Gedichte 1932

Gedichte

1932

Alle Zeitangaben zu den Gedichten geben das Datum an, dem der Text zugeordnet werden konnte.
Bezug hierzu sind die Angaben aus der Sammlung der 1987 von Klaus Völker herausgegebenen Gedichte.


Inhalt

Trostloser Bahnhof am Weihnachtsabend

Das winterliche Grauen

Beichte vor mir selbst

Für Leni mit einem Osterhäschen aus Porzellan

Osterlied an Leni

Die Hauptmann-Welt

Bittrer Frühling

Karlsbader Dank für Leni

Geburtstag

Nacht und Morgen

Morgendliche Lärmhölle

Nächtliche Begegnung

Abseits von der Welt

Der Liebe Dank

Wiederkehr der Heimat

Günstiger Herbsttag

Wahrheit und Wunder

Das Schweigen der Nacht

Alte Bäuerin

Der unerwünschte Besuch

Weihnachtstrost

Vor Ankunft des neuen Jahres

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03. 01. 1932

Trostloser Bahnhof am Weihnachtsabend

Ein lieblos karger Kaufhauschristbaum glost
dicht bei der Sperre. Zugig ist die Halle
und der Beamte sehr zu Recht erbost,
daß er heut Dienst hat, und ganz gelb vor Galle.
Ich flüchte, weil ich viel zu zeitig kam,
mich in den Wartesaal der zweiten Klasse.
Als ob es längst vom Leben Abschied nahm,
welkt mumienhaft das Wesen an der Kasse.
Der dürftig hoffnungslose Kellner hinkt,
und außer uns ist in dem düstern Räume
nur noch ein Greis, der sinnlos Schaumwein trinkt,
und dann ein Paar mit seinem Liebestraume.
Wir hocken hier vergessen von der Zeit.
Kein Laut. Nur hin und wieder in der Ferne
Rangiergeräusch. Ein Pfiff. Unendlichkeit
verhieß der Fahrplan unter der Laterne.
Für uns hier fährt und kommt, scheint es, kein Zug.
Ich schau zur Uhr empor: die Zeiger schleichen.
Ob dieser Trübsal je die Stunde schlug,
in der Gespenster auch ihr Ziel erreichen?
Ich halt es nicht mehr aus, ich zahl und geh.
Am Bahnsteig trifft die Kälte meine Ohren.
Ich und ein kleiner Haufen schmutzger Schnee
sind hier allein am Weihnachtsfest verloren.
Signale zeigen roten, grünen Schein,
wozu ist ungewiß. Der Wind gibt Schläge.
Und plötzlich rollt es unbeachtet ein
als wie ein Lazarettzug grau und träge.


 

13. 02. 1932

Das winterliche Grauen

In Winternebel sackt der graue Tag
die Großstadtstraßen ein. Mit bösen Lichtern
tasten die Lampen nach den Angstgesichtern,
ob eines ihnen doch vertrauen mag.

Feindselig flüchten Wagen, Mensch und Tier
argwöhnisch voreinander, und es röten
die Himmel sich im Zorn, die Welt zu töten,
die nichts mehr weiß als ihre blinde Gier.

Mißbrauchte Bäume recken sterbenskrank
verzweifelt in den Dunst die magren Arme,
und über ihnen schrillt von einem Schwarme
erboster Rachevögel wüster Zank.

Vielleicht, daß höher noch ein Sternbild flammt,
das ihre dunklen Flügel uns verhüllen.
Doch unser Schicksal muß sich hier erfüllen,
wo jeder Blick den anderen verdammt.

Wo in den lampensanften Stuben Wut
und Irrsinn waltet, in den Krankensälen
die Wärterinnen ihre Opfer quälen,
wo jede Fahne ist gefärbt mit Blut.

Wo jeder Mensch sich in sich selbst versteckt,
den eignen Tod verleugnet und den fremden
sehr schnell vergißt, so daß die Sterbehemden
der Zank der Hinterbliebenen befleckt.

Wo nah bei Schmerzenshaus und Gräberstatt
die Bar lockt mit den hundert schönen Frauen
und man sich mählich um das Todesgrauen
belügt mit Alkohol und Kartenblatt.

