Gedichte 1928

Gedichte

1928

Alle Zeitangaben zu den Gedichten geben das Datum an, dem der Text zugeordnet werden konnte.
Bezug hierzu sind die Angaben aus der Sammlung der 1987 von Klaus Völker herausgegebenen Gedichte.


Inhalt

Seltsamer Frühlingstag

Nächtliches Zwischenspiel

Coitus jenseits von Gut und Böse

Es wird Sommer

Bei Gespenstern zu Gast

Gedicht am Gebirgsabend

Ein Kranz (auf das Grab Klabunds)

Strophen zum Geburtstage

Fruchtlose Ferien

Herbstliche Negerschau

Neid auf einen Toten

Schüler auf der Flucht

Und wenn ich . . .

Mein Herbst

Der Feind des Traumwandlers

Vorstadt-Kabarett

Der Absturz

Traum und Vergänglichkeit

Weihnachtswunsch

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Ende 03. 1928

Seltsamer Frühlingstag

Keiner bot am Wege Flieder feil,
seltsam fahl war dieses Frühlings Pfad,
spürbar blieb Gefährliches, es gingen
unsichtbare Netze durch die Weiten.
Zwischen Sternen spannte sich ein Seil,
rasend fuhr auf ihm ein Feuerrad,
und an den noch kahlen Bäumen hingen
Selbstmordschlingen in der Wandrer Schreiten.
Höher als Gebirge war das Eis,
das gefühlte, dieser ebnen Spur,
kalte Pfeile kreuzten durch die Lüfte,
wo zum Spott die Vögel lenzhaft sangen.
Und die Menschen puppenhaft im Kreis
liefen um das Götzenbild »Natur«.
Winterlich noch die Verwesungsdüfte
aus den unsichtbaren Gräbern drangen.
In der Sonne trügerische Glut
hielt die Hand ich wie in Kerzenlicht
und empfand nur schmerzloses Erkalten,
da sie bald zur Mumienhand erstarrte.
Dieses Märzens Himmel war mit Blut
bunt bemalt und wie ein Hochgericht
von vermummter Wolken Schreckgestalten
schwarz bevölkert. Und ein Hund verscharrte
unterm Galgen seinen Knochenraub.
Alles hatte einen andren Sinn,
sah alltäglich aus, und barg das Grauen,
hinter Fenstern waren Folterräume.
Für die Frühlingslieder blieben taub
die verschloßnen Tore. Kein Beginn,
nur ein Ende war der Blick der Frauen,
und ein Wahn der Flug der Liebesträume.
Gierig trank ich dieses Frühlings Gift,
dem mein Lebenswille widerstand,
bitter schmeckte es in meinem Gaumen
lange nach und stellte mir viel Fallen.
Wo mein Lied das deine wiedertrifft,
dort ist blühendes, gelobtes Land.
Doch jetzt dreh ich träge meinen Daumen,
und man hört mich das Gewohnte lallen.
In Verwegnes steigt die Straße steil,
meine geht so krumm, wie diese grad,
überall erblüht es von Gesängen
und die Luft ist voller Zärtlichkeiten,
Kinder bieten Fliedersträuße feil,
golden leuchtet nun der Frühlingspfad,
und von den schon grünen Bäumen hängen
Blütenzweige in des Wandrers Schreiten.


