Gedichte 1936

Gedichte

1936

Alle Zeitangaben zu den Gedichten geben das Datum an, dem der Text zugeordnet werden konnte.
Bezug hierzu sind die Angaben aus der Sammlung der 1987 von Klaus Völker herausgegebenen Gedichte.


Inhalt

Wieder einmal ohne dich

Verreist

Nachklang zum Dreikönigstag

Vor deinem Bilde

Die frohen Ostern

Meine Lüge

Unser Hochzeitstag

Ich bin alt

Pfingstwunsch für Leni

Wir sind verloren

Klage über die zerstörte Harmonie meiner Gedichte

Bürgerkrieg in südlicher Landschaft

Dein Liebesopfer

Mein Versagen

Neue Trennung

Reigen der Einsamkeit

Herbstabend im Kensingtonpark

Sturm und Vergänglichkeit

Trost der Bücher

Unsere schönsten Lieder

Weihnachtsstrophen 1936

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07. 01. 1936

Wieder einmal ohne dich

Im breiten Bett lieg' wieder ich allein
wie damals, als ich um dein Leben rang,
als in der Klinik du von Fieberpein
gejagt warst durch den dunklen Schmerzensgang;
wenn ihn des Todes Mauer plötzlich schloß,
war auch mein Leben nicht mehr lebenswert,
und, was ich je durch deine Huld genoß,
versank, von ungesühnter Schuld beschwert.

Noch einmal ward ich vom Geschick verschont,
noch einmal wurdest du zurückgegeben.
Noch einmal haben wir im Glück gewohnt,
denn auch was Leid war, war: gemeinsam leben!
Und hat uns die entartete Gewalt
aus dem zerstörten Heimatland vertrieben,
bekam die Fremde freundliche Gestalt,
denn du warst als Gefährtin mir geblieben.

Nun aber lieg' ich wieder hier allein,
die Nacht der fremden Stadt sich abseits hält,
noch ferner mußt du mir als damals sein,
und wieder mich die Angst um dich befällt,
daß jetzt des Lebens Lust dich von mir nimmt,
der Schneegebirge weiße Märchenwelt,
und daß der Nebel, der mein Haus umschwimmt,
für immer dir den Weg zurück verstellt.

Zum Abschied hast du mir als Unterpfand
getreuer Rückkehr deinen Ring gegeben;
lieg' ich jetzt wach, spiel' ich an meiner Hand
mit ihm, zur Zauberkraft ihn zu beleben.
Vielleicht hat eine Drehung die Gewalt,
dich plötzlich heil zu mir zurückzuleiten
und meine kindisch alternde Gestalt
zu lösen von dem Bann der Einsamkeiten.


 

21. 01. 1936

Verreist

Von jeder Kränkung bleibt in meinem Schweigen
bewahrt ein schmerzlich bitteres Gefühl;
auch wenn es meine Züge nicht mehr zeigen,
macht es mein Herz allmählich leer und kühl.

Wieviel Versprechen wurden nicht gehalten,
wieviel bescheidne Freuden mir verwehrt.
Da mußte schließlich das Vertraun erkalten,
hat sich der Freundschaft Flamme aufgezehrt.

Enttäuschung grub um meinen Mund die Falten,
der nicht mehr Freude äußert, nicht mehr klagt.
An die ich glaubte, sie sind Spukgestalten,
vom bösen Licht der Wirklichkeit verjagt.

Ist, was ich liebte, wieder mir entschwunden;
allmählich lernte ich, gefaßt zu sein.
Erinnerung an freundlichere Stunden
belügt mich oft, ich sei nicht ganz allein.

Doch manchmal ist es kaum noch zu ertragen,
wird die einsame Nacht mir allzu schwer,
bedrückt das Traumbild von den alten Tagen
vergangnen Glückes mich nur desto mehr.

Dann scheint es meine Kraft zu übersteigen,
und alles, was mich stützen sollte, wankt.
Von jeder Kränkung bleibt in meinem Schweigen
ein Gram zurück, bis es zum letzten langt.


