Gedichte 1931

Gedichte

1931

Alle Zeitangaben zu den Gedichten geben das Datum an, dem der Text zugeordnet werden konnte.
Bezug hierzu sind die Angaben aus der Sammlung der 1987 von Klaus Völker herausgegebenen Gedichte.


Inhalt

Erinnerung an 1910

Phantasie im Winter

Die Küche

Vorspruch für den Willi-Schaeffers-Tee
zugunsten der Kinder des Kunsthändlers S. Margules

Schlemihl ist eingeladen

Fahrt ins Wintergebirge

Tiroler Winter

Palmkätzchen und Osterrute

Mit zwei Osterlämmchen aus Glas

Neißer Erinnerungen (2)

Die Jugendfreunde

Maibeginn

Die Magd und der Nachtmahr

Toller Sommer

Tod im Frühling

Vor Weltende

Vier Mann um einen Tisch

Der Orkan

Altes Mädchen im Tiergarten

Es schläft die Welt

Erster Abend ohne dich

Nach dem Regen

Die Stunde nach deiner Abreise

Der Abend nach deiner Abreise

Mein Schicksalslied

Des Kurorts alte Garde

Die glückhafte Fahrt gen Hamburg

Des Ehemannes Zuflucht oder Lob des Aborts

Requiem

Lieder für die kranke Lebensgefährtin (1-7)

Weihnachtseinbescherung des »Weißen Rößl«

Der Weihnachtsengel

Die Freßorgie

Das neue Jahr

zurück zu Max Herrmann-Neiße - Gedichte 1924 - 1941

zurück zu den Gedichten von Max Herrmann-Neiße


 

14. 01. 1931

Erinnerung an 1910

Wie sehr wir damals nach euch Frauen glühten
und sahn kaum mehr von euch als das Gesicht!
Pleureusen wippten auf den großen Hüten
und auch in jedem kessen Zeitgedicht.

Als ob wir dies zum erstenmal erlebten,
ließ uns verrucht Mondänes keine Ruh.
Wildlederschuhe unsern Weg umschwebten,
durch unsre Träume rieselte Froufrou.

Wir wurden schwach vor aufgebauschten Roben,
vor Spitzenrausch und knackendem Korsett.
Es freute eine Rundung unten, oben,
es hüpfte vorn wie hinten prall und nett.

Wir träumten nur davon, von dem, was seiden,
geheimnisvoll und knisternd euch verbarg,
die holden Evas zärtlich auszukleiden,
und wir poussierten harmlos euch im Park.

Wir luden euch zur Fahrt im Ruderboote,
sprachen von Dehmel auf dem Gondelteich.
Ihr naschtet gern Schlagsahne, last Tovote
und wart aus unbekannten Gründen bleich.

Sonst wurde sportlich Tennis nur getrieben,
die Kleider fegten leidenschaftlich Dreck.
Ein weißes Höschen sehn, hieß: sich verlieben,
doch dies Verlieben hatte keinen Zweck.

Begann auch grad die Zeit der engen Röcke,
noch enger war um euch der Sitte Netz,
es trennte streng die Lämmer und die Böcke
ein unerbittlich heuchelndes Gesetz.

Trotzdem auch damals Glück den Kühnen blühte,
Korsett und Röcke wehrten ihnen nicht.
Mir leider blieben nur Pleureusenhüte
in der Erinnerung - und dies Gedicht.


 

18. 01. 1931

Phantasie im Winter

Eine Blume aus Schnee. Ein Windspiel im Eis.
Tannen in Tüll. Weiße Glocken.
Es rollt eine Bahn auf ewigem Gleis
lautlos in grauen Socken.

Es bauscht um die Welt sich ein Winterkleid;
Wälder aus Glas, dunkle Kruste.
Es ist das Leben zum Letzten bereit:
Segen, Gewinn, Verluste.

Eine Spur über Gräber. Wer weiß, wohin?
Häschen erstarrt, kaum geboren.
Und wenn ich ganz nah deinem Herzen bin,
sind wir beide verloren.

Eine Brücke zum Nichts, verschneit, vereist.
Teiche aus Schwermut und Schweigen.
Wer jetzt durch die Unendlichkeit reist,
dem wird der Tod sich zeigen.

Ein Kreuz, ein Gestirn, vielleicht auch ein Weib,
nackt, mit offener Wunde.
Es bleibt dieses Dasein ein Zeitvertreib,
Jahrhundert und Sekunde.

Eine Großstadtgesellschaft, ein Künstlertee,
Zugspitze, Schneekoppe, Brocken, -
Die Träume von Eis und ewigem Schnee,
lautlos dröhnende Glocken.


 

01. 1931

Die Küche

Es duftete nach Nelken und Muskat
und einer Ahnung von sehr feinem Käse.
Die Köchin rührte eifrig den Salat,
als ob sie nebenbei im Kochbuch läse.

Ein Schüsselchen stand auf dem Fensterbrett
mit etwas Dampfendem. In dem Regale
warteten Bockbierflaschen, Gänsefett,
Tomaten und der Rest von einem Aale.

Verlassen lag ein Kriminalroman
und dicht dabei ein Messer auf dem Tische.
An der Tapete hing ein Stundenplan:
wann gibt es Wild, wann Schweinernes, wann Fische?

Der Köchin nackter Arm war recht brutal.
Es zischte in der Glut, das Eisen brannte.
Vergiftet hätt' sie gern der Herrschaft Mahl,
doch wußte sie, daß jeder Gast sie kannte.

So fraß sie, was sie konnte, rächte feig
sich an dem Hamstervorrat dieses Reichen;
soff seinen Wein, verdarb den Kuchenteig
und haßte seine Frau und ihresgleichen.

Auf mich, den Eindringling ins Küchenreich,
blickt sie mit hinterhältig böser Miene.
Es weht durchs Fenster übern Schlittschuhteich
wie eine Aufruhrfahne die Gardine.

Ich bin befangen, weiß mir keinen Rat.
Die Köchin macht geschäftig Mayonnaise.
Sachlich riecht es nach Nelken und Muskat
und einer Ahnung von sehr feinem Käse.


 

 

28. 01. 1931

Vorspruch für den Willi-Schaeffers-Tee
zugunsten der Kinder des Kunsthändlers S. Margules

     1
Der Maler steht am Staffelei-Gestell
hemdsärmlig, stumm, die Pfeife stag im Munde:
er ist in seiner großen Schöpferstunde
allein mit seinem Gott - und dem Modell.
Von fern zu ihm empor undeutlich dringt
ins Atelier das laute Weltgetriebe.
Auch einsam in fruchtbarer Eigenliebe
am Schreibtisch mit dem Werk der Dichter ringt.
Jedoch allabendlich zur gleichen Zeit
sind Künstler in dem grellen Rampenlichte
rasch preisgegeben einem Volksgerichte
und öffentlich ihr Werk zu tun bereit.
Und hüten jene heimlich ihre Glut,
stehn diese mitten auf dem Markt in Flammen.
Und endlich kommen heut sie doch zusammen,
weil jeder gern für Menschen Gutes tut!

     2
Kunst ist, ob groß, ob klein, erkauft mit Blut,
Hingabe, überstrahlt vom goldnen Rahmen,
und grade bei der Kleinkunst, falsch im Namen,
ist klein die Geltung, groß der Opfermut.
Man gibt sein Bestes. Spürt die böse Wacht
des Herrn Direktors hinter seinem Rücken
und vor sich selber alle krassen Zufallstücken
der unberechenbaren Hörermacht.
Die Kellner machen leise Lärm. Es niest;
der Hustenausbruch darf dich gar nicht stören.
Der Herr im Smoking wünscht dich nicht zu hören,
weil er erst schnell mal seine Zeitung liest.
Bei alledem mußt du sehr friedlich sein;
nur die Gewißheit kann dir Lust bereiten:
du schänkst in diesen unglücklichen Zeiten
dem Publikum den rechten Stimmungswein.

     3
Den Wein, der über düstre Sorgen trägt.
Kein Kanzler könnte Besseres ersinnen.
Und was wir hier bei Tee und Spiel beginnen,
soll, was auch alltags quält und Wunden schlägt,
bekümmert oder schreckt, verletzt und drückt,
für eine Weile ganz vergessen machen,
daß auch ein wenig harmlos gutes Lachen
doch zwischendurch mit kurzem Trost beglückt.
Und wieviel wert ist in dem tristen Heut,
wo jeder Schlimmstes fürchtet, will verzagen,
die Insel, wo vergnügt zu sein sie wagen
und wo man sich, trotz allem, herzhaft freut!
Was gäbe schließlich jeder Staatsmann drum,
wie hier die Kunst sich eint, aus guten Gründen,
zum Glück der Welt die Völker zu verbünden?
Ich grüß' dich, Klein-Europa-Publikum!