13. 04. 1928

Nächtliches Zwischenspiel

Es flüchten Schaben in der Küche,
wenn ich mit bänglichem Gewissen
anschleiche, ohne Eltemflüche
mich dort im Ausguß satt zu pissen.
Ich würde niemals welche töten -
die Schaben mein' ich, die getreuen,
weil sie, wie ich, in tausend Nöten
stets müssen Licht und Leute scheuen.
Die Menschen solln mich gerne haben!
Vor allem die mit mir verwandten.
Nein, lieber als harmlose Schaben
zertrat' ich Onkels oder Tanten!
Nein! Tanten noch in gutem Alter
so zwischen 40, 50 Jahren,
mit rundem Arsch und Busenhalter
und in der Liebe höchst erfahren,
ersehnt' ich stets als Bettgenossen:
Die Chance sollen sie noch haben,
daß ich verzeih' die keuschen Possen,
die sie mir spielten, einst, als Knaben,
dem sie sich würdevoll entwanden,
um mit dem Onkel auszuschweifen.
Damals war noch kein Mut vorhanden,
respektlos in ihr Fleisch zu greifen.
Heut sollten sie sich nicht beklagen,
ich wüßte, wo und wie den Damen
es lohnt, sich zuchtlos zu betragen,
und die erwünschten Kosenamen.
Die Eltern sterben. Nicht die Flüche
der Frau, wenn, Buhe im Gewissen,
ich Schaben scheuchend in der Küche
poltre, mich sieghaft satt zu pissen.


20. 04. 1928

Coitus jenseits von Gut und Böse

Wir zogen uns aus, uns das Geheimste zu zeigen;
ich schämte mich nicht, was häßlich an mir war,
dir ehrlich zu weisen. Wir wurden einander zu eigen
und taten das Werk der Begattung kalt und klar.
Meine schiefe Schulter, die bläulich versackte Hode,
dein Wanst, dein welkes Gelapp, die hängende Brust:
wir vergaßen es nicht; mitten im Wollusttode
waren wir uns der Menschengebresten bewußt,
wußten und wollten wir unsre Gebrechlichkeiten,
kein Ideal, nur Leben bei Leben zu sein!
Keine Lüge. Was wir einander bereiten,
ist nicht nur Freude, ist ebenso Schrecken und Pein.
Wie wir uns beide egoistisch benutzen,
jeder begierig auf den eignen Genuß,
sind zuletzt zwei, die einander beschmutzen,
reuelos müde, ohne Glück und Verdruß.
Ohne Gier und Ekel. Wir spielen ermattet
zwecklos »unzüchtig« wie Kinder mit nassem Sand.
Und schlafen von Sattigkeit ohne Alp überschattet,
jeder des andern Geheimstes in der Hand.


Ende 04. 1928

Es wird Sommer

Am heißen Himmel wartet ein Gewitter,
die große Stadt liegt wie in Ohnmacht starr,
es glüht am Irrenhaus das Eisengitter,
wo in die roten Wolken glotzt der Narr.

Ja, es wird Sommer! Überall mit Krügen
gehn Mägde nach dem Bier zum Abendbrot.
Die Pärchen taumeln in den Stadtbahnzügen,
und Trunkne trampeln Blütenzweige tot.

Ja, es wird Sommer! Du bist unerträglich:
in deinem Blute Beisesucht rumort.
Die Katzen kreischen auf den Höfen kläglich,
und meine Träume sind von Angst umflort.

Ja, es wird Sommer! Grell ist das Erwachen,
es weht ein wüster Wind, wir schaukeln schwül
wie ein im Tropenstrom verlorner Nachen
und haben die Vernichtung im Gefühl.

Sind grundlos zärtlich und bereit, zu streiten.
Ans Herz der Abend sein Verwirren bringt.
Und in den Kämpfen, in den Zärtlichkeiten
wird wieder Sommer. Und der Irre singt.


21. 06. 1928

Bei Gespenstern zu Gast

Wo ich ein stummer Gast war, schweigend kam und ging,
bei ihnen saß und doch, nicht zu erreichen,
an den Flügeln einer Abendwolke hing
unter meines Sternes wunderlichem Zeichen,
mit ihnen aß und trank,
ihnen gleich, doch niemals ihresgleichen:
ich sprach, und ihre Welt versank,
ich redete zu Leichen.

Einer lachte noch, als er schon nicht mehr war,
und ich lächelte zurück, ohne es zu wissen,
und das puppenhafte Nichts an der Bar
hat evablöd in den giftigen Apfel gebissen;
sinnlos tanzten die Gespenster weiter,
stießen auf ihr Wohl an mit zerbrochenen Gläsern,
und sie trieben nicht betrübt, nicht heiter,
ihre Mückenspiele in des Totenackers welken Gräsern.

