Kunde vom irdischen Leben - Franz Werfel - 1943

Franz Werfel

 

Kunde vom irdischen Leben

Pacific Press
Los Angeles
1946


Inhalt

Ich staune
Prolog vom Besuch
Ballade vom Winterfrost
Eine Prager Ballade
Sechs Setterime zu Ehren des Frühlings von Neunzehnhundertundfünf
Der Kranke
Der Widder
Körpergefühl
Mensch und All
Höhe des Lebens
 
(Fünf Sinngedichte)
Sinngedicht vom Mangel
Der Welt große Balance
Du sollst Gott lieben
Die Vision der Vision
Das Eigentum
 
Sie ehren nicht Kronos, den Gott der Zeit
Gestammel in elfter Stunde
Göttlicher Sinn der Krankheit
Totentanz
Eine Stunde nach dem Totentanz
Der allerletzte Augenblick
Begegnung mit einer Toten
Der Reim
Auf den alten Stationen
 

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Ich staune

Ich staune, daß die rote Farbe rot ist,
Ich staune, daß die gelbe gelb erglimmt.
Ich staune, daß, was ringsum lebt, nicht tot ist,
Und daß, was tot ist, nicht ins Leben stimmt.

Ich staune, daß der Tag alltäglich nachtet,
Wenn ihm das Licht verwest zur Dämmerung.
Ich staune, daß frühmorgens überfrachtet
Von Sonnenglück, ein neuer kommt in Schwung.

Ich staune, daß durch alle Lebenssprossen
Das Mann- und Weibliche geschieden bleibt,
Und diese Zwieheit, niemals ausgenossen,
Als Wonne unsre Herzensfluten treibt.

Mein Staunen ist kein Forschen nach dem Sinne.
Mein Staunen ist des Sinnes selbst der Sinn.
Nur durch Erstaunung werd ich meiner inne.
Ich staune, daß ich staune, daß ich bin.


Prolog vom Besuch

Es war in meinem alten Knabenzimmer.
Ich höre noch das Gaslicht, wie es faucht
Und leise vor sich hinseufzt mit Gewimmer.
Mein Kopf, in Titus Livius getaucht,
Schwamm durch den Raum. Die Augen sahn Geflimmer
Und nicht den Text des Pensums, hocherlaucht.
Der Schritt der Standuhr in genauen Lücken
Ging auf und ab, die Hände auf dem Rücken.

Da spürte ich in meiner dumpfen Dauer
Ein Rieseln und Grieseln unterm Haar.
Von Kopf zu Füßen sprang ein kurzer Schauer:
Besuch ist da! Sein wurde ich gewahr,
Und zwar sekündlich schärfer und genauer.
Person durchdrang den Raum mir überklar.
Doch wo sie einstand, wie sie eingeschlagen,
Ob in, ob außer mir, kann ich nicht sagen.

Ein Wesen hatte jäh mich überkommen,
Woher, warum und wie blieb unbekannt.
Da war ich plötzlich in Besitz genommen
Und wie in einen Stromkreis eingespannt,
Von dem in mir verborgne Lampen glommen.
Mein Leben fühlt' ich um- und umgewandt.
Das Wesen aber, das mich ehrte gastend,
War dunkel, kühl, schwer von Begriff und lastend.

Seit jener Stunde ist es mein Begleiter.
Sein offnes Aug' verläßt im Schlaf mich nicht.
Bei Tag und Nacht trag ich's als meinen Reiter.
Es lebt, hört, sieht allein durch mein Gesicht.
Ich bin für ihn, so scheint's, nur Wegbereiter
Auf seiner Reise durch das irdische Licht.
Voll Fragen ist es stets, voll Wunsch zu lernen.
Wenn kühl und stumm auch, kommt es doch von Sternen.