 

03. 02. 1931

Schlemihl ist eingeladen

Erst zu Haus das Anziehn schreckte,
wo man ein Martyrium litt,
Flecke auf dem Frack entdeckte
und sich beim Rasieren schnitt
und die Wäsche blutig hatte,
und der Kragen ging nicht zu.
Und wer bindet die Krawatte?
Schrecklich quetscht der neue Schuh!
Endlich ist es doch gegangen,
und man harrt am Straßenbord.
Doch ein freies Auto fangen,
ist ein äußerst schwieriger Sport.
Fühlt man glücklich sich entgleiten
und kommt ohne Unfall an,
muß man mit dem Fahrer streiten,
der fünf Mark nicht wechseln kann.
Nach dem zehnten Klingelzeichen
naht ein mürrisches Gesicht.
Mühsam mußt du aufwärts schleichen,
denn der Fahrstuhl geht heut nicht.
Fühlst du oben dich am Ziele
in Erwartung aufgekratzt,
merkst du plötzlich in der Diele,
daß dein Hemd schon aufgeplatzt.
Und du sehnst dich in dein Bette,
nackt ist deine Hühnerbrust,
und du fliehst zur Toilette,
weil du dich erholen mußt,
bastelst dort in stillem Grame;
einigermaßen hält der Knopf.
Linkisch vor des Hauses Dame
stolperst du mit rotem Kopf.
Sicher kam man viel zu zeitig,
steht herum in dem Salon
und belästigt gegenseitig
sich mit Konversation.
Auch dein Todfeind ist geladen
und begrüßt dich trügerisch.
Eine Kuh mit dicken Waden
führst du sehr enttäuscht zu Tisch.
Sie entblößt im Uberschwange,
daß ihr Herz für Mystik schlägt,
und es gibt von Gang zu Gange,
was dein Magen nicht verträgt.
Ist die Tafel aufgehoben,
findet man sich grüppchenweis,
wirst du sicher falsch geschoben
in den ganz verfehlten Kreis:
dort kann man den Mund nicht halten,
plätschert uferlos im Kitsch
und, dich durchaus auszuschalten,
spielt man allenthalben Bridge.
Doch du wagst nicht aufzubrechen
als der erste Störenfried
und du giltst für einen Frechen,
der, wie sehr er stört, nicht sieht.
Mit Verachtung und apathisch
reicht der Diener bunte Flips,
und du trinkst dir automatisch
völlig sinnlos einen Schwips.
Ist der Aufbruch endlich fällig,
weißt du kaum noch, wo du bist,
fühlst dich fremd und ungesellig.
Alles, wie am Anfang ist:
auf dem Frack sind wieder Flecke,
und der Hemdknopf sprang heraus.
An der kalten Straßenecke
spähst du lang nach Autos aus,
mußt das einzige Damen lassen,
die du innerlich verfluchst.
Ewig irrst du durch die Gassen,
wenn du dann dein Heim aufsuchst.
Landest du in deiner Klause,
denkst du als gewitzter Mann,
daß man besser sich zuhause
gratis amüsieren kann.


 

Ende 02. 1931

Fahrt ins Wintergebirge

Rauchfahnen schwingt der Zug. Die Wälder sind
beständig auf der Flucht vor seinem Schrei.
Ein Dorf dreht sich behend an ihm vorbei,
im Schnee versteckt ein Kirchlein sich geschwind.

In einem blauen Abend landest du,
die Sterne hängen deinem Haupte nah.
Was in den Städten Schlimmes dir geschah,
verstummt vor dieser wundersamen Ruh.

Die Berge geistern weiß zum Mond empor,
es knirscht die Kälte unter deinem Schritt;
so wandert ihr, Wind, Mond und Mensch, zu dritt
und findet schließlich vor ein Schenkentor.

Du schlüpfst beglückt ins wirtlich warme Haus,
die Flocken wehn mit dir zur Tür herein.
Ist draußen jetzt die Nacht mit sich allein,
bist du gesellig hier bei Trank und Schmaus.

Dann wachsen aus dem Schlaf der ersten Nacht
im neuen Obdach Träume seltner Art:
noch einmal jagt durch Winterwald die Fahrt -
und früh bist du im Märchenland erwacht.


 

02. 03. 1931

Tiroler Winter

Wie Karneval im Schnee gibt's hier Kostüme:
die Busen in den Sweatern machen froh,
es hüpfen Äpfelchen und Ungetüme,
prall füllt die Buxe mancher Prachtpopo.

Vom Fenster blick ich auf den weißen Hügel,
wo die Skischüler Kritzellinien ziehn;
doch plötzlich flattert auf mit Krähenflügel,
was mir Kurzsichtigem als Mensch erschien.

Dann stülp ich mir die Kappe auf die Glatze
und patsche mühsam steilen Pfad zu Fuß,
turne, wie pfotenschlenkernd eine Katze,
schwerfällig durch das aufgetaute Mus.

Um bald in einem Kaffeeschank zu landen,
der sich vergebens als mondän beschreit.
Wie beim Berliner Atelierfest fanden
falscher Naturbursch' sich und Hosenmaid.

Und wenn sie dann aus allen Poren schwitzend
zur Gasthauskrippe krochen nach dem Tanz,
stand immer noch vor Himmelstoren blitzend
der Berge menschenfeindlich weißer Glanz.


 

19. 03. 1931

Palmkätzchen und Osterrute

Es knospet Liebe zärtlich weich und seiden
am Weidenzweige, der sich sinnlich biegt.
Stets hat nach tapfer überstandnem Leiden
des Lenzens Auferstehung erst gesiegt.

Noch immer hält das Eis sich auf den Teichen,
das letzte Spieglein Winter, das es gibt,
und wird erst vor den scharfen Streichen weichen,
mit denen ihn die Sonne striemend liebt.

Schon bindet jeder Liebende zur Rute
Palmkätzchenzweige, daß als strenger Mann
er aus dem auferweckten Opferblute
sich österlich Hingabe holen kann.

Das ist ein schöner Brauch in Schlesiens Gauen,
»Schmackoster« heißt das Rutenbündel dort.
Nach Herzenslust kann Mädchen man und Frauen
an diesem Tag verhauen, heilger Sport!

Von früh bis abends hat auf meiner Gasse,
die Jagd nach weiblichen Popos gespukt.
Man sieht: in unbefangnen Volkes Masse
ist der Sadismus ein Naturprodukt.

In diesem Falle fühl ich mit der Menge
und will der allgemeinen Sitte wohl
und segne bei der liebevollen Senge
des Weidenbündels brauchbares Symbol!


 

Ostern 1931

Mit zwei Osterlämmchen aus Glas

Es steht in meiner Osterwiese Gras
ein schwarzes Lämmchen neben einem weißen:
Das weiße schmeichelt dir, das Schwarze will dich beißen,
doch beide sind zerbrechlich, sind aus Glas.

Sie sind ein unzertrennlich Zwillingspaar,
du darfst dich nicht für eines nur entscheiden.
Dies macht dich glücklich, jenes macht dich leiden,
dies birgt für dich die Freude, jenes die Gefahr.

Geschenk für dich ist beides, Schmerz wie Lust:
eins liebt im Guten dich und eins im Bösen,
und du allein vermagst sie zu erlösen.
So nimm sie gnädig beide an die Brust!


 

05. 04. 1931

Neißer Erinnerungen (2)

Als der alte Schauspieler uns besuchte,
war Neiße und die Welt vor dem Krieg wieder nah:
wie sehr ich dich liebte, du damals schon hold Verruchte,
über uns zärtlich Umarmten am Wall Flieder sah!

Immer duftet seit damals Flieder verfänglich
in jede Liebesstunde, die leider nur Sehnsucht beschert,
denn jetzt bin ich vor dir allzu schüchtern und bänglich,
daß bloß mein schwärmender Traum dich verstohlen
          begehrt.

Wieder hingen die Mimenbilder im Zigarrenladen,
wieder saß ich wie einst auf dem Logenplatz,
irrte nach Vorstellungsschluß durch die Flußpromenaden,
in die Wellen singend: »Geliebter Schatz!«

Traf mich dann mit dem endlich Abgeschminkten
in der Hinterstube vom Branntweinschank,
aber an deiner Mädchenkammer klinkten
heimlich meine Gedanken vor verhehlter Begierde krank!

Torkelten wir spät nachts durch den Nebel heim wie
          Gespenster,
machte ich selig ergriffen vor eurem Haus Halt,
brachte dir lärmend ein Ständchen. Es wurde dein Fenster
wütend über die trunknen Radaubrüder zugeknallt.