 

01. 1936

Nachklang zum Dreikönigstag

Die fromme Legende vom sechsten Januar
ist unserem Herzen längst nicht mehr wahr.
Wie könnten auch Könige heilig sein.
Wie fänden sie je sich feierlich ein,
zu bedenken mit köstlichem Angebind
ein armes, machtloses Menschenkind!
Wann hätten sie je vor dem Geist sich verneigt
und Andacht vor himmlischer Mahnung gezeigt,
dem Schwachen gehuldigt, das Kleine verehrt
und nach dem Segen der Unschuld begehrt?
Wann folgte wohl einer der großen Herrn
in Demut seinem Weihnachtsstern,
verließe Schloß und Krone und Thron,
anzubeten des Menschen Sohn,
gäbe Vergangnes für Künftiges hin,
trüge das Glück für alle im Sinn,
käme in ein fremdes Land
unangemeldet und unerkannt,
ohne das geringste Verlangen,
mit königlichen Ehren empfangen
zu werden vom königlichen Herrn Vetter
bei Hurra und Hohenzollernwetter,
und wäre der ein Schlächter und Schinder,
der Mörder unschuldiger Landeskinder,
und stände sein Thron auf Millionen Leichen,
er wäre doch schließlich seinesgleichen.
Er wäre im Recht, denn er hätte die Macht,
er hätte es doch zu etwas gebracht,
und wäre sein Wesen auch Greuel und Graus -
man hackt seinesgleichen die Augen nicht aus;
gerät eine Herrschaft erst mal in Verruf,
ist bald nicht mehr sicher, was selber man schuf!
Auf Sterne war nie ein Verlaß gewesen,
aus ihnen ist alles und nichts zu lesen.
So lange Reise wird nicht riskiert,
wer weiß, was man da inzwischen verliert,
dreht man den Rücken, gleich regt sich schon
der leibhaftige Satan: die Revolution.
Auf sowas fällt man nicht mehr herein -
der heutige Christ muß ein völkischer sein,
im eigenen Lande erzeugt und geboren,
auf die Parteibibel eingeschworen,
man hört nicht auf ihn, er hört auf den Staat,
und hat je nachdem seine Predigt parat,
und trägt er ein Kreuz, dann darf es allein
das Hakenkreuz des Hasses sein,
ihm spenden die Großen dieser Welt
Weihrauch und Myrrhen und klingendes Geld.


 

24. 01. 1936

Vor deinem Bilde

Dein Bild steht vor mir auf dem Schreibtisch.
In diesem trüben Lande tagt es selten;
doch aus dem Rahmen lacht verführerisch
dein liebes Antlitz in besonnte Welten.

Du blickst auf Schnee, auf Berge weit und weiß,
um deine Wangen Gipfelwinde wehen.
Ich aber muß im abgesteckten Kreis
wie ein Gefangner auf und nieder gehen.

Da draußen ist nur Nebel, Flor an Flor,
und alles Leben eine fremde Trauer,
und ich, ein Flüchtling, der den Halt verlor,
warte vergebens an der Klagemauer.

Blick' ich auf dein beglücktes Angesicht,
so fang' ich dennoch wieder an zu hoffen,
sind über mir auch voller Morgenlicht
des Himmels ganze Herrlichkeiten offen.

Und plötzlich bin ich nicht mehr hier allein:
ich stehe neben dir in deinem Rahmen;
dann gehn wir in den Märchenwald hinein,
wo nichts den Kummer kennt, aus dem wir kamen.


 

12. 04. 1936

Die frohen Ostern

Aus weiter Ferne klingt die Osterweise
in unser fremdes Obdach tröstlich lind:
im Geiste machen wir die alte Reise,
auf der wir österlich beisammen sind.
Zwar sucht sehr bös mit widerlichen Wettern
uns der April zu schrecken; doch voll Mut
wird man im Regen auf die Wartburg klettern,
und oben tut ein steifer Grog uns gut.
Dann kehrten wir zurück zum Abendessen,
im hellen Saal saß man im heitren Kreis,
die dunkle Leidenswoche war vergessen,
und rasch sprach ich zu dir Verliebtes leis.

Ein andres Ostern, und mit anderem Glücke:
da wallte groß vor unserm Blick das Meer,
wir saßen mittags auf besonnter Brücke,
genossen den Geruch von Holz und Teer,
und kehrten wir am Abend heim zum Essen,
so überfiel uns Hollands Überfluß
mit Leckerbissen, üppig, unermessen,
und kam das lange Mahl zu einem Schluß,
geschah es, daß wir einen Rundgang machten
durch alte Gassen am Kanal und Gracht,
den Magen mählich von den schweren Frachten
zu lüften in der meeresnahen Nacht.

Ein drittes: fern schon Heimatparadiesen
auf dieser Insel, die uns fremd sein muß,
in einer Landschaft, die mit weiten Wiesen,
wo Kühe ruhig lagerten am Fluß,
so ähnlich war den heimatlichen Auen,
die Hügel rahmten freundlich rings das Tal,
da spielten junge Häslein voll Vertrauen,
und kehrten wir zurück zum Abendmahl,
indes der Nebel um die Ufer webte,
schien es, als wären wir in diesem Haus
das einzige Paar, das noch auf Erden lebte,
geschmückt mit einem frischen Osterstrauß.