Und alle Ängste, Lüste sackt die Nacht
der Großstadt ein in ihre Kerkerkammern,
den Hals uns zum Ersticken zu umklammern,
mit der verborgnen Wünsche Niedertracht.

Vielleicht, daß irgendwo ein Feuer flammt,
den lang Erwarteten jetzt zu erfreuen . . .
doch uns kann sich das Schicksal nur erneuen,
das uns verdammt!


 

Ende 02. 1932

Beichte vor mir selbst

Meine guten Vorsätze halten nie stand.
Wie lange ist es her, daß ich jemandem Freude bereitete?
Wie lange ist es her, daß ein Freund mich nach Hause
          geleitete
und gab mir dankbar zum Abschied seine Hand?

Nachts liege ich ängstlich wach und verspreche sehr viel
mir und dem Himmel, dessen Schutz ich brauche;
aber wenn ich morgens aus den trüben Tümpeln
          meiner Träume auftauche,
war alles nur ein unverbindliches Spiel.

Mittags geh ich im Park an allen Bettlern vorbei,
ohne daß ich einem von ihnen ein Almosen reiche,
aber ich äuge lüstern nach den schlittschuhlaufenden
          Mädchen auf dem Teiche
und lüge mir vor, daß ich ihr Liebling sei.

Und ich weiß doch, warum niemand mich umarmen mag:
sieht ein Mädchen meinen Schatten, muß es erschrecken.
Ich sollte mich mit meinen gierigen Gedanken
          vor der Welt verstecken
und abseits warten auf den letzten Tag.


 

Ostern 1932

Für Leni mit einem Osterhäschenpaar aus Porzellan

Es kuschelt an den großen Hasen sich der kleine:
so schmiegt mein Leben sich geborgen an das deine.

Ist hoch genug das Gras, uns glücklich zu verstecken,
daß nicht die Jäger unser warmes Nest entdecken?

Blüht süßer Klee genug, daß wir nicht darben müssen?
Angsthase ich erschrecke vor den fernen Schüssen

und schmeichle mich noch inniger in deine Nähe,
daß mir vom Himmel nicht und Erde Leids geschähe.

So sitzen wir, ob Hagel fällt, ob Winde blasen
in unsrer Liebe zwei vergnügte Osterhasen.


 

26. 03. 1932

Osterlied an Leni

Alle Amoretten
mögen dich geleiten
durch die Frühlingszeiten,
dich mit Blumenketten
in den Sommer holen,
wo bei Bergesbächen
auf den Weideflächen
Kälbchen hüpft und Fohlen.

Bis die Silberfäden
dich hinüberspinnen
in das Herbstbeginnen;
schon wirst vor Läden
in den Dämmerstunden
dieser Stadt du stehen,
siehst und läßt dich sehen,
findest, wirst gefunden.

Immer kälter werden
Tage, Nächte, Herzen,
bis bei Weihnachtskerzen
ich ans Älterwerden
glücklich nicht mehr denke,
Kinderlieder singe
und dir dankbar bringe
bunte Christgeschenke.

Bald auf die beschneiten
Beete wieder malen
schon die Frühlingsstrahlen
ihre Freundlichkeiten,
und uns beide betten
mit den andern Pärchen
in das Ostermärchen
alle Amoretten.


 

07. 04. 1932

Die Hauptmann-Welt
(In Verehrung und Dankbarkeit)