Eins umarmte mich und lallte »Bruder!«,
das ich stumm beiseite stieß,
auf meinem Bock blieb von ihm nur etwas Puder;
und als ich endlich dieses Schattenfest verließ,
hatte ich nichts gewonnen und nichts verloren,
war ich wieder mit den Märchen meinesgleichen ganz
          allein,
und ich schritt aus den verfallnen Toren
einer Schädelstätte in den Morgen meines Werkes
          hoffnungsvoll hinein.


02. 08. 1928

Gedicht am Gebirgsabend

Ich habe lange kein Gedicht geschrieben.
Nun steh ich nachts auf dem Hotelbalkone,
die Sterne nur sind mit mir wachgeblieben
und Quellen im geheimen Flüstertone.

Der Berge dunkle Elefantenherde
ward an der Tränke dieses Sees zu Steinen.
Ob ich noch etwas wirklich lieben werde?
Die Schatten sammeln sich, will es mir scheinen.

Die Wolken, stumme Totenglocken, schweben
zwischen den Tälern und den Felsentürmen.
Die Feindschaft gegen unser Menschenleben
wird bald aus diesen sanften Wassern stürmen.

Ich werde trotzdem das Verderben lieben,
weil es gerecht das Kleinliche vernichtet
und gipfelhöher als ich selbst getrieben,
ins weite All das Weltensterben dichtet.


Mitte 08. 1928

Ein Kranz
(auf das Grab Klabunds)

Als du noch lebtest, hab' ich dich beneidet,
glaubt' ich, der Himmel schenke dir zuviel;
mit überflüssgem Glanz schienst du bekleidet,
und was mir Mühe war, war dir ein Spiel.

Die Strahlende war innig dir verbunden,
dir blühten wundersame Reime leicht.
Noch eh du suchtest, hattest du gefunden,
noch eh du kämpftest, war das Ziel erreicht.

So schienst du mir von jedem Gott begnadet:
was immer du begannst, gelang, gedieh,
dir schien zu nutzen, was uns andern schadet,
es klang um dich der Liebe Melodie.

Wie war ich blind, als ich dir so mißgönnte,
du galtst als Göttergünstling, auserwählt,
wer sah, daß er dich überleben könnte,
daß jede Stunde deines Werks gezählt!

Wir saßen nächtlich oft in der Taverne -
wer sah in deinem Blick die blanke Angst,
wer ahnte, daß in das Verließ der Sterne
als erster du von uns bald hingelangst?

Manchmal erschien sogar uns deine Krankheit
wie eine kleidsame Koketterie;
die Mädchen mochten deine Grabesschlankheit,
es warb für dich die Jenseitsmelodie!

»Als du noch lebtest« - die vier Sterbensworte
besiegeln meines Argwohns schweren Fehl.
Nicht zu erreichen unserm Schmeichelworte
wird jetzt dein Brot aus Himmelstau und-mehl.

Bist du erhaben über Neiden, Lieben,
im Guten und im Schlimmen nun am Ziel.
Uns ist die Scham, die Reue nur geblieben
und die Verachtung für das eigne Spiel.


18. 08. 1928

Strophen zum Geburtstage

Womit vermöchte ich dich zu erfreuen,
was im Geringsten jenes Glück erreicht,
das du mir spendetest mit immer neuen
Erlebnissen, wo keins dem andern gleicht?

Der Zauber fremder Städte, fremder Länder,
von denen stets nun mein Erinnern zehrt,
ihn wiegt nicht auf das schönste der Gewänder,
die Perle nicht, nach der dein Herz begehrt.

Was ließe alles Weh dich jetzt vergessen,
das ich dir mit und ohne Willen tat?
Ich kann mich nicht mit deiner Großmut messen,
dich zu gewinnen, weiß ich mir nicht Rat.

Du hattest meine Bosheit, meine Sorgen
oft beim Erwachen zum Phantom gemacht;
doch ich an deinem feierlichen Morgen
hab' nichts als Unrast an dein Bett gebracht.