Und jetzt sind wir vereint in neuer Bleibe,
die friedlich unsre Abende umgibt,
wo ich dir diese Osterverse schreibe,
noch immer frühlinghaft in dich verliebt.
Die Stürme draußen, die aprilnen Schauer,
sind nichts, weil unser Leben aufersteht
mit gleicher Not und Sorge, Lust und Trauer,
gemeinsam in das neue Werden geht.
Einträchtig feiern wir bei Trank und Speise,
im Radio festlich reicht als Angebind
die ganze Welt uns ihre Osterweise,
daß wir in keiner Fremde fremd mehr sind.


 

01. 05. 1936

Meine Lüge

Jedes neue Lied birgt neue Lügen,
die mich weiter mit mir selbst entzwein
und an meinen kühnsten Märchenflügen
hängen als ein erdenschwerer Stein.

Wahrheitsliebe schmilzt in den Gedichten,
und sie geben ihrer Feigheit nach
und verschweigen in den Reimberichten
eines Lebens Bosheit, Schande, Schmach.

Es beschwichtigen die alten Phrasen
mit verspieltem Zuspruch, der nicht währt;
der Gefühle unbezähmtes Rasen
wird zum Schaustück trügerisch verklärt.

Doch das Letzte bleibt unausgesprochen,
meines Herzens Eitelkeit und Scham;
lichtscheu hat mein Wunsch soviel verbrochen,
was niemals in mein Bekenntnis kam.

Oder schien es fast enthüllt zu werden,
hat es ein gefälliger Vers versteckt,
daß fortan kein andrer Mensch auf Erden
den gefährlichen Beweis entdeckt.

Dies Gedicht auch wird die Welt betrügen,
wird ein Heuchler nur der Reue sein
und mein letztes Lied mit seinen Lügen
noch des Todes Wirklichkeit entweihn.


 

14. 05. 1936

Unser Hochzeitstag

Du sagtest jüngst, ich mache immer wieder
dir Mut zum Leben, wenn dein Herz verzagt;
das gilt mir mehr als meiner besten Lieder
künftiger Ruhm, der heut sich mir versagt.

Und will mich selbst Verzweiflung überkommen,
ist dieses Wort von dir mir hilfreich Trost:
ich hab' es einmal, einmal doch vernommen,
hast du mich sonst auch lang nicht mehr liebkost.

Auch ich hab' lang nicht mehr um dich geworben,
dich lang nicht mehr mit Zärtlichkeit bedacht,
da ist wohl manche Lust in dir erstorben,
verhüllte sich der Stern der Hochzeitsnacht.

Nun steigt er wieder auf aus Maienlüften,
verliebter, frührer Stunden eingedenk,
und in den abendlichen Fliederdüften
grüßt dich der Frühlingslieder Brautgeschenk.

Denn jeder Tag, den wir gemeinsam hatten,
des Lebens schlichte Führung, Jahr für Jahr,
mit allen Helligkeiten, allen Schatten,
macht unsern Bund doch stets aufs neue wahr.

Daß wir uns eins am andern heil erhalten,
eins durch das andre zuversichtlich bleibt,
standhaft im Ansturm feindlicher Gewalten,
der nie aus unsrer Liebe uns vertreibt.

Denn immer weiß ich mich bei dir geborgen,
durch dich bewahrt, was uns auch treffen mag,
und froh beginnt mit holdem Maienmorgen
auch in der Fremde unser Hochzeitstag.

Da kann ich deinen Trost zurück dir geben,
daß meine Dankbarkeit zu dir auch sagt:
Du machst mir immer wieder Mut zum Leben,
das sich mit dir in jede Zukunft wagt.


 

15. 05. 1936

Ich bin alt

Ich bin alt, ich fordre nicht mehr heraus.
Ich warte auf das Ende mit Schrecken.
Ich bereite mich vor: ich bestelle mein Haus.
Ich träume den Frieden. Was wird mich wecken?

Ich bin geständig, ich weiß mein Vergehn:
nichts, was ich versprach, hab' ich gehalten.
Ich wollte die Jahre mit Wahrheit bestehn;
nun muß ich in Heucheln und Schweigen erkalten.

Ich bin alt. Was von mir fehl war und schlecht,
kann ich nicht mehr gutmachen und ändern.
Ich habe die Welt zu schmähen kein Recht
als Ungebetner in fremden Ländern.

Als Heimatloser, der alles verlor
und kann sich nicht von Schuld freisprechen.
Verleugnet ist, was ich einst schwor.
Meine Wünsche kennen jedes Verbrechen.

Ich bin alt. Der Frühling beglückt mich nicht mehr;
ich weiß nicht, ob ich den nächsten erlebe.
Der Jahreszeiten Wiederkehr
betrübt mich nur mit Schnee und Rebe.

