen wieder lieber,
von unsrer neuen Hochzeit Frühlingsglücke.
Wir stehn wie Weihnachtskinder auf der Brücke:
Geschenk der Kähne träumt das süße Fieber.

Es jagen Reiter wilder auf dem Sande,
wie unsre Pulse, die sich endlich fanden.
Und auch die Bettler, die am Wege standen,
trugen ein Veilchen uns zur Feier am Gewande.

Wir wollten nichts vom nahen Winter ahnen,
»der wolkenlose Himmel soll uns bleiben!«,
so schwärmten wir in rosigrotem Treiben,
an allen unsern Fenstern hingen Fahnen.

So schweigt ein Müder über seine Schwächen,
führt wider seine Träume trunkne Tänze,
steht andern Morgens an des Winters Grenze,
versinkt, Selbstmörder, in des Lebens Bächen.


22. 11. 1926

Du weinst um einen andern

Du weinst um einen andern. Ich saß lang
am herbstlich dunklen Teich, er lockte sehr.
Es rührte sich kein Baum. Kein Vogel sang.
Nichts wartet wohl auf meine Wiederkehr.

Du wartest auf den andern. Meine Zeit
ist um. Ich bin mir selbst nur noch zur Last.
Bald sind die Gartenwege zugeschneit,
auf denen du mich einst erwartet hast.

Der andre nahm dein Lachen mit sich fort.
Nun trifft dein Schmerzensblick mich vorwurfsvoll.
In meinem Mund verstummt das Liebeswort;
ich weiß nicht, wie ich dich entzaubern soll.

Was ich auch sagte, trüg des Fernen Ton,
was ich dir schenkte, war' vor ihm gering.
Wollt' ich dich trösten, schien der Trost dir Hohn,
und meine Zärtlichkeit im Wind verging.

Im Wind, der um das Schiff des andern schwingt!
Womit soll ich dich halten? Herbstlich schwach
neigt sich mein Tag. Es bleicht. Kein Vogel singt.
Ich bin nicht mehr. Du weinst dem andern nach.


25. 11. 1926

Es liegen zwischen uns die tiefen Sorgen

Es liegen zwischen uns die tiefen Sorgen,
auf diesen Abendinseln brennt kein Licht.
So wüstet man in Räuschen bis zum Morgen
und überlärmt das innere Gericht.

Denn Rettung bringen nicht die fremden Mienen,
kein Scherzen hilft, vom Nebentisch erhascht.
Der Todgeweihte wirft sich auf die Schienen.
Die Frau zur gleichen Stunde lacht und nascht.

Die glücklicheren Zimmer sich verschließen,
auf allen Straßen rastlos wallt viel Gram.
Der Wissende kann nimmer es genießen,
was auch an Lust in seine Kammer kam.

Einsame sieht er dämmern in Kaschemmen,
der leidvoll Trunkne droht dem Freund mit Mord.
Und unter allen Winterwegen schwemmen
die trüben Ströme unsern Sommer fort.

Auch wer jetzt sterben darf, ist nicht geborgen
und findet Wiesen des Vergessens nicht.
Es liegen zwischen uns die tiefen Sorgen.
Auf diesen Abendinseln brennt kein Licht.


Ende 11. / Anfang 12. 1926

Der Voyeur
(für George Grosz)

Er kann den ersten Abend kaum erwarten
ein Zimmer, das er morgens hat gemietet.
Schon am Nachmittag späht er in den Garten,
ob seinen Blicken sich Ersehntes bietet.

Will es denn heute gar nicht einmal dunkeln?
Er lauert gierig hinter der Gardine,
das Opernglas gezückt; die Augen funkeln:
daß endlich irgendwo ein Bild erschiene.

Und wirklich, in den Häusern gegenüber,
doch hier und da die Lampen wieder leuchten.
Es glüht sein Kopf wie in geheimem Fieber
und seine Hände zitternd sich befeuchten.