Weißt du noch, wie am kältesten Wintertage
uns zu einer Schlittenpartie hat der Satan vernarrt?
Da kein Schlitten sich fand, hast du ohne Klage
in der kalten Kutsche die lange Fahrt ausgeharrt.

Wie wir dann im unfreundlichen Gartenlokale
Grog tranken und kamen nicht mehr ganz nüchtern
          nach Haus,
hatten keine Zeit mehr zum abendlichen Mahle
und schwärmten gleich wieder zum Theater aus.

Was für unerwartete Abenteuer (allzu harmlose!)
diese Nacht noch uns beiden hat geschenkt!
Am Bahnhofsbuffet stand im Glas eine halb welke Rose;
als der Schauspieler in den fahrenden Zug sprang, hat der
          Beamte so ulkig seine Lampe geschwenkt.

Plötzlich merktest du, du hattest den Hausschlüssel vergessen.
Die junge Schauspielerin beherbergte dich diese Nacht,
aber ihr Leutnant wartete unten vergebens indessen
auf Einlaß und hegte begreiflichen, bösen Verdacht.

Auch deine Mutter, als du im unpassenden Theaterstaate
am Morgen erst heimkamst, hat dir nichts geglaubt.
Aber bald fragtest du nicht mehr nach ihrem Rate.
Wie sicher trugen wir damals im Stolz unsrer Liebe
          erhoben das Haupt!

Wie waren wir damals uns selber genug in unserem Glücke
und brauchten sonst keinen Menschen mehr auf der Welt!
Doch bald schlug der Krieg auch unsre Insel der Seligen
          in Stücke,
zerriß über unserm Liebeslager das segnende Sternenzelt.

- Jetzt besuchte uns nach Jahren der alte Schauspieler
und zauberte zurück den vergangnen Märchenwald.
Als er schied, sahn wir uns an und spürten vieler
Erinnerungen Ostern erwachen, es blühte wie einst
          deine Mädchengestalt.

Nichts hat sich geändert. Ich bin dir wie damals ergeben.
In unsrer Verliebtheit sind wir wie damals so jung und zu
          allem gewillt,
vor uns liegt wieder ein ganzes, vielfältiges Leben.
Wie sehr ich dich liebe, immer ein Werbender, ewig
          ungestillt!


 

01. 05. 1931

Die Jugendfreunde

Sind sie ganz verschwunden und versunken
in dem Alltag, tot die wunderbaren,
bunten Jugendstunden, da wir trunken
von Gedichten und von Liebe waren?
Im Berufe, in den Kleinstadtsorgen,
im Familienpferche eingefangen,
tiefre Stufe tretend jeden Morgen,
leugnen sie das frühere Verlangen,
leugnen sie das Hoffen, die Verschwörung,
die uns einst zu Kameraden machte.
Nicht mehr offen sind sie für Betörung,
und ihr Gang ward wohlbewahrt und sachte.
Kläglich neben ihren Ehekühen
wandeln sie in würdevoller Kälte,
sind zum Lohn für braves Wohlbemühen
Oberlehrer, Ärzte, Rechtsanwälte.
Streichelt niemals, seis auch für Minuten,
ihre Wangen eine warme Welle
der Erinnerung?
Vielleicht im Guten
hat der eine nur, der Junggeselle,
der, versponnen in sein Abseitsleben,
einsam wandert, bechert, schmaust und schmökert,
sich besonnen jäh und zugegeben,
daß auch er im Amt sein Herz verhökert.
Er ist unser, weil er dies erkannte,
auf der biergerechten Märchenwiese
seiner Scheu das Feuerwerk abbrannte
unsrer alten Jugendparadiese!
Traf ich ihn in Stunden, traumversunken,
tauschten wir die schönsten Schulgeschichten,
waren ungebunden jung und trunken
von verlegner Liebe und Gedichten.


 

05. 05. 1931

Maibeginn

Die Liebespärchen auf den Gartenbänken
sind wieder unbesorgt und hemmungslos.
Die Schwangre schiebt es auf, sich zu ertränken,
und schenken will sich mancher Mädchenschoß.

Ein Pferd wird närrisch unter seinem Reiter,
der Duft des jungen Grüns macht beide toll.
Und in den Himmel starrt der Park-Arbeiter,
der die Promenadenwege harken soll.

Die Enten, die sonst träg im Teich verbleiben,
flattern hoch in den Lüften Hochzeitsjagd.
Gern sehn die Menschen zu solch wildem Treiben.
Und derber kneift der Koch die Küchenmagd.

Die sich vereint vors Villentor getrauten,
er weiße Mütze; Schürzchen sie kokett.
Sogar den Unbehausten, Abgebauten
wird heut des Parkes Bank zum Ehebett.

Die Sipos schneiden freundliche Gesichter
und nehmen nirgendwo ein Ärgernis.
Der Händler denkt: »In mir auch steckt ein Dichter!
die dürre Miß fletscht sinnlich ihr Gebiß.

Ein kleiner Dackel macht sich überheblich
an eine Riesendogge; Brunst ist blind.
Auch das Gebalz des Weißbarts bleibt vergeblich:
die junge Frau spricht nur zu ihrem Kind.

Und plötzlich ist auf allen Sandspielplätzen
ein Überfluß von Göhren laut und dreist.
Es schwirrt die Luft von Wärteringeschwätzen,
darin Alkovenklatsch und Bosheit kreist.

Zu einem Zeitungsleser, der Verstecken
spielt hinterm Blatt, getraut sich eine Maus,
und geht possierlich hoch, sieht ihn aus kecken,
geputzten Äuglein an, schlüpft in ihr Haus.

Dann steht ein roter Mond am Abendhimmel,
in den der schimmernde Asphalt sich schwingt.
Es jubeln Autohupen, das Gebimmel
der Straßenbahnen orgiastisch klingt.

Ein Liebespärchen sitzt in jedem Wagen
und winkt hinaus zu fremdem Liebespaar.
Und für zwei Junge, die sich Holdes sagen,
beginnt im Augenblick ein Wonnejahr.


 

03. 06. 1931

Die Magd und der Nachtmahr

Vor ihrer Tür streut sie dem Nachtmahr Zucker.
Er liebt das Bittre und verheert den Garten.
Der Nachbar sieht durch seinen Operngucker
sie stundenlang den Alp erwarten.

Am andern Morgen liegt sie krank im Bette,
verlangt den Arzt. Der Nachtmahr zieht die Schelle.
Da wird sie bös, legt an die Tür die Kette
und wehrt so auch dem Retter ihre Schwelle.

Im Fieber wirft sie ohne Trank und Nahrung
sich einsam hin und her, den Alp beschwörend.
Der Nachbar schlüpft herein, erschleicht die Paarung,
sie mit des Nachtmahrs Maskenbild betörend.

Wie glücklich ist sie, weil sie dies genossen!
Nun sagt sie gern zu ihrem Abschied Amen.
Der Nachtmahr spielt der toten Magd noch Possen
und tilgt von ihres Grabes Kreuz den Namen.


 

06. 06. 1931

Toller Sommer

Unverhofft an einem Morgen
wird es wieder Sommer sein,
gibt es keine Ofensorgen,
kampfert man die Pelze ein
und entledigt sich der Weste,
trinkt nachmittags Eiskaffee.
Abends sind im Freien Feste
statt im schwülen Atelier.
Selbst den misogynen Denkern
steht der Sinn nach einer Frau:
daß dort nackte Brüste schlenkern,
freut sie an der Negerschau.
Wieder gibt es kleine Enten
spielzeughaft im Gondelteich,
und die Luftbad-Abonnenten
sind antiken Faunen gleich.
Wieder zeigt sich in der Lichtung
ein Kaninchen, jung und keck.
Und es blüht wie eine Dichtung
Ruth am Omnibusverdeck,
in des Röckchens Laubdach
locken ihre schmalen Beine dich,
Sipo läßt die Wagen stocken,
grinst und denkt das seine sich.
Mitten in dem Stadtgetriebe
duftet es nach jungem Heu,
das verpönte Wörtchen Liebe
wirkt noch einmal köstlich neu.
Selbst geschäftliche Gespräche
klingen seltsam lustbetont.

Ja, das Herz des Maklers bräche,
würde nicht sein Feind geschont.
Eine greise Operette
Glück der Sommerbühne bringt.
Schmierenheld und Juxsoubrette
durch den Lärm des Donners dringt.
Schlägt ein Blitz in das Finale,
steht die ganze Stadt in Brand.
Früh kühlt in der Brunnenschale
sich der Sommergott die Hand.