Und bald ist alles ganz vorbei,
bringt auch kein Vierblattklee mir Gutes.
Wie lang schon bin ich nicht mehr frei,
wie bar des jugendlichen Mutes!

Da ging auch ich auf Eroberungen aus
und wollte das Unbekannte entdecken . . .
Ich bin alt. Ich fordre nicht mehr heraus.
Ich warte auf das Ende mit Schrecken.


 

31. 05. 1936

Pfingstwunsch für Leni

Ich möchte aus den kalten Maientagen,
in denen deine Seele bangt und friert,
dich in ein sonnenfrohes Pfingsten tragen,
um das des Sommers Lust schon musiziert,
im Grase dir ein weiches Lager machen,
wo dich ein sanfter Mittagschlaf entrückt,
aus dem du kindlich lachend sollst erwachen,
vom Überfluß des Blühenden beglückt.
Noch brennen im Kamin die Winterfeuer,
um die man mutlos und verloren hockt.
Nichts wirbelt uns in neue Abenteuer,
von denen eins das andre weiterlockt.
Und suchst du hinterm Rauch und Dunst der Essen
des Himmels weite Herrlichkeit zu sehn -
nichts, was das Glück dir schuldet, wird vergessen,
nichts, was du liebend hegst, kann untergehn.

Die grauen Wolken werden wieder weichen,
die Häusermauern geben gern dich frei:
ein guter Engel will die Hand uns reichen
und führt uns aus dem trüben Einerlei.
Das Buntere wird wieder uns gehören,
der unbeschwerten Stunden muntre Gunst,
kein böses Ahnen mehr die Rast verstören,
kein Schuldgefühl die Andacht vor der Kunst.

Ich möchte aus dem kalten Unbehagen,
mit dem die Welt sich jetzt verzweifelnd quält,
dich in ein schreckenloses Leben tragen,
wo alles Ausgestandne nicht mehr zählt,
im Friedlichen uns eine Heimat machen,
die dich mit ihren schönsten Kränzen schmückt,
daß ich dich sehe wieder kindlich lachen,
vom Überfluß des Pfingstlichen beglückt.


 

15. 06. 1936

Wir sind verloren

Ich spüre, daß Er wieder, nicht zu fassen,
sich heimlich drohend in das Haus einschlich,
der Menschenwürger, stumm und fürchterlich,
vor dem der Stärkste schwach ist und verlassen.

Ich spüre Ihn der Dinge Ordnung stören:
die Luft im Zimmer wurde tödlich kalt;
schon hat Er über alles hier Gewalt,
scheint Ihm, was uns umhegte, zu gehören.

Auf den Gemälden werden blaß die Farben,
die Bücher stehen fremd und welk im Schrank;
was ich berühre, macht mich müd und krank.
Es winkt die Sehnsucht aller, die mir starben.

Und lautlos huscht der Dunkle durch die Stuben,
und lautlos prüft Er, was Ihm opfern soll,
und jedes Herz ist plötzlich kummervoll,
beschwert mit Wünschen, die wir längst begruben.

Es schweigt, daß wir im Ungewissen bleiben,
ob Er noch einmal gnädig uns verschont,
der doch schon lang in meinem Blute wohnt
und trachtet, aus der Welt mich zu vertreiben.

Und grausam wird Er dann in unsrem Kreise
ein Zeichen machen, das uns allen gilt:
wir sehn im Spiegel plötzlich unser Bild
und wir erkennen uns, verstört, als Greise.

Des Würgers Lachen klingt in unsern Ohren,
das Tor schlägt zu, dumpf tönt ein Sterbelied.
Und jetzt, obwohl Er diesmal wieder schied,
ist uns gewiß: Wir sind verloren.


 

27. 07. 1936

Klage über die zerstörte Harmonie meiner Gedichte

Meiner schönsten Lieder schönste Zeilen,
die ich selbst so sorglich niederschrieb,
stets bemüht, sie strenger auszufeilen,
daß kein Stäubchen am Gefieder blieb,
werden plötzlich lächerlich verschroben,
in entstellter, fälschender Gestalt
ahnungsloser Nachwelt aufgehoben;
nicht mehr hab' ich über sie Gewalt.
Eingetaucht ins Moor der Druckerschwärze
sind sie, ob sie wollen oder nicht,
preisgegeben jedem schalen Scherze,
den der Letternteufel Wahn verbricht.
Und nun bringen sie ganz andre Kunde,
als ich ihren Künsten zugedacht,
und mißtönig mit verzerrtem Munde
äußern sie, was mir Entsetzen macht.
Würde haben sie und Geist vergessen,
Grazie, Einfachheit und Harmonie,
von der Lust am Sinnlosen besessen,
sind sie taub für Takt und Melodie.
Tragen sie nicht selbst schon Satansfratzen,
höhnen ihren Meister, der sie schuf,
zeigen frech die ungestutzten Tatzen,
stampfen häßlich mit dem Hinke-Huf ?
Ich erkenne meine Brut nicht wieder,
deren Wort mir längst nicht mehr gehört.
Immer werden meine schönsten Lieder
von des Zufalls Tücke mir zerstört.