Daß ich mich mühte, etwas Glück zu finden,
das dir das neue Jahr von Leid befreit,
läßt nicht den Vorwurf im Gewissen schwinden,
daß ich versagte, als es rechte Zeit.

War ich nicht zärtlich nur in meinen Träumen
und nur in meinen Liedern dein Gemahl,
ein Schatten dir zur Seite, und versäumen
die Wirklichkeiten nicht die rechte Wahl?

Stets bei der Heimkehr freu ich mich im Stillen
auf, endlich, unsrer Ehe hohes Fest;
bin ich bei dir, bleibt nur im Wunsch und Willen
ein Hauch, ein Zagen. Reue ist der Rest.

Was hab' ich heut, womit ich dich erfreue:
Ein Lied, das wahr und deiner würdig ist,
die unverdienstlich schüchtern stete Treue,
die Zuversicht: daß du mein Leben bist!


20. 08. 1928

Fruchtlose Ferien

Auf dem dunklen Berge oben
plötzlich eine Flamme glüht,
kaum gesehn, ist sie zerstoben,
nur am Fels ein Stern noch blüht.

Unten auf dem dunklen Teiche
hört man eines Nachens Fahrt.
Und es liegt wie eine Leiche
fahl die Ortschaft aufgebahrt.

Kalt ahnt man der Gletscher Nähe,
stummer Tod den Wald durchschweigt.
Einsam bin ich wach und spähe,
ob sich mir ein Zeichen zeigt.

Alpenwelt hat jetzt dies kühle,
unergründliche Gedeihn
für den Reichtum der Gefühle,
den die Neider nie verzeihn.

Berg und Stern sind nicht von Dauer,
doch der fahle Alltag währt.
Stets allein in stiller Trauer
unser Nachen heimwärts fährt.


31. 08. 1928

Herbstliche Negerschau

Ich freute mittags mich des Sonnen-Warmen;
jetzt frier' ich, allzu sommerlich berockt,
im Spätnachmittag, dem schon herbstlich armen.
Am Felsen auch das Äffchen fröstelnd hockt.
So kläglich wie auf einem Vorstadtrummel
quält hier im Zoo sich nun die Negerschau.
Hartnäckig Groschen und Zigarrenstummel
schnorren der Priester und die Häuptlingsfrau,
und so verdrossen sie ihr Handwerk mimen
vom Teppichwirker bis zur jüngsten Braut,
wie auf den Photos, wo mit falschen Striemen
ein falscher Fünfzger ein Phantom verhaut.
Doch gern benutzen sie, sich heiß zu machen,
der Vorführungen kindlichen Klamauk,
sie albern unbefangen und verlachen
mit ihrem Hokuspokus von Gepauk
auf dumpfen Trommeln, Hopsern und Gelalle,
das rhythmisch treffend ohrfeigt rechts und links
gerechterweise uns Zuschauer alle,
die überheblich stiern und witzeln rings.
Die Pferde wirbeln Staub, Kamele spucken,
doch leider trifft den Bichtigen es nie.
Das arme Nilpferd muß Papier oft schlucken,
das dunkle Mädchen dumme Galantrie.
Dafür kauft keiner ihre Ansichtskarten.
Familien werden, meist auf Sächsisch toll
vor Rassengrößenwahn; es ist der Garten
von weißen mehr als schwarzen Wilden voll.
Man läßt das Negerkind gefährlich reiten
und hat es plötzlich zum Klamauk benützt.
Vor allzu deutlichen Vertraulichkeiten
ist hinter Gittern bloß das Tier geschützt.
Ablehnend birgt es sich in seiner Zelle
und wird von keinem Spaß nach vorn gelockt;
hoch überm Rummel auf der gleichen Stelle
das Äffchen fröstelnd, doch unnahbar, hockt.


08. 09. 1928

Neid auf einen Toten

Meine Heimat wird nach meinem Sterben
mich so wenig feiern wie im Leben:
unbeweint werd' ich der Welt entschweben,
mit dem Tod auch für mein Werk nicht werben.