 

13. 06. 1931

Tod im Frühling

Endlich zeigt sich erstes Grün
an der Gartenmauer.
Doch in mir fühl ich erblühn
nichts als harte Trauer.

Ein unsagbar bittrer Harm
Frühlingsrot belastet.
Fröstelnd spür ich, mittagswarm,
wie mich Tod betastet,

daß in jedem frischen Blatt,
den ein Zweig mir reichte,
wieder welk und sterbensmatt
schon die Welt erbleichte.

Nächsten Jahres erstes Grün
wird in Witwentrauer
über meinem Grab erblühn
an der Friedhofsmauer.


 

17. 06. 1931

Vor Weltende

An sich selber verderben,
Tag um Tag, Nacht um Nacht,
stündlich näher dem Sterben,
näher dem Wahnsinn gebracht.

Gegen sich selber wüten,
grundlos und ohne Maß,
weil die Jahre verblühten,
eh man sie sinnvoll besaß.

Nur nach Schweigen sich sehnen,
nach unendlicher Ruh,
danach: die Wange zu lehnen
an ein stumm zärtliches Du.

Dieses auch trotzend zerstören,
jedes Glück, noch so kurz.
Immer den Dämon beschwören,
Rache und Höllensturz.

Abendlich schlafen am Strande,
durch eigne Unrast verdammt,
in dem kühlenden Sande
teuflische Brände entflammt.

Aus dem besten Bestreben
bricht plötzlich ungewollt Wut:
friedlich gedachtes Leben
dampft von vergossenem Blut.

Selber den Trosttraum sich rauben,
jede Zuflucht und Ruh,
schließlich gar nicht mehr glauben
an ein zärtliches Du.

Um keine Liebe mehr werben,
von keiner Freude erfaßt;
nur noch einsam dem Sterben
angstvoll sich näher gehaßt!


 

06. 1931

Vier Mann um einen Tisch
(Für Heinz Liepmann)

Vier Mann um einen Tisch. Karl ist noch nüchtern . . .
Die Braut sitzt neben ihm. Die Kufe kreist.
Das Mädchen schluckt gezwungen, lächelt schüchtern,
weil man auf ihre schmalen Beine weist.

»Sie sieht zwölfjährig aus«! grölt einer trunken.
Karl schlägt die Kanne wütend auf das Holz.
Längst ist der andre lallend umgesunken,
die Braut sitzt starr, ein Bild aus Scham und Stolz.

Drei Männer würfeln. Karl mit stillem Grimme:
er wäre lieber ganz allein zu Haus,
und plötzlich überschlägt sich seine Stimme:
»Fritz Halm betrügt«. Die Lichter löschen aus.

Es ist ein dunkler Kampf auf Tod und Leben.
Ein Röcheln nur. Die Braut sitzt artig still:
siegt er, sie wird ihm tolle Küsse geben,
trifft ihn das Messer: amen, wie Gott will!

Am Boden liegen schließlich stumm zwei Leiber,
der Wirt macht wieder Licht, man rechnet ab,
Karl sagt erklärend: »Die verfluchten Weiber!«,
nimmt seine Braut und setzt sich stramm in Trab.


 

18. 06. 1931

Der Orkan

Erst erschien eine kleine Wolke am Blau,
harmlos, wie ein Spiel an des Himmels Hain.
Neben mir auf der Bank, die nervöse Frau
witterte schon das Kommende, sie allein.

Aber ich mißdeutete ihr Gebaren,
lächelte sieghaft sie an und sprach galant. -
Plötzlich war es dunkel, und von Gefahren
panischen Maßes wurden wir wüst überrannt.

Winde wirbelten Sand. Es packte die Hand,
nur noch Selbsterhaltung, des Sitzes Gewicht.
Wasser stürzte ans Land. Es schlug das Gewand
über der Nackten hoch: Ich sah, und sah nicht.

Warum suchten wir nicht in starkem Umarmen
uns gemeinsam zu retten? Wir waren nur Haß.
Und ich hätte die Frau ohne jedes Erbarmen,
gält es mein Leben, gestoßen ins schäumende Naß.

Aber da hielt schon die hölzerne Bank nicht mehr,
und ich warf mich rechtzeitig zur Erde hin,
krallte mich fest ins Gras. Am Brückenwehr
brachen die Kähne. Es stürzten die Pferde hin.

Bäume wurden wie Rohr geknickt. Die Ratten
rannten an Land. Ein Haus stand ohne Dach,
offen wie eine Schachtel. Menschenschatten
lagen in ihr, vor Sterbensangst reglos, wach.

Leise beginnt neben mir die Stimme der Frau,
die ich verloren glaubte, von Demut vermummt.
Ich antworte nicht. Es bricht das Blau
wieder am Himmel durch, der Sturm verstummt.

Sonne strahlt. Ich erheb mich gelassen. Ich blase
mir den Staub vom Ärmel. Ich schreite nach Haus.
Die Kaninchen knabbern wieder im Grase,
als wäre nichts geschehn, ihren Abendschmaus.


 

19. 06. 1931

Altes Mädchen im Tiergarten

Ein Mädchen sieht am Baum den Namenszug,
den einst ein Jüngling in die Rinde schnitzte.
Sie denkt, wie sehr sie damals sich erhitzte
in Liebesglut - heut ist sie kühl und klug.

Sie wartet auf das Weh, das kommen muß,
weil allzulang die Not sie schon verschonte.
Als einst das Abenteuer sich noch lohnte,
verschwendete sie schwärmend Kuß um Kuß.

Und schließlich war sie taub und ausgeraubt.
Heut hat sie nichts zu nehmen und zu geben:
leer läuft und lustlos ihr verfehltes Leben;
auch ihrem Blut hat sie nicht mehr geglaubt.

Sie gönnt sich kein Geschenk und keinen Traum.
Heut, sonntagnachmittags, saß sie im Parke,
verachtete das Pärchen in der Barke.
Doch plötzlich sieht das Zeichen sie am Baum.


 

15. 07. 1931

Es schläft die Welt

Es schläft die Welt. Die Angst vor argem Wetter
ist bis zum Morgen noch einmal vertagt;
vielleicht, daß von den Sternen steigt der Retter,
der ihrer Not das Wort der Gnade sagt.

Sie schlummert endlich, fern der bösen Stunde,
da sie die Größe der Gefahr erfuhr.
Es rauscht der Bach. Wie immer bellen Hunde.
Beruhigt schlägt vom Kirchenturm die Uhr.

Die Berge sind wie hohe, dunkle Wälle
schützend um diesen schweren Schlaf gebaut.
Der silberne Choral der Wasserfälle
bleibt wider alle stumme Drohung laut.

Die Bäume auch, wie sanft besorgte Schwestern,
machen sich durch geheimen Zuspruch Mut.
Ins Stallgeraune aus den Schwalbennestern
äugt ängstlich ahnungsvoll die junge Brut.

Nur einem Träumer ist, als läuten Glocken
den Frieden ein, der Ewigkeiten währt;
am andern Tag ist er zu Tod erschrocken,
wenn ihm das Ungeheure widerfährt.

Doch traumlos schläft die Welt sich hin zum Leide,
das ihrem nahen Schicksalstage droht. -
Geruhsam zieht zu ihrer Alpenweide
der Rinder Schar beim ersten Morgenrot.


 

21. 07. 1931

Erster Abend ohne dich

Die Margeriten in der Vase
sehn abends deinem Abschied traurig nach.
Natürlich hocke ich vor meinem Glase
und überdenke alles Ungemach.

Im Saal daneben tanzen sie wie immer,
macht die Kapelle mit Gewalt Radau;
nicht auszustehen ist das Frauenzimmer,
sie summt, die ganze Welt sei himmelblau.

Die Tochter überwacht ein Sachsenvater,
zwei Lackl spielen stumm verbissen Schach.
Logisbesitzer spiel'n galant Theater
und bleiben lang mit fremden Damen wach.

Dann tapp ich heim durch dieser Ortschaft Schlummer,
den Berge wie Verschworne starr umstehn.
Mit hellen Augen überwacht ein stummer
Sternhimmel vorwurfsvoll mein spätes Gehn.

Wölbt über deinem Schlaf sich jetzt der gleiche,
mir nah, entferntest du dich noch so weit?
Und wenn ich dich mit meinem Traum erreiche,
ist ihm der deine hochzeitlich bereit?


 

01. 08. 1931

Nach dem Regen

Es hat bis nachts um zwei geregnet,
nun geh ich aus dem Schank nach Haus,
der Mensch, der mir dabei begegnet,
sieht wie des Feindes Schatten aus.

Das Wasser strömt von allen Seiten,
das Dorf schwimmt als ein Totenfloß.
Hält mich die Brücke noch? Wir gleiten,
mein Feind und ich, schon uferlos.