Kein Schattenzug blutleerer Kunstgespenster:
das Leben zwischen Hochzeitsfest und Gruft!
Leibhaftig strömt herein durch offne Fenster
Waldatem, Wiesenhauch und Bergesluft.
Leibhaftig wandeln Menschen auf der Bühne
und haben um sich ihre wahre Welt,
und über dem Gespinst von Schuld und Sühne
wölbt schützend sich der Güte Himmelszelt.
In seine Hut kehrt ein auf goldnen Sprossen
Hanneles Seele, kehrten schließlich ein
auch Schluck und Jau, die stromernden Genossen,
nach dem Vexierspiel zwischen Sein und Schein.
Der Menschheit Leidenschaft und Glück und Jammer,
die Einsamkeit, der Kampf, der Untergang,
die Seelennot in Schloß und Mägdekammer,
der Liebe süßer, bittrer Überschwang:
der Henschel-Witwer, schuldlos preisgegeben,
und Cramptons alkoholisch dumpfe Pracht
und Florian Geyers dunkles Heldenleben,
der Weberschar verlorne Hungerschlacht,
der list'ge Kleinkrieg, den die Wolffen zünftig
wider bornierte Schneidigkeit gewinnt,
die Clausensippe, herzensroh »vernünftig«,
und der geduld'ge Narr in Christo, Quint.
Die holden Mädchen, die uns zärtlich winken,
sie heilen Wunden, machen Greise jung:
Marei und Ottegebe, Gersuind, Inken,
im Duft der herzlichsten Erinnerung,
umwebt von Märchen- und Legendenschimmer
und auch als Märchen und Legende wahr,
Griselda, Elga, Pippa, Sehnsucht immer,
Rautendelein mit rotem Elfenhaar.
Ihr Sanften, ihr Gefährlichen, Verruchten,
die ihr das Glück und das Verderben bringt,
ihr Trügerischen, lebenslang Gesuchten,
die ihr in Traum uns und in Sterben singt,
die Sidselill, die lockre Gastwirts-Liese,
die Zirkuswanda, die vom Bischofsberg -
die Höllen alle und die Paradiese
und zwischen ihnen: eines Dichters Werk!
Darin die Welt, das Grobe und das Feine,
der Grund, das große und das kleine Licht,
und jedem wird nach der Natur das Seine,
daß jeder seines Ursprungs Sprache spricht,
wie ihm der Schnabel wuchs, das Herz sich löste,
und ist es köstlich, ist es Schlesiens Laut,
und wird sehr würdig schlicht und ernst das Größte,
wenn Kramer seinem Sohn ein Denkmal baut
aus Trostgedanken, die den Tod erkennen,
ist in den »Ratten« keß und fahl Berlin
und wird mit lauter Hochzeitskerzen brennen,
wenn, der ein armer Heinrich lange schien,
ein reicher ward, hat zauberhafte Schätze
von eignen Bildern, eignen Melodien,
die unvergeßliche Musik der Sätze.
Da rauscht das Ährenfeld und Wolken ziehn,
blüht Übermut und räudelhaftes Schwärmen,
die Andacht und des Volkes Mutterwitz,
der Heimatklang, an dem wir still uns wärmen,
Bedächtiges, Rausch und Gedankenblitz,
es nimmt sich Zeit, es kommt in jähem Fluge,
ist herzhaft tragisch, komisch ohne Hohn.
Das Himmlisch-Törichte, das Weltlich-Kluge
hat von des Dichters Gnaden Form und Ton,
ist männlich im Bekennen und im Schweigen,
von Eitelkeit und Mache nicht entstellt,
und bleibt in seines Daseins buntem Reigen
die Herrlichkeit der Gerhart-Hauptmann-Welt!


 

29. 04. 1932

Bittrer Frühling

Nun grüßt frisches Grün an allen Wegen,
wenn ich mittags durch den Stadtpark geh,
kommt mir etwas mit Gesang entgegen,
Mädchenlachen rudert übern See.
Alle scheinen mit sich selbst zu plauschen,
auch die einsam ihre Straße ziehn.
Und die Vögel singen oder lauschen
auf die andern Frühlingsmelodien.
Nur ich glaube an kein neues Leben,
angstvoll stumm bleibt es in meiner Brust,
und ich kann dir keine Lieder geben,
die der Lenz erfüllt und Liebeslust.
Denn ich spüre nichts als Sterbensahnung,
Tier und Baum mich Toten überlebt,
immer mir am Ohr mit grauser Mahnung
unsichtbar der dunkle Bote schwebt,
wird die Hand mir auf die Schulter legen,
zwingt mich in den stillen Selbstmordsee.
Und das frische Grün an allen Wegen
überwindet keiner Witwe Weh.