Von allem, was ich mit dem Geist ergreife,
Halt ich zurück ein Flüstern für den Gast.
Wie weit ich auch mit meinen Sinnen schweife,
Er nimmt sein Teil von dieser Beutelast.
Es tut ihm wohl, wenn ich ermüdend reife,
Er treibt mich um und duldet keine Rast.
Als Gegengabe für mein treues Raunen
Schenkt er mir eines nur: Sein tiefes Staunen.


Ballade vom Winterfrost

   Mrázek hieß der Winterfrost vorzeit
Und der Winterfrost war Aushilfsschneider,
Klein und lungenkrank und todgeweiht,
Und der ärmste aller Hungerleider.

   Damals diente ich als Kanonier
In des Kaiser-Königs Großkaserne.
Zur Adventszeit täglich gegen Vier
Hustete sich Mräzek her von ferne.

   Rasselnd keuchte er von Stock zu Stock
Durch die Gänge mit den Fenstererkern;
Denn er brachte Blus' und Waffenrock
Frischgebügelt den Herrn Feuerwerkern.

   Niemals hörte ich ein Husten mehr
So voll Todeswunsch, voll Seelenklage,
De Profundis oder Miserer'
Im Kasernlärm dunkler Nachmittage.

   Wie in dieses Hustens Sack genäht,
Kam er schlingernd wandentlang geschlichen . . .
Einmal aber, nachts, nach der Retraite,
Sagte wer: »Der Mr
ázek ist verblichen.«

   Und in selbiger Nacht brach aus der Frost,
Dessen selbst die Ältesten nicht dachten.
Ätzend fraß er sich ins Zeug wie Rost,
Daß der Stein barst und die Eisen krachten.

   In den Ställen tanzte Pferd bei Pferd,
Sanfte Krampen schlugen ihre Wärter.
Dampfend fiel der Mist als wie vom Herd
In das Stroh. Der Wind jedoch warf Schwerter.

   Auf der Reitschul fror uns Nas' und Ohr,
Rotgeschwollen unsre Augen stierten.
Doch zum Ohr uns noch die Hand erfror,
Wenn wir mit Haubitzen exerzierten.

   »Abgeprotzt!« »Sporn hoch!« Ich griff ins Rad
Dem Geschütz. Die Speichen waren Messer,
Als mich plötzlich das Gefühl antrat:
Weil es kalt ist, geht's dem Mr
ázek besser.

   Und ich hatte Dienst in nächster Nacht,
»Korporal vom Tag«, wie man es nannte.
In dem Mannschaftszimmer hielt ich Wacht.
Unter Null ging's tief. Kein Ofen brannte.

   Achtundzwanzig schliefen in dem Raum.
(Strohsack, Kavalett und dünne Decken.)
Achtundzwanzig bäumten sich im Traum
Heimwehkrank. Wir froren zum Verrecken.

   Vor mir auf dem Tisch blakt', fast verdorrt
Eine Funsel über leeren Seiten.
Eine Sparte frug im Frührapport
Nach »Besonderen Vorfallenheiten.«

   Dieser Frage forscht' ich sinnend nach,
Die Virginier-Zigarre rauchend,
Während mir der Nord die Finger brach,
Der ans Fenster schlug, die Scheiben bauchend.

   Gegen vier Uhr dieser Nacht geschah's,
(Was ich nicht vergaß im Schwall der Zeiten,)
Als ich vor dem Frührapporte saß,
Starrend auf das Wort »Vorfallenheiten«.

   Ach, es war kein Schlich, kein Schlurfeschritt,
Nähernd draußen sich durch hohle Gänge,
Nein, des Hustens alter Hexenritt
Wand und krampfte sich durchs Schlaf-Gedränge.

   Mr
ázek! Schreck und ein Erbarmen schlug
In mich ein, daß es mich ewig mahne,
Weil der arme Tote vor sich trug
Sein Gerassel als zerfetzte Fahne,

   Weil der gütige Schleierdunst zerriß,
Hinter dem des Todes Wahrheit graute,
Weil ein Wissen wurde fast gewiß,
Das zu glauben ich mich nicht getraute . . .