Der Berg ist eine Brunnenschale,
in die der Glanz der Sterne fiel.
Der Überfluß wird See im Tale,
und auf ihm treibt des Mondes Kiel.

Es schütteln triefend sich die Nässe
des Waldes Tannen vom Gewand.
Verhallend drohen Donnerbässe
zum letztenmal dem stummen Land.

Der Schattenfeind ist längst zerflossen,
und mich ließ meine Arche ein.
Ich hab die Fenster fest verschlossen
und bin mit meiner Not allein.


 

11. 08. 1931

Die Stunde nach deiner Abreise

Du ließest mich allein: die Welt ward leer.
Ich sah dich noch im Auto stehn und winken . . .
Mir war, als läge zwischen uns ein Meer
und unsre Liebe müßte drin ertrinken.

Als dann der Wagen meinem Blick entschwand,
begann ein unbeherrschter Dauerregen,
verhüllte sich das ganze bunte Land,
als ob es mit mir traure deinetwegen.

Die Berge sanken in das Sintflutmeer,
der Sommer wurde eine ferne Sage.
Du ließest mich allein. Die Welt ist leer
und lebt erst auf am Wiedersehenstage.


 

11. 08. 1931

Der Abend nach deiner Abreise

Ich denke voller Zärtlichkeit an dich,
geh ich allein jetzt unsre Abendwege;
in Wiesen ist noch einmal sommerlich
das unsichtbare Lied der Grillen rege.

Doch hebt der Herbst schon seine kalte Hand,
die Welt unheimlich wieder anzufassen.
Das gute Rot an des Gebirges Wand
beginnt vorzeitig plötzlich zu verblassen.

Und ein bedrohlich dichtes Dunkel steigt
hernieder von den schneeverlornen Schroffen.
Der Wind im Laubverstecke bänglich schweigt,
und nichts, was blüht, hält mehr sein Auge offen.

Ist dies der Anfang einer ewigen Nacht?
Ich flüchte rascher in des Dorfes Gassen.
Heut früh noch bin ich neben dir erwacht -
Wie sehr fühl ich mich jetzt allein gelassen!

Im Zwielicht gleicht dir scheinbar das Gesicht
der Frau, die mir von fern entgegenschreitet.
Sie geht vorüber, und du bist es nicht:
ich hab umsonst die Arme ausgebreitet.

Wo jetzt dein Atem wohl den Traum belebt,
wenn alle Dinge in den Schlaf versinken?
Fühlst du, wie zärtlich dich mein Traum umschwebt
und daß wir von dem gleichen Nachtwein trinken?


 

15. 08. 1931

Mein Schicksalslied

Mir hat die Zeit die Fröhlichkeit geraubt,
am Seufzerbach entlang führt nun mein Pfad,
ich aber hatte wie ein Kind geglaubt,
er brächte mich zum Glück gelind und grad.

Ich weiß nicht, welches Sternbild mich bestimmt,
und ob es jetzt auf meine wache Nacht
herniederblickt und mir die Ruhe nimmt
als am Vorabend der Entscheidungsschlacht.

Vielleicht denkt in der Ferne liebevoll
an mich ein Mensch, der mir nicht helfen kann;
ich aber weiß nicht, was noch Liebe
soll einem vom Schicksal schon verfemten Mann.

Und wie ein Freund verfällt und nicht mehr ist,
noch weniger als Feind, erfuhr ich längst.
Was willst du, der mir doch verloren ist,
daß du dich noch an meine Spuren hängst?

Zu lang hab ich dem falschen Trost geglaubt,
der Freundschaft, Liebe oder Glück sich nennt;
jetzt hat die Zeit mich gründlich ausgeraubt,
einsam und klug geh ich den Weg zu End.


 

08. 1931

Des Kurorts alte Garde

Methusalems Alter scheint hier Pflicht:
es wimmelt von greisen Ziegen.
Sie tun sehr mobil und genieren sich nicht
und sind nie totzukriegen.

Sie krabbeln hinauf auf den höchsten Grat
und schwelgen in Schnaps auf den Almen,
bei schlechtem Wetter spielen sie Skat
und können wie Holzfäller qualmen.

Sie tragen sich wie auf dem Trachtenfest
in schreienden Dirndlkledagen,
sie halten den Kellner, den Eintänzer fest,
am liebsten den jüngsten Pagen.

Sie hocken länger als ich in der Bar
und machen nie ein Ende.
Werd ich, wie sie, je hundert Jahr,
bin ich nur noch Legende.


 

30. 08. 1931

Die glückhafte Fahrt gen Hamburg
(Dem lieben Willi Schaeffers in herzlicher Dankbarkeit)


     1

So wie die Abfahrt war die ganze Reise:
geruhsam und gemütlich und getrost;
wir überstürzten nichts, genossen weise,
was uns das Schicksal hatte ausgelost,
begnügten uns mit dem Geschenk der Stunde
und waren nicht beständig auf der Jagd
nach wieder einem neuen, seltnen Funde
und haben gern uns manches auch versagt,
um manches Unverhoffte einzutauschen:
daß Hexenwinde um den Brocken wehn,
auf einer Dirne holdes Plaudern lauschen,
andächtig in der Kirchendämmrung stehn.
Das ist dem Spender dieser Fahrt zu danken,
und ich bekenne: bessren weiß ich nicht!
Was wir zusammen sahen, aßen, tranken,
es wurde ihm zu Ehren jetzt Gedicht.

Nun werdet ihr nach diesem liebevollen
doch allzulangen Auftakt klipp und klar
vermutlich ungeduldig wissen wollen,
wie denn besagte Abfahrt wirklich war.


     2

Ich erwachte zu spät und beeilte mich sehr
und stand vor dem Haustor lange
und dachte, er käme nimmermehr,
und dachte und wartete lange.
Dann kam er endlich und war noch allein,
und der Sohn sollte auch noch abgeholt sein;
so fuhren wir sacht um die Ecken
und hupten, ihn leise zu wecken.

Dann warteten wir vor des Sohnes Haus,
ich saß geduldig im Wagen.
Inzwischen ging der Herr Vater aus,
seiner Frau telefonisch was sagen.
Und als des Sohnes Erscheinen geschah,
da war plötzlich der Papa nicht mehr da;
Herr, es geschehe dein Wille,
sei stille, mein Herze, sei stille!

Worauf der Herr Sohn seinen Abschied nahm,
nun Zeitungen einzuholen.
Als dann der Vater wiederkam,
hat sich der Chauffeur empfohlen:
es fehlten die Riemen zum Kofferverschluß,
dann suchte Papa eines Schnapses Genuß.
Nur ich blieb, bei wechselnder Meinung,
der Pol in der Flucht Erscheinung.

Und als der Chauffeur einen Riemen gebracht,
der ward als untauglich befunden,
da hat er sich nochmals aufgemacht.
Dann war wieder der Vater verschwunden.
Dann verlor ich meiner Sinne Gewalt
und träumte, ich würde im Auto uralt -
da fuhren wir längst große Strecken,
ganz sachte, mich nicht zu wecken.


     3

Kyritz: des Namens Gewalt
bannt literarisch uns fest.
Gerne machen wir halt
und betrachten das Nest.
Marktplatz, das Rathaus, Gericht,
alles ländlich verbrämt,
doch der Denkerspflicht
hier auch kein Richter sich schämt.
Sondern sie üben frisch
Honoratiorenbrauch.
Unter dem Wirtshaustisch
wölbt sich der Würdebauch.
Sherry und Schinkenbrot
stärkt unsern Reisemut.
Piccolos Wangenrot
ist uns Salut.


     4

Ludwigslust. Im Gasthauszimmer
reden Reisende schon Platt.
Draußen findet das Gewimmer
eines Leierkastens statt.
Dann sind vor des Schlosses Schwelle
wir ein heitres Publikum.
Gradeüber die Kapelle
schuf man zum Theater um.
Des gewesnen Fürsten Nähe
bändigt unsre Spottlust kaum.
Durch das offne Fenster spähe
ich in einen Küchenraum.
Eichendorffisch ist die Stille,
steht am Brunnen die Figur.
Der Vergangenheit Idylle
spielt auf mancher schwachen Spur.
Als wir Schloß und Ort verlassen,
sind wir fast etwas behext.
In den allerletzten Gassen
probt ein Jahrmarkt seinen Text.


