Gedichte 1938

Gedichte

1938

Alle Zeitangaben zu den Gedichten geben das Datum an, dem der Text zugeordnet werden konnte.
Bezug hierzu sind die Angaben aus der Sammlung der 1987 von Klaus Völker herausgegebenen Gedichte.


Inhalt

Fremder Winter

Frühlingsnähe

Versäumtes Leben

Pfingstliche Hoffnung

Ungenügsamkeit

Weihnachtsglocken 1938

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16. 02. 1938

Fremder Winter

Wieder ist ein Winter durchgelebt,
der uns wenig Winterliches brachte;
wenn er jetzt im Frühlingswind entschwebt,
spüren wir, wie mutlos er uns machte.
Niemals konnten wir, wie einst, beglückt
durch die eingeschneite Landschaft stapfen,
nirgendwo hat Eis ein Dach geschmückt
zierlich mit viel weißgefrornen Zapfen.
Nirgendwo ein Schlittenläuten klang,
niemals durftest du auf Skiern wagen
tapfre Talfahrt von dem Übungshang,
nirgends lustge Schneeballschlachten schlagen,
niemals auf der Kachelofenbank,
heimgekehrt aus dichtem Flockentreiben,
wohlig dich mit einem heißen Trank
stärken hinter festen Doppelscheiben.

Hier war Winter vor der grauen Wand
ungewisser, feuchter Nebelwochen,
zwischen Herbst und Lenz ein Niemandsland,
wo wir in den Höhlen uns verkrochen;
ungeschützt vor steter Stürme Wehn,
die den schlechtgefügten Bau berannten,
fühlten wir die Jahreszeit vergehn,
ohne daß wir ihr Gesicht erkannten.
Und nun ist sie wieder durchgelebt,
hinterließ kein gutes Angedenken;
doch der Lenz, der uns entgegen schwebt,
naht mit allen schuldigen Geschenken.

 


 

08. 03. 1938

Frühlingsnähe

Er naht. Du hast ihn schon gewahrt:
als ob die Züge anders rollten
und zärtlich dich verlocken wollten
zu abenteuerlicher Fahrt.
Er bringt die Unrast in dein Blut,
der Liebling mit den Knabenlaunen,
den wir wie einen Gott bestaunen
in seinem jungen Übermut,
wenn er die Nebelhüllen packt,
auf daß die ihm verlobte Erde
noch vor der Zeit entschleiert werde,
im feuchten Morgen fröstelnd nackt.
Die Möwenschar am Ufer weht
vom Wind bewegt ihm weiß entgegen,
wie ein verfrühter Blütensegen
auf einem reichbeglückten Beet.
Noch ist die Luft voll Winterfrost,
voll Arges ahnender Gedanken
und Angst vor tödlichem Erkranken.
Doch wird des Gartentores Rost
schon übermalt mit frischem Rot.
Der Greis fühlt jünglinghafte Süchte,
erlauscht verfängliche Gerüchte,
vergißt die winterliche Not.
Auch du vergaßest altes Leid
und hoffst, du brauchtest nie zu sterben.
Der Lenz beginnt sein Liebeswerben.
Er naht. Du bist für ihn bereit.

 


 

23. 05. 1938

Versäumtes Leben

Das Gute, das ich mir entgehen ließ,
und jede Seligkeit, die ich versäumte,
des Zaudernden verlornes Paradies,
was ich untätig stets mir nur erträumte,
statt seiner Wirklichkeit mich zu erfreun,
der Wunsch, den ich nicht zu erfüllen wagte,
die kleinste Labsal, die ich mir versagte:
es wird mich bis zum letzten Hauch gereun.

Das Wenige, das im Leben mir gelang,
entschädigt nicht für alles feig Verpaßte;
kein Trost ist meines schönsten Liedes Klang,
wenn ich die Gunst der Stunde nicht erfaßte;
und wo mir jetzt Vergnügliches noch winkt,
kann es mir nicht zu reiner Lust gereichen:
stets muß ich mit Verlornem es vergleichen,
daß jeder holde Leichtsinn mir mißlingt.

Je mehr ich altre, desto böser muß
Verfehltes das Gewissen mir verstören;
Erinnrung grämt sich bis zum schweren Schluß,
was mir bestimmt ist, darf mir nie gehören.
Statt zuzugreifen, hab' ich nur geträumt,
doch diese Träume kann ich nicht vergessen.
Mich dünkt, ich habe nie etwas besessen
und meines ganzen Lebens Sinn versäumt.


 

05. 06. 1938

Pfingstliche Hoffnung

Wenn das Pfingstliche beginnt,
klingen die Geräusche reiner,
scheinen die Gefahren kleiner,
alle Menschen gutgesinnt.
Was mich morgens sonst verdroß,
bringt mich nun in gute Laune,
daß ich ob der Wandlung staune:
froh erwacht im Märchenschloß,
sehn wir eins des andern Bild
zärtlich aus dem Spiegel winken,
siehst mich wieder lächeln, trinken,
seh' dich lächeln gutgewillt,
höre, wie der Bergbach rinnt,
den wir allzu lang vergaßen
im Geström der Großstadtstraßen,
wenn das Pfingstliche beginnt.

Nichts verstört die Zuversicht;
mögen unheilschwere Zeiten
sich bedrohlich vorbereiten -
uns entrückt ein Pfingstgedicht
auf den höchsten Heimatberg,
wo vertraute Lüfte wehen,
wo wir wie vom Himmel sehen
unter uns das Weltenwerk
klein, vergänglich Wahn und Macht,
unnütz Sieg und Niederlage
vor dem pfingstlich reinen Tage
in Vergessenheit gelacht.
Ein schon geisterhaftes Licht
führt den Blick zu Zukunftsfluren:
nirgends ließ das Dunkel Spuren,
nichts verstört die Zuversicht.