Doch hinter jenen unverhüllten Scheiben
ist nichts als eine Treppe zu beschreiten.
Und diese Fenster, welche offen bleiben,
enthüllen einer Küche Nüchternheiten.

Halt! Dort war eine Frau (die Ampel glühte
verräterisch), sie nestelte am Kleide -
doch wie er sich den Hals zu recken mühte,
würgt eine Jalousie die Augenweide.

Doch endlich da! Freigebig hingebreitet
der ganzen Stube helle Lichtoase;
mit losgeknöpften Hosenträgern schreitet
ein Wanst herum und bohrt sich in der Nase.

Der Mann läßt seinerseits die Läden knallen -
(dies dumme Spiel war heut wie abgekartet!)
und sich enttäuscht erschöpft aufs Sofa fallen,
schließt seine Augen krampfhaft zu und wartet.

So will es nicht gelingen. Immer wilder
zwingt er sich zu der Orgie der Träume,
holt aus versperrtem Schub die wüsten Bilder
und sieht nun das Geheimnis aller Räume.

Doch morgen muß den Schüchternen erschrecken
der helle Tag mit seinen Sachlichkeiten.
Und wieder wird er abends sich verstecken
und lauern auf belauschte Lüsternheiten.


09. 12. 1926

Eines Alkoholikers Grabschrift

Ich bin nicht gern in diese Welt gekommen,
und dennoch hab' ich auch nicht gern Abschied
          von ihr genommen,
denn da ich erst einmal war fest in ihr gefangen,
trug ich, sie zu verlassen, kein Verlangen.
Sie war mein Leben doch, trotz aller Bitternisse,
und, was nachher zu hoffen oder fürchten blieb,
          das Ungewisse.
Die Flasche schenkte mir die schönsten Träume
          und Gedanken,
ich liebte sie und wußte längst, ihr würde ich
          den milden Hirnschlag einst verdanken.
Die Flasche Cognac war der beste Freund in meinen Nöten,
so ließ ich mich von ihr im Lustrausch selig töten.
Weil alle andern Lüste ohnehin versagten,
wüsteste Weiber nicht zu mir sich wagten,
und ich mich wagte nicht zu ihren Betten,
konnte mich immer nur die Flasche retten.
Mein Grab hat nun die holde Form der Flasche,
und das Büfett des Hügels trägt die Urne mit der Asche,
und alle, die mich sinngemäß verehren,
werden an ihm ein Glas auf mein Gedächtnis leeren.
Im Alkohol vergaß ich schließlich auch des Abschieds
          Kummer,
schwamm sanft auf ihm hinüber in der ewigen Besoffenheiten
          katzenjammerlosen Schlummer.


10. 12. 1926

Der Morgen ist das Schlimmste

Der Morgen ist das Schlimmste: Reue mahnt
und alles, was man gestern nicht erreichte.
Die Sorgen sind schon wach, eh man es ahnt,
vor denen gestern nachts der Gast erbleichte.

Am Fenster lauert blaß der neue Tag,
mit seinen Martern roh mich zu empfangen,
und die Gespenster sind vom Stundenschlag
erweckt, mit dem sie waren längst vergangen.

Die Straße hat das Wort, das mich bespeit.
Die ganze Stadt will Großes von mir fordern.
Ich ging am liebsten fort, ganz weit, ganz weit.
Kein Amt darf mich vor sein Gericht beordern.

Doch spinnt es mich, eh ich's mich noch versah,
in seine hinterlistgen Regenschleier.
Und es gewinnt das dunkle Golgatha
zuletzt den Lohn der wüsten Totenfeier.

Es flügeln Trauerfalter dunkel auch,
die Sorgen wogen Sinflut. Auf den herben
Herbsthügeln steht das Kreuz im Opferrauch.
Der Morgen ist das Schlimmste: Zeit zu sterben . . .


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