     5

Die Tage in Hamburg, vielmehr noch die Nächte,
sie waren das Wunder, sie waren das Glück.
Solange Zeit nachher noch wünsch ich, es brächte
der nächste Morgen mir frisch sie zurück.
Soviel ich in diesen vier Tagen erlebte.
so vielerlei auch, ward nie mir zuvor
in vier Jahren beschieden! Ich schwärmte, ich schwebte,
sie trugen mich über mich selber empor.
Die Stadt, das Wasser, die Straßen, der Hafen,
und schließlich St. Pauli, das Alkazar.
Die Nächte! Ich ging überhaupt nicht mehr schlafen,
weil alles tausend und eine Nacht war.
Ich lernte den Erdball, schien es mir, kennen:
eine Feier im Rathaus, ein geistges Gelag,
den Stellinger Tierpark, ein Pferderennen,
hoch über der Flut einen Nachmittag,
feudale Lokale und wüste Spelunken,
den Rummel, das Abenteuer, das Glück,
und kam vom Erlebnis und Alkohol trunken
beseligt erst früh ins Hotel zurück,
und war in der ganzen Welt gewesen,
hatte im Kleinen das All durchquert,
als Gast bei Negern, Indern, Chinesen,
helle Frauen und dunkle begehrt,
sehr stolze gesehen und freimütig nackte,
mit Künstlern und mit Verbrechern gezecht,
und was ich mit Augen- und Sinnenlust packte,
war immer das Leben, war grade so recht,
war unerwartete Schicksalsgnade.
Doch eins aus der Hamburger Mädchenschar
verdient eine eigne, besondre Ballade:
den Song von der Maid aus der Lonestar Bar.


     6

Jetzt imitiere ich einfach den Brecht,
vielleicht sogar den Villon,
dabei: ist der Brecht mir keineswegs recht;
doch die Olly verdient ein Chanson.
Dieweil sie kein Geld hat, und dieweil sie nett ist,
und ihre Hände sind auch werktags rein,
und weil ihr jeder recht für ihr Bett ist,
und sogar zu mir sagt sie nicht: nein!
Und weil sie lieber den Willi nähme,
(und ihm gönn' ich sie allein)
doch zu einem doofen Rechtsanwalt
von großer Ein-, schon Doppel-Falt
kann sie nur aus Anstand unanständig sein.
     Ja, da muß sie sich halt hinlegen,
     unsre Olly aus der Lonestar Bar,
     aber davor kommt für sie kein Segen.
     Ehre kommt für sie durch uns im Alkazar!

Zuerst sah sie sich ihren Liepmann an,
den hat sie schon lange gekannt.
Dann kam ich als lustger Kumpan auch mal dran,
doch dann war sie von Willi gebannt.
Nicht weil wir Geld hatten und gebildet waren,
das kam für sie nicht in Betracht,
weil sie uns als Menschen erkannte und nicht als Barbaren,
hat sie sich für uns alle nett gemacht.
Bei dem Rechtsanwalt behielt sie ihren Kopf oben
und sie vögelte kalt
à la Brecht.
Sicher galt es ihm als Hochzeitsnacht,
doch sie hat dabei nur dein gedacht,
lieber Willi, und das scheint mir ganz im Recht.
     Ja, da kann man sich nur kalt aufbahren
     und ein absoluter Rechtsfall sein;
     soll der Advokat doch die Termine wahren!
     Wem den Eid er abverlangt, sagt man glatt: nein!

Am letzten Tag war ich noch einmal bei ihr,
da offenbarte sie sich,
und sie sagte, du wärest am liebsten ihr,
und an zweiter Stelle käme ich.
Obwohl ich nicht wußte, wieviel davon Höflichkeit sei,
fühlt' ich, wie wohl es uns tut!
Und dann sagte sie Liebes noch mancherlei
und war dir wahrhaftig gut.
Da behielt ich meinen Kopf nicht oben,
und der Abschied fiel mir schwer.
Ach, nun kam die letzte Nacht,
hat man sich von Hamburg losgemacht,
gab es fürder kein St. Pauli mehr.
     Ja, da muß man wie ein Spielzeug wieder hinlegen
     Alsterpavillon und Alkazar
     und kann hier nur im Poem sich noch erregen
     für die Olly aus der Lonestar Bar.


     7

Wieder trägt der Zauberwagen
uns durchs deutsche Land hin.
Von den reichen Alstertagen
blieb uns Fröhlichkeit im Sinn.
Fröhlich wird in einer Pause
Celle drum von uns erlebt,
mit manch schönem alten Hause,
das die Sage fahl umschwebt.
Schloß und Brunnen man entdeckte
auf der schnellen Bilderpirsch.
Und im Rathauskeller schmeckte
köstlich uns das Gläschen Kirsch.
Eine Maid, die uns erfreute,
bei der Wirtin wundermild,
hatte grad Geburtstag heute,
und du schenktest ihr dein Bild.
Auch sie wollte zum Theater,
sprach das Mädchen, schon intim.
Als bewährter Studio-Vater
gabst du deinen Segen ihm.
Und wir schieden mit Bedauern
aus dem freundlichen Gemach
und aus Celles alten Mauern
dankbar winkt das Kind dir nach …


     8

Doch wie sag ich zu Hildesheims Preise
etwas, was seinen Verdiensten genügt?
Hier ward den Wundern der ganzen Reise
noch Unerhörtes hinzugefügt.
Knapp war hier unsre Zeit bemessen,
doch unermeßlich der Gastfreund Huld,
und ich werde sie nicht vergessen,
fühle mich weiter in ihrer Schuld.
Weiter spüre ich in mir reifen,
was die Gunst der Stunden gereicht:
abendliches durchs Städtchen Streifen,
das einem Gang durch Jahrhunderte gleicht.
Bürgerstolz der geschmückten Fassade;
Kircheninseln, von Hochmut umwehrt;
im Schatten der Chöre des Himmels Gnade;
das Ghetto, umkettet und unbekehrt.
Im Garten des Domes bei Kreuzen und Grüften
Legende, die tausend Jahr überstand.
Ein ewiger Geistzug in den Lüften
über dem ganzen Bischofsland.


     9

Und war'n wir mit Heine in Hamburg gewesen,
so gab er uns auch in den Harz das Geleit.
Erst feierten wir ganz rasch in Seesen
ein Wiedersehn mit deiner Jugendzeit.
Die Schule stand noch wie vor x Jahren,
durchs Klassenfenster sahst du den Platz,
auf dem du einst Lob und Tadel erfahren.
Doch was ward aus deinem Pennälerschatz?
Eure Konditorei war nicht mehr vorhanden;
nur die alte Klavierfrau im schwarzen Gewand
hat wie einst am Fensterspion gestanden,
und dir war, als hätt' sie dich wiedererkannt.
Doch überwandest du schließlich die leise
Rührung; schon scherzten wir animiert.
Zur Erinnerung ward in bewährter Weise
der Seesener Zwischenfall fotografiert.

Schon fuhren wir wieder. Durch grüne Tore
ging es in Prinzess Ilses Reich.
Da gab es Wälder und Wiesen und Moore,
und etwas für Schlesier: den »Oder« Teich.
Da hat uns in eines Kurorts Verstecken
die Ahnung vom Sterben des Freundes berührt
mit warnender Mahnung, und tödlichem Schrecken
empor bis hoch auf den Brocken entführt.
Dort hockten wir zechend dann beisammen
in einem verzweifelten Galgenhumor.
Es zitterten draußen im Sturme die Flammen
der Sterne. Es johlte der Hexenchor.


     10

Doch wie die Ausfahrt war das Wiederkommen
geruhsam und ein »Ende, alles gut«.
Es ward der ganze Harz noch durchgenommen,
und kreuz und quer ging es da wohlgemut.
Bald war Gewitter, bald im Sonnenhellen
fuhren wir am begrenzten Bach entlang,
aßen im Gasthaus über ihm Forellen
und waren nicht vor Hakenkreuzen bang,
die von der Bergstadt Fahnen uns beschworen.
Dir war Erinnrung überall zu Haus,
vergebens riefst du vor verschloßnen Toren
den Namen einer einst Verehrten aus.

Und immer noch ward mir ein Abenteuer,
ein Bild, ein Reiz, vielleicht auch nur ein Spaß
geschenkt, solange ich noch als getreuer
Begleiter neben dir im Wagen saß.
Hoch über Quedlinburg die alte Veste,
das Kloster mit dem Sarg der Königsfrau;
am Bahnhof unten kümmerliche Reste
vom überlebten Schützenfest-Radau.
In Magdeburg, in jenem Kaffeehause,
wo einst ein Ferngespräch ich mit Berlin
erharrte, eine kleine Vesperpause,
und wo mir alles unverändert schien.
Noch ganz zuletzt in einem Gassenschanke
kurz vor der Endstation ein Abschiedstrunk
schnell am Büffet, ein herzliches »Ich danke!«,
eh wir für immer als Erinnerung
die Ernte unsrer Fahrt nachträumend buchen,
sich die Gemeinschaft dieser Tage trennt,
wir das Vergangne mit der Seele suchen
als ein verlornes Lebenselement.