 

23. 08. 1936

Bürgerkrieg in südlicher Landschaft

Es fliehn der Schloßbesitzer Limousinen,
die Kirchenglocken schreien sich in Wut
den Autos gleich, die in den Serpentinen
ausbrüllten ihren frechen Übermut.
Schon donnern unsichtbare Donnerschläge,
die Hölle ist auf einmal hitzig nah.
Der Bettler hinterm Busch erhebt sich träge,
weil niemals noch ihm Wichtiges geschah.
In einem Tümpel ein paar Ferkel dösen,
ein lahmer Esel unaufhörlich stapft
den gleichen Kreis am Rad, nicht zu erlösen.
Der Wirt den Rotwein aus dem Fasse zapft;
die Gäste, vor dem gegenseitigen Morden,
lauschen vereint der Grammophonmusik.
Milchkannen stehen an den Straßenborden,
im Garten spielen Kinder friedlich Krieg.
Sehr junge Helden fuchteln mit Gewehren
und tänzeln lächelnd wie im Bühnenlicht
und werden lebend nicht mehr wiederkehren.
Bewegungslos harrt stumm das Weltgericht.
Der Apotheker in des Kellers Kühle
trotzt unbestechlich jeglicher Gewalt.
Es walkt erbarmungslos die wüste Mühle
den Ritter von der traurigen Gestalt.
Die reifen Felder warten auf den Schnitter;
die Schwangre frische Frucht dem Tode trägt.
Und in den Wolken lauert das Gewitter,
daß es den Blitz in die Verdammnis schlägt.
Die Geier sammeln sich, den Wahn zu nutzen.
Zerbrochen liegt im Staub der Tränenkrug.
Viel Druckerschwärze wird die Welt verschmutzen,
und aus den Opfern wächst ein neuer Trug.


 

10. 09. 1936

Dein Liebesopfer

Wieder einmal hast du mich verlassen;
ganz verloren muß ich nun, allein,
zwischen all den fremden Häusermassen
über alle Maßen traurig sein.
Einsam sitz' ich auf der Promenade,
blicke blicklos auf das bunte Beet,
bis der Tag, auch ohne jede Gnade,
unerbittlich in das Dunkel geht.

Traurig kehr' ich heim. Die Stuben schweigen,
auch die Lampe macht sich nicht vertraut:
nirgends will dein Antlitz sich mir zeigen,
kummervoll das Katzentier miaut,
aus dem Rundfunk höhnen Lustbarkeiten
ohne Mitgefühl mein Herzeleid,
um die leeren Zimmerecken gleiten
spür' ich noch den Duft von deinem Kleid.

Plötzlich hat das Schicksal ein Erbarmen:
schellt die Glocke, du bist wieder da!
Selig liege ich in deinen Armen,
zweifelnd, ob mir dies im Traum geschah,
daß dein Leben auf ein Glück verzichtet,
meine Tage glücklicher zu sehn.
Meiner Liebe Werk ist nur gedichtet,
deine kann mit einer Tat bestehn.


 

15. 09. 1936

Mein Versagen

Als es galt, ein Opfer bringen,
da versagt' ich schwach und feig;
Liebeslieder kann ich singen
lüstern nach dem Lorbeerzweig,
aber soll ich mich bewähren
im notwendigen Verzicht,
fließen unbeherrscht die Zähren,
bettelt kläglich mein Gesicht.

Schwerer mach' ich stets dein Leben,
hänge mich an seinen Flug.
Kannst du jemals mir vergeben,
daß ich dich ins Dunkel trug,
um das dir Gemäße brachte,
um das Leichte, um die Lust,
deine Sicherheit umnachte,
daß du angstvoll träumen mußt?

Harmlos, mit dir selbst in Frieden,
wärst du ohne mich beglückt,
wäre Schönes dir beschieden,
wärst von Sorge nicht bedrückt,
pflegtest gern in deinem Garten,
was der Jahreszeit gelingt,
dürftest auf die Ernte warten, die der Herbst dir willig
          bringt.