 

14. 05. 1932

Karlsbader Dank für Leni

Nächtlich singt der Bergbach wieder
mir die schönsten Schlummerlieder,
durch das offne Fenster neigen
sich mit frühlingsgrünen Zweigen
freundschaftlich des Waldes Bäume
über meine Ferienträume.

Dies und jeden Glückes Schimmer
kommt aus deinen Händen immer;
stets war unser ganzes Leben
nur mein Nehmen und dein Geben!
Über allen Maienwegen
liegt als Morgenrot dein Segen,
aller stille Wiesenfrieden
ist mir nur durch dich beschieden.
Alles, was da treibt und blüht
und um Abendhöhen glüht,
ist beseelt durch deine Nähe.
Wenn uns Schlimmes jetzt geschähe,
wären unsre dunklen Stunden
dennoch hochzeitlich verbunden.
Doch die lieblichen und lichten
soll dir keine Angst vernichten.

Wenn in allen meinen Jahren
ich behütet vor Gefahren,
dieses traumhaft unberührte,
leichte Dichterdasein führte,
war es, weil
du des Lebens Last
ganz
auf dich genommen hast.
Dir die Opfer zu vergelten,
wird der heil gebliebenen Welten
Wunder pfingstlich dich erfreuen
und dein Sommer sich erneuen:

Tröstlich singt der Bergbach wieder
dir die schönsten Schmeichellieder,
durch das offne Fenster neigen
sich mit immergrünen Zweigen
freundschaftlich des Waldes Bäume
über deine Liebesträume . . .


 

 

23. 05. 1932

Geburtstag

Wenn sich mein Leben jetzt ins Leere wendet,
steh ich verlassen wie am ersten Tag.
Dort, wo der Weg des Unbekehrten endet,
dem schwersten Kampfe niemand helfen mag.

Schon schließt der Traumwald trüber sich zusammen
Vergißmeinnicht blüht keine Lichtung mehr,
die Stunden, die dem Paradies entstammen,
sie sind verschwunden ohne Wiederkehr.

Am Himmel blieb von ihrem Glück kein Schimmer,
auch kein erinnerungsüßes Lerchenlied.
Es haben überall die Sterbezimmer
kein Bild von dem, der hier für immer schied.

Und jener durfte nichts von euch behalten;
die Trennung war ganz ohne jeden Trost.
Wenn meine Jahre mählich jetzt erkalten,
spür ich die Hand nicht mehr, die mich liebkost.

Schon klingen fern und fremd mir eure Stimmen,
und bald webt nur noch Schweigen um mich her;
die Lichter, die Gesichter all verschwimmen,
und meine Welt ist wieder wüst und leer.


 

26. 05. 1932

Nacht und Morgen

Die Kreatur, verlassen, auf der Flucht,
und über ihrer Angst das dunkle Rund
und der Verborgne in der Wolkenschlucht
mit dem geheimnisvoll verstummten Mund.

Kein Stern. Kein Quell. Die nächtig leere Welt.
Kein Donner schlägt die Flamme aus dem Fels.
Das Licht der Gipfel ist vom Dunst umstellt,
von fern nur schimmert schon des Morgens Schmelz.

Dann gibt ein Vogel einen ersten Laut,
zaghaft beginnt der Fluß sein Frühgebet.
Der neue Tag schon hinterm Berg, betaut,
mit nackten Füßen durch die Wiesen geht.

Der Farben Auferstehn in goldner Frucht.
Und fahl nur überall die Kreatur.
Um ihre ruhelose Lebensflucht
die Helligkeit der unbekannten Flur.


 