Schön ist es, sein eignes Fleisch zu fühlen,
das noch da ist, Hintern oder Hoden,
unter seinen Füßen noch den Boden,
sommerwarmen oder winterkühlen.

Lange kann das Glück doch nicht mehr dauern,
schon bin ich im Alter der Gefahren.
Nein, mich wird man nicht zur Schau aufbahren,
nicht mein Scheiden weihevoll betrauern.

Zufallsfreunde werden, langer Weile,
mal am Stammtisch witzig von mir sprechen,
ihnen bin ich dann ein Grund zum Zechen,
doch sie kennen von mir keine Zeile.

Und die Frauen, die ich nie besessen,
machen sich pikant mit meinem Namen,
ein Verleger nutzt mich zu Reklamen.
Aber sonst hat alles mich vergessen.

Nur was je ich über sie geschrieben,
nicht der Künstler dankbare Gemeinde:
die ich lobte, schmeicheln jetzt dem Feinde,
die ich schlug, sind sachlich, übertrieben.

Unbegrenzte Freude herrscht im Lande,
weil ein Störenfried nicht mehr behindert,
den Triumph das Faktum etwas mindert,
daß nicht fiel die ganze Dichterbande,

einer Jugend freien Raum zu geben,
die nur sportlich fühlt nach neuster Mode.
Diese Menschheit wird nach meinem Tode
mich so wenig feiern wie im Leben.


16. 09. 1928

Schüler auf der Flucht

Der Abend legt die roten Kränze
aufs Grab von eines Tages Glück.
Der ich seit früh die Schule schwänze,
getraue mich nicht mehr zurück.
Hier hock' ich auf des Baumes Stumpfe
im Wald, der immer dunkler droht,
verloren unkt es aus dem Sumpfe.
Zu Haus ißt man jetzt Abendbrot.
Der Vater fragt: »Was macht der Knabe?«
Man glaubt den Ausflug, den ich log,
und während ich hier Hunger habe,
schmatzt man an dem Familientrog.
Die Schwester geht vielleicht ans Fenster:
ihr schien, sie hörte meinen Pfiff.
Ich fürchte doch jetzt die Gespenster
der Nacht und ihren kalten Griff,
noch mehr, daß ich mich bald ergebe,
nicht lang mehr spiel' ich hier Karl May.
Doch wenn ich morgen weiterlebe,
ist meine Herrlichkeit vorbei,
wirkt aller Trotz nur wie Theater,
das unbegründet kindisch war;
mich züchtigt nicht einmal der Vater,
und meine Lehrer lächeln gar.
Schon welken dieses Abends Kränze,
im Grab der Nacht halt' ich nicht aus;
der Liebsten der Tanzstundentänze
gedenkend, schleich' ich feig nach Haus.


09. 1928

Und wenn ich . . .

Und wenn ich einst nicht mehr schauen kann,
kann ich doch noch immer fühlen,
und von den käuflichen Frauen dann
mein glühend Gelüste kühlen.

Und wenn ich einst nicht mehr sprechen kann,
kann ich auch keinem mehr fluchen.
Dann seh ich mir alles verächtlich an,
ohne gierig nach Schönheit zu suchen.

Und wenn ich einst nicht mehr hören kann,
kann mich auch kein Geschwätz mehr verdrießen,
dann werd ich erst jeden farbigen Tag
als ungestört stummen genießen.

Und fehlte mir auch zum Zeugen die Kraft,
kann ich keine Frau mehr beschweren
mit unerwünschter Mutterschaft,
die Welt nicht mit Kindern verheeren.

Doch stirbt mir einst die Zunge ab,
zum Lieben und zum Hassen,
dann darf man ins lustlose Grab
mich gern hinunterlassen.


17. 10. 1928

Mein Herbst

Schon wieder Herbst und bald schon Schnee,
kaum denkbar noch der Sommersee
und daß man unter Hitze litt.
Jetzt friere ich und trinke Tee,
es raschelt Heu und Wiesenklee
als Herbstlaub unter meinem Schritt.