   Zitternd saß ich, bis der Winterfrost
Und sein Husten hallend sich verloren.
Ungemeldet blieb die Geisterpost . . .
Nie mehr hab ich bis ins Herz gefroren.


Eine Prager Ballade
(Geträumt im Zuge vom Staate Missouri nach dem Staate Texas)

Herr Wávra, alter Kutscher! Wie Ihre Rösser jagen!
Ein Stoß hat mich geweckt. So rüttelt dieser Wagen.
Es riecht nach Juchten und Pferd. Nichts als der Funkenschlag
Der Hufe in der Nacht. — Wohin sind wir verschlagen?

»Sein's ruhig, junger Herr, ich fahre Sie auf Prag.«

In Ordnung! Prag! Die Straße müßt' ich kennen.
Sind wir in Sterbohol? Daß keine Lichter brennen.
So passen Sie doch auf! Wir zahlen sonst noch Straf',
Wenn im Verdunkelten wir jemand niederrennen . . .

»Ich fahre prima, junger Herr, in meinem Todesschlaf.«

Herr W
ávra, jetzt nach Haus! Die Eltern werden warten.
Sie legen Patience mit abgegriffnen Karten.
Nachhaus? Um Himmels willen! Das Haus ist mir verwehrt.
Die Nazis lauern längst im Küchengarten . ..

»Sein's ruhig, junger Herr, da machen wir halt kehrt.«

Herr W
ávra! Feindesland! Fern hör ich schon Geheule.
Es dämmert durch den Schlitz. So peitschen Sie die Gäule!
Herrgott, was schwanken Sie auf Ihrem Bock umher?

»Sein's ruhig, junger Herr, via Königsaal und Eule
Fahr ich Sie stantep
é übers Atlantische Meer.«


Sechs Setterime zu Ehren des Frühlings
von Neunzehnhundertundfünf

   Maria Immisch war der Lenz.
Mit Rührung und mit Reverenz
Entreiß der Schattenwelt ich ihren lieben Namen.
Im Jahre Fünf, als ich schon fünfzehn war,
- Man feierte das große Schillerjahr -
Da sah ich sie als Heldin der berühmten Dramen.
Noch heute ist mein Herz voll Dank.

   Der Stadtpark war schon dicht belaubt.
Der Flieder rief. Mir ward erlaubt,
Das Klassische Theater zu betreten.
Ich saß auf überfüllter Galerie.
Im Rausch des Bühnen-Zauberbilds stand sie,
Daß Stürme des Gefühls mein frisches Herz durchwehten,
Gleich Schillers jambischem Gesang.

   Ihr Haar war schwarz. Ihr Aug war blau.
Sie spielte Mädchen, Kind und Frau,
In Peplon, Reifrock, Stuartkragen, Schaube.
Sie sprach den Text in dunklem Contra-Alt.
Sie schritt und litt und starb mit schwebendster Gestalt.
Sie war das Weib! Sie war mein heiliger Liebesglaube,
Der unverwundbar mich durchdrang.

   Der Lenz Maria Immisch hieß,
Der mir den Weg zur Ferne wies.

Sie war der Lenz. Ich aber stand in Blüte.
Ich schwieg mich tot. Das Leben war zu groß.
Mein Fall lag in der Schule hoffnungslos,
Weil ich den lieben langen Tag ihr Bild bemühte,
Schmerzhaft gesund und doch so selig krank.

   Nachts floh ich einmal aus dem Haus
Und stand mit manchettiertem Blumenstrauß,
Bar aller Kühnheit, vor der Bühnenpforte.
Sie kam mit einem pelzverbrämten Herrn,
Sie war der Star der Stadt, sie war ein Stern.
Ich räumte mich mit meinem Strauß sehr still vom Orte,
Erlöst beinah, daß es mißlang.