Dann hat Berlin mit allem seinem Rummel
uns in den Fängen, wächst das Autoheer,
Motorradpärchen auf dem Festtagsbummel
kehrn bollernd heim vom Himmelfahrtsverkehr;
man gleitet mühsam durch die Vorortsbahnen,
betrunkne Radler bringen in Gefahr,
es sperrn den Weg Fußgängerkarawanen.
Harz, Hamburg, Hildesheim sind nicht mehr da.

Es schließen hinter unsrer Fahrt die Schranken,
und mir als eine angenehme Pflicht
bleibt nur, dem Spender soviel Glücks zu danken
in diesem unvollständigen Gedicht.


 

10. 09. 1931

Des Ehemannes Zuflucht oder
Lob des Aborts


Der Gatte ist allein nur im Abort:
dort stört ihn niemand, er sitzt wohlgeborgen
und denkt sich seine ganzen Alltagssorgen,
auch wenn er kein Geschäft verrichtet, fort.

Die Tür ist streng versperrt. Er liest ein Buch.
Noch besser: er tut nichts als selig dösen
und ist vor guten Worten wie vor bösen
gefeit und fraulich lockendem Geruch.

Ganz Mann und Mensch, und also wieder Kind.
Er lallt sich was, er popelt, zieht die Kette
der Spülung nur zum Spaß, raucht Zigarette,
als ob das sonst verwehrte Laster sind.

Die Hände auf den Knien, im Hemd, halbnackt,
genießt er still das Glück einer bequemen,
legeren Haltung, darf sich so benehmen,
wie es ihm paßt, und niemand mahnt an Takt.

Dann rauscht es, oben, unten, allgemein:
in jeder Wohnung haben Leidgenossen
sich auf dem Zufluchtsörtchen eingeschlossen
und sind dort glücklich, sind nur dort: allein!


 

11. 09. 1931

Requiem
(Für Henry Berg)

Bin ich der Nächste, den die Stimme ruft,
der man ins ewige Dunkel folgen muß ?
Ist, was ihr, meine Dichterstunden schuft,
nur kindisch Flucht vor diesem rohen Schluß?

Die kaum noch bis zum andern Jahr gelingt,
das mich mit seinem Henkersgriffe faßt
und vor den unbarmherzigen Richter bringt:
er hat vom ersten Tag an mich gehaßt!

Ist mir nicht auch dies Ende schon bereit:
einsames Sterben; ein Begräbnis, karg,
zu für die Freunde ungelegner Zeit,
vor ihnen schämt sich fast der Armensarg?

Alles ist dürftig. Auch das Glöckchen klingt
sehr blechern, wenn mich dann der triste Zug
vom Leichenhause hin zum Grabe bringt
und scheucht vom welken Laub den Krähenflug.

Der Wall starrt herbstlich kahl. Die Wolkenwand
droht Regen. Rasch wird herzlos das Gebet
geplappert, wirft man seine Hand voll Sand
hernieder in die Gruft, vergißt und geht.

Spricht wieder eitel von sich selbst, kehrt ein
im Wirtshaus und versäuft sein bißchen Gram.
Doch fragt man dumpf: »Soll ich der Nächste sein? «
und ist verdammt, weil keine Antwort kam.


 

28. 11. bis 11. 12. 1931

Lieder für die kranke Lebensgefährtin


     1

Meine Liebe konnte dich nicht retten,
mein Gedenken hat dich nicht geschützt:
Opfer bist du blutger Klinikbetten,
wo mein schönstes Lied dir garnichts nützt.

Deine Leidensnächte sind voll Tränen,
einsam liegst du wach, von Angst geplagt,
und mit seinen schwarzen Wolkenschwänen
durch dein Fieber hetzt des Himmels Jagd.

Einsam wandle ich durch unsre Zimmer,
ach, uns fehlt dein Hiersein, das vertraute!
Und ich höre doch dein Schmerzgewimmer
über Straßenlärm und Rundfunklaute.

Und ich schäme mich, so wohlbehalten
fern zu bleiben dem, was dich zerquält.
So wie du bedrängt von Schreckgestalten,
hab ich der Minuten Gang gezählt.

Dennoch war mein Kummer nur Schimäre,
nur der Schatten deiner wahren Not.
Wenn
ich jetzt an deiner Stelle wäre,
wärst
du wirklich treu mir bis zum Tod!

Könnte deine Liebe mich erretten,
hätte dein Gedenken mich geschützt.
Aber eitel über Klinikbetten
gaukelt jetzt mein Lied, das keinem nützt.


     2

Ich kniee, wie ich lange nicht gekniet,
vor meinem Gotte, dich gesund zu bitten.
Ich ruf ihn, daß er deinen Jammer sieht,
daß er die Schmerzen weiß, die du erlitten,
und denen, die noch nahen wollen, wehrt
und legt die Hand dir lindernd auf die Wunde
und schenkt dir, was das wehe Herz begehrt:
die Wohltat jeder stummen Schlummerstunde.

Wie auf dem Kirchenpulte liegt mein Haupt
am Fensterbrett. Und meine Blicke trauern
über das Baumgewirr, das schwarz, entlaubt
gespenstert in des Himmels fahlem Lauern.
Es fiebern deine Nöte durch mein Blut,
ich ringe um dein Leben mit dem Bösen.
Es spricht ein Freund zu mir und meint es gut
und kann doch nicht mein Leid um dich erlösen.

Den Angstschrei, den man nicht vergessen kann,
hör ich wie du durch meine wachen Nächte
hilflos verhallen. Eine Ewigkeit verrann,
eh sich entschied, ob etwas Rettung brächte.
Noch bange ich, wofür ER sich entschied,
ob seine Engel aus den Zelten treten.
Ich kniee, bis ich seine Gunst erkniet,
vor meinem Gotte, dich gesund zu beten.


     3

Wie fremd sind jetzt die Bücher, einst Gefährten,
die zu mir sprachen, wenn ich einsam saß,
die mir die Tröstung ihrer Welt gewährten,
daß ich die Sehnsucht und die Angst vergaß,

die auf dich warteten und mit mir wachten,
bis deine Schritte klangen durch die Nacht
und mich zum Glücklichsten der Menschen machten,
warst du mir heil von draußen heimgebracht,

die wir vereint in guten Stunden lasen,
oder ich trug dir froh ihr Schönstes vor;
des Regens Prasseln und des Windes Blasen
blieb abseits hinter dem verschloßnen Tor.

In deren Lieblingsstellen wir uns trafen,
wenn wir auf Reisen, weltenweit entfernt,
einander suchten, daß uns vor dem Schlafen
der Himmel einte, heimatlich besternt.

Die Bücher, die mit buntem Wald umbauten
noch gestern unsre Welt, die sicher schien,
in die noch nicht mit drohend rohen Lauten
ein Grauen drang, voll Sterbemelodien:

wie fremd und fruchtlos sie mir jetzt erscheinen,
nun da es alles gilt, versagen sie:
sie bleiben ungerührt bei meinem Weinen
und heben Labsal meiner Klagen nie!


     4

Morgen wirst du wieder da sein,
hab' ich wieder ein Zuhaus,
wirst in Tag und Schlaf mir nah sein:
glücklich sieht die Stube aus,
Bilder blinken, Liebeslieder
singt das Linnen in dem Bett,
dir entgegen blühen wieder
Tisch und Stuhl und Bücherbrett.
Deinem Sofa, deinem Spiegel
geht es endlich wieder gut.
Schieb ich vor die Tür den Riegel,
wieder Herz an Herzen ruht,
wieder heimatlich geborgen
dich mein Trost umweben kann.
Kehrst du heil mir wieder morgen,
fängt ein neues Leben an.


     5

Die Wahrheit ist: ich bin mit dir verbunden
in deinen guten, deinen dunklen Stunden.

Es führt die unsichtbare Rosenbrücke
von deiner Fröhlichkeit zu meinem Glücke.

Es trennt die gleiche unsichtbare Mauer
von aller Welt dein Weh und meine Trauer.

Aber was ist mit unsern Einsamkeiten?
Sie müssen durch die gleichen Schrecken schreiten.

Um sich am Ende doch einmal zu finden
im holden Heimattal beim Duft der Linden.

Und die für einen Nu sich fremd erschienen,
erröten mit geschwisterlichen Mienen.

In meinem Blick sich deine Liebe spiegelt,
ich seh in deinem Blick mein Glück besiegelt.