Die rote Lampe brennt sich ein
wie einst der Bergesflamme Schein
in meiner Sehnsucht Wartezeit.
Ich war und bin und bleib allein,
mein Wunsch ist groß, mein Können klein
und meine Heimat allzu weit.

Ich spreche wohl zu dem und dem,
bin, feindlich oder angenehm,
doch nie in ihrem Zelt.
Ich tue Gutes, Böses – wem?
Sie kommen, gehn. Ich knet' aus Lehm
mir meine eigne Welt.

Das Herbstlaub tropft um mich wie Blut.
Verzweifelt seine Sprünge tut
am Galgen Herbst der Wald.
Und trotz der Abendsonne Glut
hält nichts mich warm, nichts ist mir gut,
und ich erkalte bald.

Bald deckt mich des Vergessens Schnee.
Längst über mir, auf leerem See
die Totenbarke schweigend glitt.
Die Frau lud meinen Feind zum Tee.
Ich raschle in der Herbstallee
unter des Fremden Schritt.


23. 10. 1928

Der Feind des Traumwandlers

Immer an den Straßenecken
dieses zaudernde Erschrecken,
wenn ein Auto unvermutet
das Signal zur Warnung tutet!
Immer mein Provinzgebaren,
nicht gewachsen den Gefahren,
bleib ich plötzlich hilflos stehn:
soll ich vorwärts, rückwärts gehn?
Nie werd ich es richtig lernen!
Schüchtern such ich nach den Sternen,
denen einst in Heimatsgauen
ich mich durfte anvertrauen.
Damals waren all die stillen
Straßen liebreich mir zu Willen,
wenn ich nächtlich schwärmend schweifte
und ein Reimen in mir reifte.
Tiere tappten in den Ställen,
ich stand fiebernd auf den Wällen,
sprach pathetisch mein Gedicht
in des Mondes fahles Licht,
und mit der Natur im Bunde
strömten Strophen mir vom Munde.

In erbittertem Verstummen
schlepp ich heute meinen krummen
Dichterrücken durch die graden,
grauen Großstadtpromenaden.
Nirgendwo darf in geheimen
Winkeln ungestört ich reimen,
nirgendwo in leeren Lauben
mit dem Glück des traumhaft Tauben
nur auf meine Verse lauschen,
wie sie magisch mich umrauschen.
Keine Zuflucht ist gestattet,
wo das Schweigen mich umschattet:
Boote wimmeln auf den Bächen,
Lichter an den Himmelsflächen,
noch am Park zerreißt mein Schwärmen
eines Zeitungshändlers Lärmen.
Flucht ich mich in unbebaute
Randgebiete, stört der laute
Zank von Turn- und Fußballspielen,
wimmelt doch von allzu vielen
noch, was fälschlich Wald sich nennt,
durch den Busch die Stadtbahn rennt.
Wo sich jeder schreiend spiegelt,
ist des Dichters Mund versiegelt.