Dürftest deine eignen Wege
ohne Vorwurf gehn und frei,
ohne daß ich fest dich lege
im gewohnten Einerlei,
dürftest durch die Welten fahren,
wird die deine dir zu klein,
und mit allem Wunderbaren
dieser Erde gütlich sein.

Statt, daß ich dein Glück dir mehre,
fördre, was dein Herz erfreut,
deinen Kümmernissen wehre,
daß dich kein Genuß gereut,
laß' ich dir kein Fest gelingen,
mache krank dich und verzagt.
Wenn es galt, ein Opfer bringen,
hat mein Leben stets versagt.


 

18. 09. 1936

Neue Trennung

Die Augen schmerzen mir vom vielen Weinen,
weil uns das Leben wieder grausam schied.
Die Sonne muß durch Trauerflore scheinen,
der fremde Strom singt mir ein Klagelied.

Ich wandle gramvoll in dem Ungewissen;
was rings um mich geschieht, berührt mich nicht.
Das Schicksal hat mir wieder dich entrissen.
Was hilft es, daß mein Traum zu dir noch spricht?

Schon spukt der Abendnebel auf den Wogen,
Schleppdampfer schaufeln sich schwerfällig fort,
und meine Sehnsucht wird dir nachgezogen
und sucht nach deiner Spur von Ort zu Ort.

Doch du verlorst dich längst in dunkle Reiche,
die mir der schwarze Wall der Nacht verwehrt,
daß ich zurück in meine Ohnmacht weiche,
die nichts, als dich beglückt zu sehn, begehrt.


 

29. 09. 1936

Reigen der Einsamkeit

     1
Der liebende Gatte, dem wieder die Frau verreiste,
sitzt einsam am Tisch und bedenkt sein verlornes Glück;
noch gestern war es, daß er mit ihr hier speiste;
er wünscht sich verzweifelnd die guten Stunden zurück
und fühlt, sie werden sich nie mehr wiederholen,
so wie sie waren, und schluchzt in sein Glas hinein.
Was hat ihn immer um alles Gute bestohlen?
Sein eigener Kleinmut? Er ist unendlich allein.

     2
Die junge Dienstmagd sitzt einsam auf ihrem Bette
und liest immer wieder den treulosen Absagebrief;
da ist sein letztes Geschenk, die Korallenkette,
sie hört den Kosenamen, mit dem er sie rief,
erhebt sich willenlos und wankt zur Lade
und findet das Gift und mischt den vernichtenden Trank,
doch ist zu ihr, wie das Leben, der Tod ohne Gnade:
am andern Morgen erwacht sie, in Qualen krank.

     3
Die gefeierte Diva des Filmes, von allen beneidet,
liegt nachts in fremden Hotelzimmern hilflos wach:
wie sehr sie der Liebe bedürfte, wie einsam sie leidet,
darf niemand wissen. Wie ist sie erloschen und schwach!
Ihr graut vor den Tagen, daß wieder die Lampen brennen
im Atelier auf künstliche Tränen und Trug.
Niemand darf jemals ihre Verlassenheit kennen,
niemals tut ihrer Sehnsucht das Leben genug.

     4
Einsam wandeln wir alle im dichten Gedränge
durch die Verdammnis der Städte, verängstet, stumm.
Das kommende Unheil erwürgt unsrer Herzen
          harmlose Gesänge,
vom Ducken vor Schicksalsschlägen ward jedem
          der Rücken krumm.
Keiner weiß von des Nächsten verborgenen Wunden
          und Nöten,
jeder ist unendlich allein,
jeder weiß, es wird ihn morgen töten
oder noch einmal sein trostloses Leben sein.


 

01. 10. 1936

Herbstabend im Kensingtonpark

Den um den Teich ein selbstbewußter Schlingel
mit rosigem Gesichtchen, drollig, dreist,
und unter unaufhörlichem Geklingel,
viel Neid erweckend, mit dem Rad umkreist.
Zwei Mädchen sitzen steif, wie kleine Damen,
mit Handschuhn angetan und blicken kalt.
Die Väter, die aus den Kontoren kamen,
verloren Lebensernst und Amtsgewalt:
sie spielen wie in ihren Kinder jähren
und lassen auf dem Wasser stundenlang
die selbstgebauten Boote Probe fahren;
fern ist der Kurs, das Konto auf der Bank.
Und andre bleiben standhaft an den Leinen
der selbstgemachten Drachen wie auf Wacht,
ob auch die Sprößlinge verzweifelt weinen,
um das, was doch ihr Spiel sein soll, gebracht;
die Väter aber träumen Abenteuer,
versäumen fast die rechte Essenszeit.
Schon räuchert herbstvertraut ein Unkrautfeuer.
Das Entenvolk sich eifernd heiser schreit
im Wettstreit mit den Schwänen um die Brocken,
die ein Tierliebender gerecht verteilt.
Die letzten Zeitungsleser eisern hocken
wie an die kalten Sitze angeseilt,
bis drohend sie, noch vor dem Dunkelwerden,
der Wächter aus dem Paradies vertreibt,
daß mit den heimgehetzten Lämmerherden
ihr wehrloses Geschick das gleiche bleibt.