   Die Nacht im Park war mondenbleich.
Ich warf die Blumen in den Teich.
Dort schwammen sie. Doch tat ich's nicht zum Zeichen.
Mein Herz blieb frei von Grimm und gierigem Harm.
Zum erstenmale ahnt' ich tränenwarm,
Daß wir nur
das erreichen, was wir nie erreichen.
Maria Immisch, Frühling Fünf, hab Dank!


Der Kranke

Der Kranke sieht im Garten draußen flammen
Der Christussterne purpurroten Brand.
Sie blühen, fühlt er, schön am Strauch beisammen;
Doch er ist mit sich selbst nicht mehr verwandt.

Er prüft den Atem scheu bei Nacht und Tage,
Ins innre Kreisen seines Seins versenkt.
Hat er geatmet einmal
ohne Frage?
Wie seltsam, daß er jetzt das Atmen
denkt!

Die Menschen sind so lieb und ungelegen,
Sie bringen Neigung dar, die schweben bleibt.
Der Kranke schämt sich des Akzentes wegen,
Der alle Hoffnungsreden übertreibt.

Die Morgenzeitung ruht auf seiner Decke
Mit einer riesigen Balkenschrift, die gellt.
Der Kranke liest sie aus dem Augenecke,
Wobei sie dem Gedächtnis schon entfällt.

Was, Bomben, Hekatomben, Untergänge
Von Völkern und von Städten, früh und spät?
Ist das die Welt? - Das Ich ist ein Gedränge
Von längst geborstener Identität.

Das Ich gleicht einem jener Bienenschwärme,
Zur Übersiedlung hängend flugbereit . . .
Es ist nur
eines Wunsches voll: Nach Wärme,
Und unaufmerksam wie die Ewigkeit.


Der Widder
(Deutung eines jüdischen Antlitzes)

Du hast geerbt des großen Widders Züge,
Der schwarzumwollt mit Jakobs Herden zog.
Selbst in der Wüste fandest du Genüge
Am Distelgras, das sich im Winde bog.

Hat dich, du gutes Tier, der Hirt gerufen,
Kamst du gehüpft, hoch pochte dir das Herz.
Oft tanztest du und scharrtest mit den Hufen.
Und davon stammt noch heut dein Hang zum Scherz.

Doch stieg der Krieger mit gestählter Würde
Zu Roß, die Lanze eingelegt zum Stoß,
Dann drängtest du dich furchtsam in der Hürde
Und bähtest matt und hoffnungslos.


Körpergefühl

   Ich ruhe, rücklings ausgestreckt,
Und starre in das Wolkenwehen.
Mein Puls pocht, sonderbar geweckt.
Durch alle Adern dröhnt Geschehen.

   Und plötzlich weiß ich, was ich bin.
Ich bin ein All von Weltsystemen,
Ein Sternenraum . . . Doch ach, mein Sinn
Kann auf dies All nicht Einfluß nehmen.

   Wie unverbunden ist mein Geist
Dem Innenraum voll Sternenrunden;
Was stirbt und wird, zerschellt und kreist
In mir, dem bin ich unverbunden.

   Ist nicht das große All mir gleich
Ein Raum der unabhängigen Welten,
Ein sinnend-willenloses Reich,
Dem Gott erlaubt, als Ich zu gelten?


Mensch und All

   Ich aß und trank in jeder Speise
Die Sonne selbst, die ihren Strahl
Umwandelt auf geheime Weise
Zu Wein und Brot beim Erdenmahl.

   In meiner Brust die Atemwelle
Lief durch den ganzen Lebensstrom.
In meines Leibes letzter Zelle
Fehlt von Gestirnen kein Atom.

   Wie müßt' ich sein, der Alldurchkreiste,
Der Schöpfung heimatlich vertraut . . .
Du aber schufst mich, Gott, im Geiste
So fremd, so urfremd, daß mir graut.