27. 06. 1932

Morgendliche Lärmhölle

Dies Haus ist eine böse Menschenfalle,
die schon am Morgen wie die Hölle tost,
daß meine ohnehin geplagte Galle
sich schmerzhaft beim Erwachen gleich erbost.
Das Weib, mit welchem ich das Lager teile,
fliegt gackernd auf beim Frührot wie ein Huhn;
gleich kriegen Teppiche begeistert Keile,
ein kleiner Schreihals mag auch nicht mehr ruhn.
Schon schrillt das Telefon mit gieriger Stimme
wie ein verwöhntes, eigensinniges Kind,
indessen unter uns mit irrem Grimme
Familien beim ersten Zwiste sind.
Aus einer Wohnung über meinem Kopfe
bellt der Lautsprecher seinen Ton-Radau.
Handwerker ärgern dringlich mit Geklopfe,
im Hofe unten jault die Bettelfrau.
Staubsauger jetzt in jedem Flur pumpen,
und allenthalben eine Türe knallt.
Ein Kerl verlangt nach alten Flaschen, Lumpen
und andrem Abfall, daß es gräßlich schallt.
Im Korridor schellt immerzu die Glocke,
von Schnorrern und Hausierern wild bewegt,
es kläfft der Köter in dem vierten Stocke,
nun endlich auch von dem Tumult erregt.
Es rast mit wildgewordenen Propellern
ein Luftgeschwader tobend übers Dach,
auch macht in den portierbewohnten Kellern
die Konkurrenz der Grammophone Krach.
Nun klappern links und rechts die Schreibmaschinen
des Friedens letzten Zufluchtsort entzwei
die Morgenhölle wandelt sich mit ihnen
endgültig in des Tages Teufelei.


 

07. 07. 1932

Nächtliche Begegnung
(Für Ringelnatz)

Wenn wir nächtlich uns begegnen,
sind wir uns so fern, so nah,
daß sich unsre Seelen segnen,
auch wenn mich dein Blick nicht sah.

Ich saß hinter meinem Glase,
eingesargt in meinem Gram;
zärtlich deine Vogelnase
vom Liköre Abschied nahm.

Zwischen uns die fremden Säufer,
Dummheit, Weiber, Lärm und Rauch,
die Verkauften und die Käufer,
und vielleicht ein Heilger auch.

Keiner kann sich keinem geben,
Einsamkeit geht auf den Strich,
und man lebt sich um sein Leben.
So entschwandest du für mich.

Sachte fing es an zu regnen,
als ich traurig heimwärts kroch . . .
Wenn wir nächtlich uns begegnen,
lieben wir uns schließlich doch.


 

07. 1932

Abseits von der Welt

Abseits von der Welt vergeht mein Leben;
breiter wird der Wildbach, der uns trennt.
In den Hütten, die am Felsen kleben,
abendlich das Totenlämpchen brennt.

Nur ein Aufschub sind die bunten Tage,
Alpenglühen macht den Abschied schwer.
In den Wäldern rauscht die bunte Klage
ungestillt von Ewigkeiten her.

Nah bei mir der andern Liebesspiele,
dennoch unerreichbar meinem Hang;
immer sind der Sorgen allzu viele,
bleibt mir nichts als der betrübte Sang.

Auch Erinnerung wird bald verblassen,
das Gefühl versagt, das Herz ist leer.
Ausgestorben sind die frohen Gassen,
und die Linden duften nimmermehr.

Hastig jagt der Wildbach seine Fluten
an der öd gewordnen Flur vorbei,
und das Knieholz peitscht mit dürren Ruten
einen ganzen Sommertraum entzwei.

Einsam wird der Totenvogel schweben
über Wüsten, die kein Wandrer kennt.
Abseits von der Welt, gleich meinem Leben,
liegt ein Grab, das keinen Namen nennt.


 

18. 08. 1932

Der Liebe Dank

Was immer die Jahre mir brachten,
durch dich wurde schließlich es gut.
Der traurigsten Stunde noch machten
die Träume von dir wieder Mut.
Und wollt' ich zum Letzten verzagen,
weil scheinbar kein Ausweg mehr blieb:
du wußtest das Wort mir zu sagen,
das alle Dämonen vertrieb.

Wenn abends bedrohlich verschworen
die Zwiesprach der Wälder verstummt,
der Berg mit geschlossenen Toren
abweisend sich dunkel vermummt,
die Todesgedanken kommen
über das darbende Land,
hast du an dein Herz mich genommen
und Angst und Arges gebannt.

Doch deiner eigenen Sorgen
und Ängste beständige Not
bleibt allen für immer verborgen;
lächelnd im Lippenrot
spielst du die heitre Legende,
leicht sei dein Leben gelenkt,
und hast an seinem Ende
dich glücklich arm geschenkt.