Unlösbar sind wir schicksalhaft verbunden
in unsern guten, unsern dunklen Stunden,

und noch, wenn wir uns, ungewollt, verwunden.


     6

Noch einmal weht es durch die nächtigen Wellen
zu mir herüber von den Kranken-Kissen . . .
Und wirst auch du von den Gedanken wissen,
die jetzt wie Engel um dein Bett sich stellen?

Du stöhnst. Zum letzten Mal in diesen Stunden
soll heut ich dein einsames Klagen hören . . .
Und wirst auch du mich einsam sagen hören:
» Schon morgen kühle
ich dir deine Wunden ? «

Erst morgen darf
ich wieder dich betreuen,
aus fremden Händen deine Leiden lösen,
dir noch in beiden, guten oder bösen
Empfindungen, mich kränken oder freuen.

Noch ist die Nacht ein banges Dich-Verlangen . . .
Wie übers Meer die Lichter Zeichen tauschen,
wird morgen unsersgleichen sich berauschen
am Gnadentage, da wir dich empfangen.


     7

Bist du immer noch bedroht,
ist kein Schutz dir meine Pflege,
bleibt dein Himmel fieberrot,
ob ich auch die Hand dir lege
auf das furchtbeschwerte Haupt,
daß es meiner Hoffnung glaubt?

Kein Genesen schenkt die Frucht
und der Trank, den ich dir bringe.
Mein Gedicht hat keine Wucht,
daß es deinen Feind bezwinge.
Hilflos wie ein Hündchen geht
um dein Bett mein Nachtgebet.

Wenn jetzt allen Weihnacht naht,
sollte sie grad uns vermeiden?
Der ich nur um eines bat,
sollte ich ein »Nein« erleiden?

Ich vertrau von Herzensgrund
unsrer Liebe Schmerzensbund.


 

12. 1931

Weihnachtseinbescherung des »Weißen Rößl«
von Onkel Max Herrmann-Neiße


Und nun, ihr Freunde, groß und klein,
bescheren wir euch etwas ein.
Und wenn der Nickel kargte,
die Weihnachtsfee benimmt sich fein:
das schönste Spielzeug muß es sein
von unserm Kindelmarkte.

Zuerst aus unsrer Schachtel springt
ein Poiatz, der die Pritsche schwingt,
ein Kasperletheater,
hei, wie der da den Teufel schnicket,
der schmerzverzerrt und wütend blicket,
wie ein begoßner Kater.

Zu zweit: Was hätten wir denn hier?
Mit Baum und allerlei Getier
den Wald und auch die Heide,
mit Gems und Reh und Pilz und Tann
und einen flotten Jägersmann
in grasegrünem Kleide.

Dann Nummer drei: Das ist mein Fall,
ein Bauerngut, mit Hof und Stall,
mit Kälbern und mit Rindern,
da guckt die Kuh und macht Muhmuh
und wackelt mit dem Kopp dazu
und träumt von Ferienkindern.

Und Nummer vier zum guten Schluß,
als aller Knaben Hochgenuß:
leibhaftige Matrosen
bei blauem Wasser, blauer Luft,
in richtiger blauer Jungenskluft
und weißen weiten Hosen.

Das kreist um euch in schönem Schwung
der Kasperle, das Rehlein jung,
und Stern' und Mondessichel,
das Lichterschiff, so hell und groß,
und Kühe, Jäger, Seematros' -
ein ganzes Bilderbichel.

Als würden Märchen euch umwehn . . .
und habt ihr euch dran sattgesehn,
soll's euch nach Haus geleiten
zum lichten Christbaumkerzenschein,
und wünscht euch allen, groß und klein,
vergnügte Weihnachtszeiten!


 

24. 12. 1931

Der Weihnachtsengel

Schüchtern stand er abseits von der Schar,
die am Abend deinen Schlaf erschreckte,
bis dein Auge sehr erstaunt entdeckte,
daß er ja der Weihnachtsengel war.
Noch ist ganz im Schatten sein Gesicht;
aber, kommt er auch im schwarzen Kleide,
bringt er dennoch deinem Herzeleide
milde Tröstung und ein liebes Licht.
Was er in den Händen hält verhüllt,
macht dir keine Angst und keine Schmerzen,
ist der Tannenbaum mit seinen Kerzen,
der dir alle Sehnsucht schön erfüllt.

Und nun ist der Engel in den Schein,
den der Schnee der Dächer den Tapeten
spendet, sich entfaltend eingetreten,
um des Festes guter Geist zu sein.
Sind auch seine Wangen schmal und bleich,
hat er doch ein Lächeln, das genesen
macht, als wäre nie ein Weh gewesen.
Und schon fühlst du dich den Kindern gleich,
die noch nichts vom grauenhaften Mord,
der das Leben stündlich ist, vermuten,
sondern sich im Bösen und im Guten
spielen aus der Furcht des Todes fort.

Und der Himmelsbote grüßt dich Kind,
das ihm liebstes ist, mit Christgeschenken,
die an alle deine Wünsche denken
und dir wundersam Erlösung sind:
plötzlich badest du im Sommersee,
spiegelst dich im Glanz der Bergeskette,
läufst am Bach mit Winden um die Wette,
suchst auf Abendwiesen Vierblattklee.
Hörst ein Wehen über deinem Glück
und ein Lied, wie es die Lerchen singen,
und blickst auf: mit seinen Silberschwingen
schwebt der Weihnachtsengel still zurück.

Selig siehst du ihm, von Angst befreit,
nach bis zu den fernen Himmelstoren.
Weihnachtlich gefeit und neugeboren
blühst du dann in eine beßre Zeit.


 

25. 12. 1930

Die Freßorgie

Begehrlich wackeln überm Tisch die Kröpfe,
und endlich kommt der Fraß vom Küchenrost.
Die Löffel schaufeln in den Dampf der Töpfe
und holen aus dem Sud sich schiere Kost.

Die Lippen triefen, saftig klatscht ein Schmatzen
von fetten Mäulern ans Gewölb des Saals.
Es zanken kreischend unterm Tisch die Katzen
sich um den Abfall dieses geilen Mahls.

Schon kriechen, da sie weitre Zufuhr missen,
die Fresser auf den Estrich voller Gier
und raufen sich um jeden Leckerbissen
auf Tod und Leben roh mit dem Getier.

Und wälzen sich und würgen, beißen, kratzen
und haben selbst wie Katzen auch gefaucht
und zeigen plötzlich mörderische Tatzen
und sind in Raserei und Blut getaucht.

Das Tischtuch reißt und Glas und Teller stürzen,
zerscherbt klirrt auf dem Boden das Geschirr;
von Splittern wund, zerfressen von Gewürzen
balgt man sich heulend, blind vor Wut, halbirr.

Das Katzenvolk verkroch sich unterm Schranke,
gesträubten Fells, mit angsterglühtem Aug
verschüchtert spähend nach dem Menschenzanke
und ihrem höllisch keifenden Klamauk.

Bis endlich Ruhe herrscht nach letztem Röcheln
und von sich selbst vernichtet liegt der Chor
der Fresser. Und die Mäuse aus den Löcheln,
die Katzen aus Verstecken nun hervor

sich wagen und die sonst feindlichen Tiere
vereint sich laben an dem kahlen Rest
und von den Ufern ausgegoßner Biere
für Katz und Maus entsteht ein Friedensfest.


 

31. 12. 1931

Das neue Jahr

Der Alp des alten Jahres ist vergangen,
noch ist das nahende dir halb verhüllt,
und du erwartest mit verhaltnem Bangen,
was es verspricht, und was es nicht erfüllt.
Womit wird es dir allen Gram vergüten,
ist es verschwenderisch dazu bereit,
mit Frühlingsfahrten unter Maienblüten,
mit sommerlich besonnter Ferienzeit,
mit eines warmen Herbstes goldner Ernte,
mit eines Winters Lust im Bergesschnee?
Ob dieses Jahr dich wieder lieben lernte
des Lebens Gaben, sagt es dann Ade?
Vielleicht wirst du in seiner Abschiedsstunde
es halten wollen, weil es Freund dir war,
wirst es begleiten und mit wehem Munde
hinter ihm rufen: »Du mein liebstes Jahr!«

O daß es wirklich so mit Segen käme,
mit des Vergessens mildem Zauberwein,
und alle Last von deiner Seele nähme
und ließe dich noch einmal glücklich sein,
ein Mädchen, ohne Sorgen, arglos heiter,
das spiegelt sich im klarsten Himmelsblau,
Kind, Spielgefährte, treuester Begleiter,
und immer: meine sehr geliebte Frau!


 

zurück zu Max Herrmann-Neiße - Gedichte 1924 - 1941

zurück zu den Gedichten von Max Herrmann-Neiße