Denn das Pfingstliche beginnt:
Birken grüßen allerorten
an des Lebens Sommerpforten,
das den Träumer liebgewinnt.
Träumen wir ein künftges Glück,
werden wir es wirklich finden.
Träumen wir zum Duft der Linden
holder Heimat uns zurück,
wird es uns beschieden sein,
wenn wir Hand in Hand erwachen,
uns die Fremde wohnlich machen,
bis das Herz beim Glase Wein
frührer Feste sich entsinnt,
deren Freuden nie vergingen,
die uns heut wie einst gelingen,
wenn das Pfingstliche beginnt.


 

08. 07. 1938

Ungenügsamkeit

Vom einst Gewohnten sind wir so verwöhnt,
daß wir der Zeiten Wandlung nicht verwinden,
wenn wir uns nun, wie vom Geschick verhöhnt,
in minderer Umgebung wiederfinden.

Schon scheint man ihrem Tiefstand angepaßt
und fühlt sich mit den anderen verdummen;
das Hassenswerte wird hier nicht gehaßt,
Rebellisches muß in der Brust verstummen.

Was nötig wäre, Schweres zu bestehn
und uns vor bösem Trübsinn zu bewahren:
ein wenig Lust, ist hier nicht vorgesehn,
im Freude Spenden sind sie nicht erfahren.

So fragt sich das befremdete Gemüt:
»Wie kamen wir in diesen falschen Rahmen,
in dieses Bild, wo nichts uns Gutes blüht,
ins graue Gegenstück des Wundersamen?«

Da wird der Kindliche durch nichts verwöhnt,
muß jeder Hoffnungsschimmer uns entschwinden,
daß wir, mit unserm Schicksal unversöhnt,
die Lust am Leben niemehr wiederfinden.


 

Weihnachten 1938

Weihnachtsglocken 1938

Ist der Weihnachtsglocken hohes Klingen
im verstörten Lärm der Welt zu hören,
lauscht sie diesmal noch dem frommen Singen,
den am Lichterbaum andächtigen Chören,
kann die Friedensbotschaft übertönen
mit dem Segen für die Gutgesinnten
das bedrohlich kriegerische Dröhnen?
Sollen Kindersäbel, Spielzeugflinten,
wieder auf den Gabentisch gebreitet
zeigen, daß mit abgefeimtem Werben
sich das Mörderische vorbereitet?
Führt der Weihnachtstern die Welt ins Sterben?
Wenn wir jetzt noch wie vor Zeiten feiern
und mit schönem Tröste uns beschenken,
heißt es: feig das Schlimme sich verschleiern
und, geborgen, nicht der Opfer denken?
Kann das Weihnachtsmahl uns wirklich munden
und der Zauber wieder uns beglücken,
können uns die weihevollen Stunden
in des Kinderglaubens Reich entrücken?
Solange Menschen sich lieben,
zusammen dem Guten vertraun,
auch, in die Fremde vertrieben,
ihr Leben mit Heimat umbaun,
läßt unser Fest sich nicht stören,
ist mit dem Glockenklang
tröstlich für alle zu hören
der Welten Weihnachtsgesang.

Wie du unser krankes Kätzchen heiltest,
daß es sich zurück ins Leben spielte,
Furcht und Hoffnung mit den Deinen teiltest,
als der Kriegsgott auf uns alle zielte,
zuverlässig unser Haus bestelltest,
tapfer waltend wider die Gefahren,
durch die bloße Gegenwart erhelltest
dieses dunkelste von unsern Jahren,
hast du immer näher dich gehoben
zu dem Sinn der heiligen Legende
und bist wohlbegründet einverwoben
ihrem Gleichnis gegenseitiger Spende.
Von des Baumes Lichtern strahlt das Leuchten
hell zurück aus den verklärten Mienen:
deinen schmerzhaft, glückhaft tränenfeuchten
Augen ist das Himmlische erschienen,
das die Widerstände überwindet
und mit Weihnachtlichem jeden segnet,
der im Leben sich beschenkt empfindet,
mit dem Friedensgruß dem Feind entgegnet.
Solange wir unter dem Baume
gemeinsam die Feier begehn,
im festlich erleuchteten Räume
uns festlich verbündet sehn,
ist uns das Leben gewonnen,
auch in dem fremden Land,
hat neben anderen Sonnen
deine und meine Bestand.

Schnee verwandelte die fremden Straßen,
daß sie dem gewohnten Winter gleichen;
Weihnachtswunder, die wir nie vergaßen,
können in der Ferne uns erreichen,
läßt der Rundfunk uns das hohe Klingen
der vertrauten Glockenspiele hören
und im Mutterlaut uns das fromme Singen
von den heimatlichen Kirchenchören.
Zuversichtlich dürfen wir dann hoffen,
daß die Friedensbotschaft Wahrheit werde;
alle Herzen sind ihr heimlich offen,
Gläubige die Besten dieser Erde.
Oft noch werden wir das Fest begehen,
gegen die Verzweiflung Recht behalten,
unter dem Gestirn der Weihnacht stehen
und zum Dankgebet die Hände falten,
wird uns schließlich alles gut geraten,
und das Wüste sich zum Wohle wenden,
daß mit dem Bewußtsein guter Taten
sich die Weihnachtstage recht vollenden.
Solange uns Freude zu machen
vergönnt ist und hilfreich zu sein,
dürfen wir tafeln und lachen,
guten Gewissens beim Wein
das Vergangne betrachten
und dem Künftigen traun,
werden sich unsre Weihnachten
haltbar mit Heimat umbaun.


 

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