Höhe des Lebens
(Ein Genesender spricht)

   Wenn ich, der ich Fünfzig bin, schlafe jetzt ein
Im Bette, behaglich und ohne Beschwerden,
Dann trink ich mein Leben wie göttlichen Wein.
Ich schlürfe die Zeit, meine Zeit noch auf Erden.

   Die Bilder verschwimmen. Doch Blume und Duft
Des Weines, sie prickeln in feurigen Tropfen.
Ich atme den Mosel der Zeit und nicht Luft,
Bewußt noch im Schlaf lauscht mein Herz seinem Klopfen.


Fünf Sinngedichte

(1) Sinngedicht vom Mangel

   Gott schuf die Welt aus dem Nichts!
Drum frage nicht länger: Woran gebricht's,
Daß alles Leben so eilig verdunstet,
Daß die Tat unsres Tages am Abend umsunstet,
Daß jede Stunde voll Stacheln der Schuld ist,
Daß die Wollust selbst noch voll Ungeduld ist? ...
Gott schuf uns aus Nichts! Da bleibt keine Wahl.
Der Mangel liegt ewig im Material.

(2) Der Welt große Balance

   Wenn mich der trockne heiße Durst nicht brennte,
So könnte nie ein eisiger Trank mich kühlen.
Wenn ich nicht durch den Wald der Krankheit rennte,
Genesung könnt' ich nie als Durchbrach fühlen.
So auch der Tod! Die grausamste Minute,
Vor der mit Recht die Seelen schmählich beben,
Wer weiß, ob nicht ein hundertfaches Leben
Als Gegen-Lust ihr kommen
muß zugute?!

(3) Du sollst Gott lieben

Frage:          Gott will unsre Liebe, so lautet die Lehre.
                 Doch was kann dem Schöpfer der Himmelsgestirne
                 Die Lieb einer Laus, eines Wolfs, einer Dirne
                 Und des ganzen Gewimmels bringen für Ehre?

Antwort:       Das ist wahr! Er könnte getrost verzichten
                 Und jauchzend in den Grund seines Daseins tauchen.
                 Er braucht unsre brenzlichte Liebe mitnichten.
                 Er will sie nur haben, weil
wir sie brauchen.

(4) Die Vision der Vision

   Ich sah die riesigen Ruinen
Der Vorzeit hocken unerhört.
Was einst verschont die Kriegsmaschinen,
Das hat die Erde selbst zerstört.

   Der Abbau ist im Widerstreite
Des Aufbaus tiefre Eigenschaft.
Damit die Zeit nichts überzeite,
Wirkt innerste Planetenkraft.

   Was wolkenkratzend aufgebäumt ist,
Chicago oder Babylon,
Zerfließt, da ja der Mensch geträumt ist,
Als Vision der Vision.

(5) Das Eigentum

   Mit jedem Tag in meinem Alter
Erkenntnis bänger zu mir spricht:
Ich bin nur meines Ichs Verwalter,
Sein Eigentümer bin ich nicht.
Wird man den Status einst entdecken,
Wo flieh ich hin, in welches Land,
Um meine Krida zu verstecken,
Ich gottbankrotter Spekulant?!


Sie ehren nicht Kronos, den Gott der Zeit

   Jüngst unter der Traum-Gäste Wiederkehrern
Begrüßte ich einen von meinen Lehrern.
Geteilter Weißbart mit Bürstenstrich;
Wir hatten ihn zweimal wöchentlich.
Schon viel zu gebrechlich, um uns zu ketten,
Seinen Vortrag könnt' er nur mühsam fretten.
Bleiern mummelt' vom Mund ihm die Kunde.
Wir grölten und tollten in seiner Stunde,
Wenn auch schwer sein Aug auf uns Buben lag,

Von elf bis zwölf, Montag und Donnerstag.