Noch schlummern wir Seite an Seite,
vom Märchen des Traumes vermählt.
Der Kummer, den ich dir bereite,
hat heimlich mich selber gequält.
Wenn ich dir Freude machte,
bekam mein Werk neuen Mut.
Was immer das Leben mir brachte,
durch dich wurde schließlich es gut.


 

07. 09. 1932

Wiederkehr der Heimat

Als die Türme aus der Ebne tauchten,
die wie ein Geheimnis vor uns lag:
Glocken läuteten und Essen rauchten
in dem herbstlich übersonnten Tag,
schien es ein Erwachen aus den Jahren,
deren Fremdheit immer mich umgab,
war zur Jugend ich zurückgefahren,
meine Kindheit auferstand dem Grab.

Schon begrüßt mich Wall und Promenade
und der Friedhof mit der Dichtergruft,
Menschen lärmen in des Flusses Bade,
alles hat wie früher seinen Duft,
an den Schenken hängen noch die Schilder,
alte Tanzmusik schallt aus dem Saal,
in den Läden sind die gleichen Bilder
und die Bücher noch wie dazumal.

Wieder vom Cafe aus mit Behagen
überblicke ich des Marktes Rund:
vom Begräbnis kommt der Leichenwagen,
vor dem Denkmal räkelt sich ein Hund,
zur Versammlung ziehn die alten Lehrer,
Kinder stehn am Karrn mit Speiseeis,
langsam tun ihr Werk die Straßenkehrer,
und der Polizist geht um den Kreis.

Wenn ich nachher durch die Straßen schreite,
zeigt sich hier und dort ein neuer Zug,
führt ein frischer Stadtteil in die Weite,
doch so weit nicht, wie mein Traum mich trug !
Draußen schließt der Berge blaue Mauer
diese Landschaft wie von Urzeit ein,
und im Vaterhaus ist meine Trauer
um Verlornes hoffnungslos allein.

Zwar das Abgeschiedne scheint zu leben,
um den Stammtisch hockt die alte Schar,
und der Wirt will mir das Stichwort geben,
so als ob kein Zwischenraum je war.
Doch es schimmert durch die fahlen Wangen
dieser Säufer und ihr graues Haar
sehr gespenstisch alles, was vergangen
ist und einmal meine Jugend war.

Altgeworden steig ich in den Wagen,
und er trägt uns in die Nacht hinaus.
Mögen jene noch so boshaft sagen,
ein Mißratner fand besiegt nach Haus!
Als die Türme wieder untertauchten,
hinter uns verklang das Glockenspiel,
da wir nichts mehr zu bereuen brauchten,
fuhren wir gefaßt zu neuem Ziel.


 

 

13. 10. 1932

Günstiger Herbsttag

Die Mittagssonne macht den Herbsttag heiter,
die Frauen sehn verwegen aus und reich,
noch einmal zeigen sich die noblen Reiter,
und flotte Ruderer im Gondelteich.

Noch einmal sitzt man am Kaffee im Freien
und will vergessen, daß der Winter naht.
Seehunde hört man aus dem Tierpark schreien
und träumt erfreut vom sommerlichen Bad.

Sieht man die Feuerwehr vorübersausen,
genießt man wie ein Kind die wilde Jagd.
Der Herbstwind soll der Liebsten Haar zerzausen
man hätte selbst es doch nicht mehr gewagt.

Neugierige sich vor der Villa drängen,
wo der Lakai das Selbstmordpaar jetzt fand.
Auch jener dort wird sich heut nacht erhängen,
der noch gleichmütig bei den andern stand.

Wie wird man selber künftig sich bewähren,
wenn endlich dann der kalte Regen rauscht?
Wenn man der Liebsten heimlich bittren Zähren
reumütig, doch in feigem Schweigen lauscht?

Wenn drohend über unsern Zwillingsbetten
die letzte Einsamkeit ihr Zeichen macht?
Wird man noch einmal sich hinüberretten
in einen Morgen, der versöhnt erwacht?

Genügsam wage ich mich jetzt nicht weiter
und halte mit dem kurzen Aufschub Haus:
die Mittagssonne macht den Herbsttag heiter,
noch einmal sehn die Frauen glücklich aus.