01. 11. 1928

Vorstadt-Kabarett

Vorn krachen erst mal trunkene Krawalle
mit einem Sipo an dem Gassenschank;
doch dringt man mählich vor zur Singspielhalle
grad sieht man einen primitiven Schwank,
da feixt ein Saufbold mit geklebter Nase
und eine Alte, die gekitzelt kreischt.
Doch läßt man erst einmal den Vorhang fallen,
beklext mit saftger Musen Ringelreihn.
Skatkarten hört man auf die Tische knallen;
ein Gast faßt tief in seine Frau hinein.
Die nächste Nummer ist auf drahtnem Seile
ein Nuttchen in verschlissenem Trikot,
in ihren Mienen tödlich Langeweile,
doch wirksam durch beträchtlichen Popo.
Hernach gibt es schon eine längre Pause,
in der das Drahtseilbalg sein Bild verkauft.
Die Sippen fühlen sich wie hier zu Hause.
Vorn wird am Schank schon wieder mal gerauft.
Auch biedert man sich zwanglos an in Gruppen,
wobei das Spiel nur seinen Fortgang nimmt,
ein Bauchredner mit zwei verpatzten Puppen
dumm zotend allerseits versöhnlich stimmt.
Das Mannsvolk pufft einander in die Seiten,
die Weiber glucksen, höllisch amüsiert.
Ein Paar tauscht zeitverloren Zärtlichkeiten.
Armselig Bloßes auf der Bühne friert:
vier blank gerupfte Menschenvögel schlottern
blau angelaufen hilflos hin und her,
»Ekstase« nennt sich dieses Gliederstottern
und fällt dem welken Wesen sichtlich schwer.
Ein Trunkner auf dem Weg zur Toilette
bleibt plötzlich wie gebannt am Podium stehn
und nimmt handgreiflich teil am Nacktballette;
vergessen ist, wohin er wollte gehn.
Auch dieser Zwischenfall ist bald behoben,
es folgt der allbeliebte Humorist.
Man sieht ihn gern sich mühen, schwitzen, toben,
er weiß, was er den Hörern schuldig ist.
Das schwül Mondäne und das Unsolide
(vom vorigen Jahre) stellt er kitschig dar,
teils für, teils wider gaukelt die perfide
Zweideutigkeit in seinem Repertoire.
Zum Schluß schafft er, entsprechend dem Lokale,
sich einen Beifall, der nie fehlen kann:
begehrt ist hier die Internationale
wie dort das Deutschlandlied bei jedermann.
Und als das Volk entzückt noch selig brodelt,
ist er schon ganz woanders bayrisch stramm,
singt Vaterländisches, schuhplattelt, jodelt.
Und hier auch geht es weiter im Programm:
ein zähes Mädchen quält sich mit Gesängen,
ihr Lächeln sucht Verzeihung überall.
Die Kinder spielen lärmend in den Gängen
und bringen eine Kellnerin zu Fall.
Das Ganze lenkt im abgeschabten Rocke
der alte Invalide am Klavier,
gibt Auftrittszeichen mit der Gastwirtsglocke
und trinkt dazwischen seinen Schoppen Bier.
Jetzt zeigt ein Zaubrer seine sieben Sachen,
der aus den Gästen sich sein Opfer holt,
das er mißbraucht, es lächerlich zu machen,
und Schadenfreude durch den Laden johlt.
Verprügelt ein paar Hunde dann parieren
dem wüsten Weib im schneidigen Korsett,
sie müssen flott in Uniform marschieren
und machen ängstlich naß das Nudelbrett.
Der Endeffekt ist toll: ein Stegreifdichter -
da geht die Meute erst mal richtig los,
es schwelgt in Ferkeleien das Gelichter,
und eine Flut von Kot schwillt riesengroß,
je wüster, desto besser! Wie die Schweine
sielt jeder sich im trüben Tümpel Dreck,
und schließlich schwemmt sie alle das Gemeine
zur Stadtbahn und aufs Omnibusverdeck.
Zu Haus noch steht um sie die graue Jauche,
umstinkt den Schlaf das Vorstadt-Kabarett.
In Gluten stöhnend liegt man Bauch an Bauche
und träumt vom Kraftmann und vom Nacktballett.


07. 11. 1928

Der Absturz

Ich fühle, daß mich Unglück jetzt belauert,
von allen Seiten hält es mich umkreist.
Zu lang schon hat das Jahr der Gunst gedauert,
das nun, verwandelt, mir die Zähne weist.

Erst fing es an, verdächtig zu verstummen;
wer mit mir sprach, bereits die Maske trug,
und heimlich draußen nahte in den krummen
Verrätergassen meiner Feinde Zug.

Auch die ich liebte, hatten mich verlassen;
ich war für sie ein Nichts, ein Gaukelspiel,
zu dem man unverbindlich, nicht zu fassen,
sich vor dem Abschied gut zu sein gefiel.

Ich habe keine Kraft mehr, mich zu wehren,
ich hatte diesen Kampf zu tief durchschaut.
Vor dem, der heuchelte mich zu verehren
und jetzt mich lästert, mir unheimlich graut.

Ich werde seinem Schmähen nichts entgegnen,
verhülle still mein Haupt und halte stand.
Die Blitze zucken und die Wolken regnen,
es hilft der Todesangst kein Heimatland.