 

02. 11. 1936

Sturm und Vergänglichkeit

Das Haus, das, wie ein Schiff auf hoher See,
im Sturm jetzt rattert, wird mich überleben.
Noch trink ich hier in warmer Stube Tee
und weiß mich sicher durch die Wirrsal schweben.
Noch sehe ich vom Fenster in den Tag,
auf Dächer, die wie eine Elendsherde
sich ducken vor dem nächsten Peitschenschlag,
mit dem das Wetter schreckt das Herz der Erde.
Auf Essen, deren Rauch vergeblich sucht
nach allen Seiten glimpflich zu entrinnen,
auf eine Welt, verworfen und verflucht,
sich selber gram, unselig und von Sinnen,
durch alle Furien der Gier geplagt,
geschüttelt von dem Haß der Elemente.
Doch hier im Zimmer, wo es mir behagt,
als sicherte mich eine gute Rente
bis an mein sanftes Ende, ohne Hast
verbring' ich wie im Eignen meine Stunden,
als war' ich nicht der unerwünschte Gast,
als hätte ich für immer heimgefunden
und ahnte nicht, wie bald mich das Geschick
vertreibt zu immer fremderen Gestaden.
Und wieder wird mein gutgewillter Blick
die Straßen lieben und die Promenaden,
und wieder wird sich bald mein Dichtertraum,
Unsterblichkeit erhoffend, überheben,
und dennoch meines Obdachs schwanker Raum
mich und mein Werk im Letzten überleben.


 

18. 11. 1932

Trost der Bücher

Jetzt darf ich wieder zwischen Büchern weilen,
verbündet allem, was die Bücher liebt,
vom Krampf der Welt in einem Trost mich heilen,
der mir die Menschenwürde wiedergibt,
mit meinesgleichen ungestört beisammen,
schweigend beraten, doch verraten nicht,
umzüngelt von den tausend Geistesflammen,
die sich vereinen zu dem Ewigen Licht.
Ich wähle mir ein Werk von diesen allen
und lese Verse, die ein andrer schrieb,
die brüderlich in mir jetzt widerhallen,
Wohllaut für jeden, den es jäh vertrieb
aus einer Heimat, die einst von Gedichten,
ein Märchenwald, in steter Blüte stand.
Vorbei. Dann halt' ich eine der Geschichten
vergangnen Glückes zweifelnd in der Hand
und stelle sie zurück an ihre Stelle
und koste, welchen Trost ein drittes bringt,
und jeder Satz ist eine sanfte Welle,
die mich zu seligeren Inseln schwingt.
Da ist das Gegenwärtige versunken
im Nebel, der es ganz unscheinbar macht;
da ist der Traum der alten Lust ertrunken,
da wird nicht mehr der Zukunft bang gedacht.
Es wächst der Raum in unbegrenzte Weiten,
wo Buch um Buch sich Phantasie erneut.
Doch zwingt aus eines schmalen Heftes Seiten
der Wahrheit Stimme mich herab zum Heut,
zur blutgetränkten Wahlstatt jeder Plage,
zur Not der Opfer, die man boshaft quält
mit unbarmherzig roher Folterfrage,
die aus dem Schacher ein Bekenntnis schält.
Da gibt es keine Spiele, kein Entrinnen:
du hörst das Stöhnen, siehst die wunde Spur;
jedes Kapitel muß mit Leid beginnen
und legt um deinen Hals die Galgenschnur;
im gleichen Augenblick, da zeitlos milde
ich zwischen Büchern mich verbergen will,
schreit, was auf einem alten Martyrbilde
ein Alptraum schien, mir ins Gewissen schrill
die Wirklichkeit der Gegenwart: das tolle,
barbarische Geschehen Tag für Tag.
Doch endlich weist ein Buch mir meine Rolle
und zeigt euch, was ein Dichterwort vermag:
den Mut zu mehren und den Gram zu heilen,
zu sagen, was dem Flüchtling Würde gibt.
Wir dürfen wieder zwischen Büchern weilen,
verbündet allem, was die Freiheit liebt!


 

12. 1936

Unsere schönsten Lieder

Wo sind unsere schönsten Lieder geblieben,
die uns blühten, wenn wir sie nicht wollten,
die wir nachts schlaftrunken nicht aufschrieben,
daß ins Dunkel wieder sie entrollten?