 

22. 10. 1932

Wahrheit und Wunder

Der Blick der Liebe, der den Menschen sah,
die Künstlerhand, die ihn gestalten konnte.
Der Heimaterde war der Himmel nah,
der sie mit seiner Güte übersonnte.
Auch wenn zuvor das Schicksal schwerer traf:
zuletzt war alles immer ein Erbarmen,
kam Hannele zu Gott im Todesschlaf,
wurde ein reicher Heinrich aus dem armen.

Der Wald, die Au, der Berge blaues Band,
die Geister, die am Märchenteich sich tränken,
das Schlesierland, das ganze deutsche Land,
mit Dorf und Stadt, mit Schlössern und mit Schänken,
einsame Menschen, die verloren sind,
Rebellen, Räudel, Dulder, Vagabunden,
die Wolffen, Kramer, Crampton, Geyer, Quint,
in ihren guten, ihren dunklen Stunden.

Ballade und Legende, Ernst und Spiel,
nach Scherz und Schimpf der Welt ein Wohlgefallen.
Wenn hinter diesem Werk der Vorhang fiel,
klang seine Glocke weiter in uns allen,
erblühte Elga, wurde Schillings schwach,
sank Pippa hin, wo Schluck und Jau sich fanden,
blieb Henschel in der Nacht der Schwermut wach,
ging eine Pastorstochter groß zuschanden.

Es ist die Heimat, und es ist das All,
die Wirklichkeit im Kleinen und im Weiten,
der Bauernhof mit Taubenschlag und Stall,
das Grenzenlose aller Menschlichkeiten,
der Schöpfung Wunder, das im Wort geschieht,
die Wahrheit, die ein Dichter sich ersann.
Der Blick der Liebe, der den Menschen sieht,
die Künstlerhand, die ihn gestalten kann!


 

31. 10. 1932

Das Schweigen der Nacht

Mit leisen Katzenschritten geht das Schweigen
der Nacht jetzt in den Straßen auf die Jagd,
würgt in der Bar das Walzerlied der Geigen,
am Tor das Abschiedswort, das man sich sagt.

Mit kalter Hand schreckt es die Zeitungsfrauen
und springt dem einsam Trunknen ins Genick.
Noch knurrt ein Hund - schon hat er stumm das Grauen
vor Unbezwinglichem im scheuen Blick.

Zwar läßt der Lärm der Wagen sich nicht stören,
auch schreit ein Kind auf einem fremden Flur.
Der Greis, der wach liegt, wird nur immer hören
die Todesangst der herbstlichen Natur.

Die Blätter fallen lautlos von den Zweigen,
im Flüsterwinde naht das Morgengrau.
Da kehrt mit leisem Katzenschritt das Schweigen
der Nacht jagdmüd zurück in seinen Bau.


 

02. 11. 1932

Alte Bäuerin

Alte Frau, nach einem Tag voll Mühe,
dumpfem Schuften, Zank und Geiz und Dreck,
hockst du regungslos im Fenstereck,
hörst im Stall die Pferde und die Kühe,
siehst geschlossenen Auges, was die Knechte
treiben, weißt der Mägde Heimlichkeit,
und verlierst dich ohne Grenzen weit
in dem eignen bäurischen Geschlechte.
Was kann dir der Abendglocke Läuten
oder eines Kindes erster Schrei
oder die verlorene Litanei
einer Totenglocke noch bedeuten?
Deine Hände legst du, nicht ergeben,
nur zu kurzer Rast in deinen Schoß,
spürst, daß draußen dunkel, kühl und groß
die Verstorbenen das Dorf umschweben,
fühlst den Enkel fremder als die Schatten.
Grundlos tobend bellt im Hof der Hund.
Stumm und ohne Regung gibt dein Mund
Rechenschaft dem lang schon toten Gatten.


 

12. 12. 1932

Der unerwünschte Besuch

Nun ist er schon viel Stunden in der Stube,
die ruhelos verstummt in Ungeduld;
es liegen sein Rasierzeug und die Tube
mit Creme ganz ungeniert am Bücherpult.