   Meist pflegte er greisenmatt einzuschlafen.
Doch einmal erhob er sich, um uns zu strafen.
Seine Stimme trotzte der Heiserkeit:
»Sie ehren nicht Kronos, den Gott der Zeit!
Sie werden mir täglich und stündlich fauler.
Was sind Ihnen Gindely, Hoefer und Hauler?
Doch das Schuljahr wird plötzlich im Sturmlaufe um sein,
Und am Tag des Gerichtes werden Sie stumm sein!«
Und er stöhnte: - Unser Lachen war Hagelschlag -

»Denn heut ist Montag und morgen ist Donnerstag!«

   Was der Alte wollte zu Worte bringen,
Daß die späteren Tage einand' überspringen,
Dieses Grauen, heut fühl ich es in mir pochen.
Es gleiten die Monde, es stürzen die Wochen.
Grad war's noch Heut. Doch dies Heut ist schon weit.
Jetzt knie ich vor Kronos, dem Gotte der Zeit.
Doch das Schuljahr wird trotzdem im Sturmlaufe um sein,
Und am Tag des Gerichtes werde ich stumm sein,
Wenn's erdröhnt unter knöchernem blechernem Schlag:

»Gestern war Montag. — Heute ist Donnerstag!«


Gestammel in elfter Stunde

   Ich muß die Brust mir schlagen,
Mich wider mich anklagen!
O Gott, hör, was ich lalle:
- Ich fiel in jede Falle,
Ich konnte mich vom Bösen
Nicht einen Tag lang lösen.
Ich heuchelte Erbarmen
Und übersah die Armen.
Ich zeigte Glut und Wärme,
Doch war das nur Geschwärme.
Mein Klima war der Winter,
Frost, Stroh und nichts dahinter.
Versprochen hieß gebrochen,
Im Ich lag ich verkrochen
Wie unter Federbetten.
Gleich allen Erz-Koketten
Mißbraucht' ich noch die Reue,
Daß ich mich meiner freue.
So reim ich hier und leire,
Damit ich selbst mich feire,
Um wichtig mich zu machen
Vor Dir als Feig' und Schwachen.
Anschmeißen und Anbiedern,
Das ja, doch was erwidern,
Wenn Du zum Ernst Dich wendest,
Und einen Blick hersendest?
Was werd ich dann noch haben
Von allen guten Gaben,
Die ich bis auf die letzte
Beim Teufel längst versetzte?
Vielleicht blieb von dem Gute
Nur die und die Minute,
Wo ich mich Dir im Weinen
Ekstatisch durfte einen!
Wo ich, ein All der Wonnen,
Verdienstlos, war durchrennen
Vom Hymnus: »Heilig - Heilig.«
Da war ich Dein! -Die weil ich
Noch wähnte, daß ich glaube,
Lag längst ich schon im Staube.
Ich habe im Besitze
Nur diese kurzen Blitze.
Sie sind die letzten Gulden,
Die meine Laster nicht stahlen.
So kann ich Dir nur zahlen
Die Schuld mit meinen Schulden.


Göttlicher Sinn der Krankheit

   Der Seele, die im Fleisch sich stets befleckte,
Gibt Gott die Chance, zu säubern ihre Schwingen,
Damit der Himmelsflug ihr kann gelingen,
Wenn sie der Tod durch seinen Kuß erweckte.

   Die Krankheit, die so lang im Leibe steckte,
Ist Gottes Chance. Sie will zuletzt uns zwingen
Die feineren Substanzen rein zu wringen
Vom Sündig-Feuchten, das uns niederstreckte.

   Wenn du verschmachtest auch, du sollst verzichten
Auf Lust und Wollust. Nie mehr darfst du prassen,
Dich gierig beugend zu den Leibgerichten.

   Den Rauch der Zigarette sollst du hassen
Und flockig dich wie ein Gewölk entdichten,
Um endlich, endlich Sonne durchzulassen.


Totentanz

   Der Tod hat mich im Tanz geschwenkt.
Ich fiel zuerst nicht aus dem Trott
Im Totentanz und steppte flott,
Bis er das Tempo wilder lenkt.