Die sich plötzlich in unsre Liebesstunden
hartnäckig hingen und nicht verscheuchen ließen,
später haben wir sie nicht wiedergefunden,
wollten wir sie in einsamer Muße genießen.

Wo mögen sie sein, die schon im Entstehen sterben?
Schweifen sie ruhlos? Führt sie zu kommenden Dichtern,
die sie besser empfangen, ein glückhafter Wind?

Oder müssen sie für ewig verderben?
Leben sie nur noch als Narben in unsern Gesichtern?
Wir aber wissen, daß es unsre schönsten Lieder gewesen sind

 


 

24. 12. 1936

Weihnachtsstrophen 1936


     1

Die heimatlichen Äcker liegen
jetzt wieder winterlich verschneit...

Gedenkst du der vergangnen Zeit:
die Flocken wirbelnd uns umfliegen,
wir stapfen wie verschworne Rangen
trotz Wind und Kälte über Land,
der Schneeball saust von Hand zu Hand,
es röten sich die Wangen.
Dann hegt uns eines Dorfes Schenke
mit Grog und Kachelofenglut,
auch tut ein Käsebrot uns gut.
Landbuben klettern auf die Bänke
und spähen in den Saal daneben,
wo schon geschmückt der Christbaum stand,
und wir auch saßen Hand in Hand,
dem Weihnachtszauber hingegeben .. .

Das Bild von fernen Tagen
ist mir jetzt liebliches Geleit.
Siehst du es auch, als eingeschneit
die heimatlichen Äcker lagen?

Und was ist uns davon geblieben,
nun, da ich durch die Fremde geh?
Auch ohne Schenkenglück und Schnee,
daß wir uns heut wie damals lieben
und jetzt noch inniger verbunden,
als in verflossnen Zeiten sind.
Denn damals war man wie ein Kind
leichtsinnig, ohne Arg und Wunden,
nicht ahnend, wollte auch nicht ahnen,
wie wüst das Leben werden kann,
und ich ein billig tapfrer Mann
mit falschen Siegerfahnen.
Nun aber haben wir bestanden
das Äußerste an Menschenwahn,
und weil wir dies gemeinsam sahn,
wird uns auch in den fremden Landen
das Schwere leicht, und das Gedenken
an das Verlorne schmerzt nicht mehr,
und auch der Weihnacht Wiederkehr
kann köstlich uns beschenken.

Im Nebel sind die Straßenzeilen
verzaubert wie ein Märchenwald,
durch den in heimischer Gestalt
die Santaklause eilen,
den Sack voll Segen auf dem Rücken,
noch eifrig, kurz vor Ladenschluß,
und selig schon im Vorgenuß,
die Ihren zu beglücken.
Kann mancher nur Geringes bringen,
der gute Wille macht es wert,
und himmlisch wird uns einbeschert
oft mit ganz kleinen Dingen.
Ob draußen auch die Stürme toben,
die Welt im Blutrausch sich zerstört -
wie eins dem andern angehört,
sind wir hier friedlich aufgehoben:
die Lichter strahlen an der Tanne,
wir bleiben wieder wohlbedacht,
du stille, heilige, liebe Nacht,
in deinem trauten Banne.


     2

Laßt uns auch in fremden Landen
festlich unser Fest begehn!
Überm Obdach, das wir fanden,
soll der Stern der Christnacht stehn.
Überall im warmen Zimmer,
wenn die Christnacht uns vereint
und mit seinem Kerzenschimmer
heimatlich der Baum bescheint,
wenn wir aus dem Rundfunk hören,
wie in aller Sprachen Mund
jedem Volk mit Engelschören
wird die Friedensbotschaft kund,
ist das Drohende verschwunden
und die Feindschaft nicht mehr wahr,
scheint in stillen Weihnachtsstunden
alles wieder wunderbar,
dürfen wir das Gute hoffen
und dem Geist der Christnacht traun,
sind des Himmels Tore offen,
daß wir in die Zukunft schaun,
wo nach allem Gott-Verhöhnen,
wo nach Kampf und Haß und Gram,
endlich wieder das Versöhnen
für die Gutgewillten kam,
daß wir in den fremden Landen,
als uns Kleinmut fast befiel,
unsre Heimat wiederfanden,
Apfelduft und Glockenspiel.
Wieder wie vor Wahnsinns-Zeiten
ist die Menschheit friedlich eins,
freut mit allen Wirklichkeiten
jedes Wesen sich des Seins,
ist das Schlimme überstanden,
keine Drohung mehr zu sehn,
dürfen wir in allen Landen
festlich unser Fest begehn.

 


 

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