Ich staune über meine eigne Stimme
und ihr mir fremdes, falsches Einerlei,
sprech ich zu ihm mit gut verstelltem Grimme,
und weiß: auch ich bin nicht ganz einwandfrei.

Indem ich trügerisch Gastgeber spiele,
mischt bös mein Traum in seine Speisen Gift,
und als er geht, lausch' ich, ob in der Diele
den Lästigen der Schlag nicht endlich trifft.

Und hab in der Stube noch nach Stunden
den fremden Duft, der mir den Atem nahm,
am Löschblatt seine Spiegelschrift gefunden
und weiß, von wem er als Versucher kam.


 

Weihnacht 1932

Weihnachtstrost

Wenn jetzt die Weihnachtstage wiederkommen,
- schon singt ihr Lied mich abendlich in Schlaf -
sind noch die Ängste nicht von dir genommen,
mit denen das vergangne Jahr uns traf.
Der Schleier Eis auf dem schweigsamen Teiche
verhüllt nur schwach, womit das Dunkel droht.
Was ich dir auch an Christgeschenken reiche,
befreit dich nicht von Lebensfurcht und -Not.

Wenn jetzt die Weihnachtskerzen wieder brennen,
sieht deine Zukunft nicht schon heller aus,
ist auch dein Sternbild wieder zu erkennen
mit neuem Glänze über unserm Haus?
Es webt der Nebel draußen den Laternen
um ihre Lichter einen Trauerflor.
Laß deinen Traum sich nie von mir entfernen,
sonst bin ich etwas, das den Sinn verlor!

Wenn jetzt die Weihnachtsglocken wieder schwingen,
hörst du in ihrer linden Melodie
die Stimme deiner Mutter tröstlich klingen;
sie spricht zu dir: »Kind, ich verließ dich nie!
Ich freue mich mit deinen guten Stunden
und stehe dir in deinen schweren bei.«
Sie schweigt. Wir fühlen uns durch sie verbunden,
als ob dies Fest an ihrem Herzen sei.

Wenn wir jetzt wieder Weihnachtslieder singen,
wie Kinder eins ans andere geschmiegt,
schon unterm Christbaum bei den bunten Dingen
der Talisman des neuen Jahres liegt.
Noch einmal soll er deine Sorgen bannen,
und was dich grämte, das verschwindet bald.
Wir wandeln unter lauter Weihnachtstannen
glückselig durch den weißen Märchenwald.

Wenn wir jetzt wieder Weihnachtsmärchen glauben,
wird alles unwillkürlich leicht und gut,
kann keine Macht mehr uns die Freude rauben,
hast du noch einmal jugendlichen Mut.
Es bleibt der Lichterglanz uns im Gedenken,
es bleibt der Glockenklang in unserm Gang:
es will der Weihnachtsengel dich beschenken
mit Glück ein ganzes neues Leben lang.


 

31. 12. 1932

Vor Ankunft des neuen Jahres

Noch strahlt am Gabentisch geschmückt die Tanne,
noch duftet weihnachtlich das ganze Haus,
noch schmort der Festtagsbraten in der Pfanne,
noch schauen gastfreundlich die Zimmer aus.

Wenn wir des Nachts am Fenster sinnend stehen
nach einem Abend, der voll Reue war,
so können wir aus Wolken mählich sehen
auftauchen schon von fern das neue Jahr.

Doch alles, was im alten wir verloren,
was uns verließ und kaum als Duft noch blieb,
hat sich noch einmal gegen uns verschworen
und macht uns plötzlich das Vergangne lieb.

Als war es immer Weihnacht nur gewesen
und kein Karfreitag, keine Schmerzenszeit,
als wärst du ganz gerettet und genesen
von jedem Ungemach und Herzeleid.

Indes doch schon in fahlen Dämmerungen
des künftgen Schicksals Bild sich unklar zeigt.
Wird unser Lebensmut von ihm bezwungen?
Sind wir zu Ende, wenn dies Jahr sich neigt?

Sind all die Träume wieder trügerische?
Geht dieses neue Spiel uns glücklich aus? -
Noch strahlt der Christbaum auf dem Gabentische,
noch duftet weihnachtlich das ganze Haus!


 

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