So lieblos war der Schluß mir nie erschienen
in aller Schreckensstunden Vision;
es opferte in ihren Mördermienen
doch stets ein Vater schmerzlich seinen Sohn.

Nun aber bin ich einsam preisgegeben,
gehässig starrt ringsum der Schattenwall,
und durch die leeren Höllen stürzt mein Leben,
unendlich, in erbarmungslosem Fall.


12. 12. 1928

Traum und Vergänglichkeit

Darf ich glauben,
daß auch mich noch im Wundergarten
Tage und Nächte des Glückes erwarten
mit Liebeslauben
und friedlichen Wegen
zwischen Beeten voll Märchenreseden,
wo mit mir Falter und Lerchen reden,
silbernen Segen
aus des Himmels Bechern
Sterne regnen in meine Hände,
Traumwälder schenken die Efeuwände
trunkenen Zechern?

Alles vergessen:
im Abfalleimer die welken Bukette,
Fetzen, zertretene Zigarette,
Beste vom Essen,
Geruch der Küche,
nachts des Wassers häßliches Tropfen,
morgens im Hofe das Teppichklopfen,
Dienstmädchenflüche,
Briefträgerschellen,
fahles Erwachen aus zärtlichstem Schwärmen
jäh in das lästige Autolärmen
und Hundebellen.

Wird es bleiben,
mehr als flüchtige Tröstung werden,
Sonne im Stall über jungen Pferden,
in Fensterscheiben,
in bunten Brücken,
auf Kupferdächern und silbernen Fluten,
in Wolkenspielen, im Bösen, im Guten
uns beglücken,
aus der Frauen
nachgebendem Blick und flüchtiger Güte,
Dank für Vergangnes, Zukunftsblüte,
Trost und Vertrauen?

Ach, es trügen
schlimme und frohe Wünsche und Träume,
einst weht der Wind durch die leeren Bäume,
ist in den Krügen
kein Wein und kein Wasser,
wird mich niemand lieben und hassen,
niemand von mir sich verwöhnen lassen.
Immer blasser
verwehn die Gesichte -
selige, widrige, fruchtbare Stunde,
alles wird in der letzten Sekunde
völlig zunichte!


23. 12. 1928

Weihnachtswunsch

Daß ich dich stets sehr begehre,
nur mit dir verbunden bin,
ob ich mich dagegen wehre,
dort nur zu verwunden bin,
glücklich mich zu dir bekenne,
wenn du es nicht wissen kannst,
im Gelüst nach dir verbrenne,
wenn du gut mich missen kannst:
Dieses ganz in dir Vergehen,
das sich so verborgen hält,
kaum zu ahnen, nicht zu sehen
wird der Schnee, der morgen fällt
immer tiefer noch verschütten,
daß es niemand glauben mag.
Denn es gleicht in allen Hütten
Liebe jetzt dem Taubenschlag.
Statt mein Werben dir zu sagen,
zu erringen, was ich will,
mach ich meines Herzens Schlagen
mir zur Qual gewaltsam still.
Statt die Zärtlichkeit zu zeigen,
die dich sehnsuchtsvoll umträumt,
muß mein Mund von Liebe schweigen,
wird die Stunde stets versäumt,
bleibe ich von den Papieren
unerreichbar eingekreist
wie in feindlichen Revieren,
und mein bittrer Blick verweist
deinen, der mich streicheln wollte,
daß er schüchtern sich verschließt.
Was im Vers dir schmeicheln sollte,
dann im Nachtstrom einsam fließt
durch die sterbenden Kanäle.
So begegnen wir uns nie,
und ich Glücksgewillter quäle
mich in Angst, Melancholie.
Dir so nah, vergeht mein Leben
so als wäre es dir fern.
Statt dir Kuß um Kuß zu geben,
wünsch ich stumm mir deinen Stern,
um auf ihm mit dir geborgen
vor der ganzen Welt zu sein.
Laß doch diese Weihnacht morgen
unsres Glücks Erfüllung sein!


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