   Wie rasch war ich da ausgerenkt
Zum Hampelmann, zum Vogelspott,
Und war nichts als der Schrei zu Gott,
Der nicht mehr hofft, daß Gott gedenkt.

   Da hob der Tod und hielt mich hochgedreht
Zum Himmel auf, daß Gott sich seiner freute,
Weil er nicht nimmt, was Gott nicht zugesteht.

   Doch plötzlich ließ er fallen seine Beute,
Denn in des Ersten Schweigens Alphabet
Sprach Er zu ihm zwei Worte nur: Nicht Heute!


Eine Stunde nach dem Totentanz

   Ich lag im Abgrund, wo umschlingend umschlungen
Sich peristaltisch das niedrigste Leben schob.
Wo schlüpfrig und glitschig Gewürm und Geaal sich verwob,
War ich selbst nur ein Wurm, von der Erschöpfung bezwungen.

   Eine Weltzeit wohl währte das, eh mir's gelungen,
Daß meiner Sinne sich einer sehr langsam erhob,
Der Sinn des Gehörs. Er lauschte späherhaft, ob
Der Tänzer, der Tod, sich endlich ins Weite geschwungen.

   Atemlos horch ich. Da, ein chromatischer Schimmer
Fahl aus des Nachbarn geöffnetem Fenster fließt.
Vielleicht sitzt der Tod am Klavier als prüfender Stimmer.

   Und während mein Leben sich regsamer bläht und genießt,
Fühl ich ihn lehnen im hörigen Nebenzimmer,
Wo er unsichtbar raschelnd das Abendblatt liest.


Der allerletzte Augenblick

   Im Krankenzimmer, wenn's zu Ende geht,
Links in dem Eck ein schmaler Engel steht.
Er ist gesandt, will Angst die Seele quälen,
Zu helfen ihr, sich leichter loszuschälen.

   Sein Auge strahlt und seine Stimme weht
Ins Ohr des Sterbenden, der sie versteht.
»Von allen Wesen«, spricht er, »die wir zählen,
Starb keins, das nicht gewollt. Auch du darfst wählen.«

   Der Kranke langsam seine Lippen schleckt,
Zu prüfen, wie das Leben wirklich schmeckt.
Es schmeckt so angebrannt, so pickig-schal,
Unmöglich, es zu schlucken noch einmal.
Ja oder Nein? Der Engel fragend blickt.
Dann lächelt er. Der Kranke hat genickt.


Begegnung mit einer Toten

Du Unbekannte, Hohe, die entrückt
In ihren Schuhen schreitet saalentlang,
Ein sanftes Vorwärtsschweben ist dein Gang,
Ein Insichselbstruhn, das kein Wort ausdrückt!

   Doch wie dein Blick mich achtlos leicht durchzückt,
Steht eine Andre wie durch Zauberzwang
In deinen Schuhn, sie, die mich einst umschlang
Und mich das erstemal zum Mann beglückt.

   Verschollene, von der kaum mehr Gebeine
In Englands Erde liegen ausgestreut
Und deren Name fast in mir versank . . .

   Die Unbekannte lächelt, fern-erfreut,
Mein Aug liebkost sie, die ich garnicht meine,
Und stammelt zärtlich einer Toten Dank.


Der Reim

   Der Reim ist heilig. Denn durch ihn erfahren
Wir tiefe Zwieheit, die sich will entsprechen.
Sind wir nicht selbst mit Aug-, Ohr-, Lippenpaaren
Gepaarte Reime ohne Klang-Gebrechen?

   Das Reimwort meinst du mühsam zu bestechen,
Doch wird es unversehens offenbaren,
Wie Liebeskräfte, die zerspalten waren,
Zum Kuß des Gleichklangs durch die Fernen brechen.

   Allein nicht jede Sprache hat geheiligt
Den reinen Reim. Wo nur sich deckt die Endung,
Droht leeres Spiel. Der Geist bleibt unbeteiligt.

   Dieselben Silben lassen leicht sich leimen.
Doch Stamm' und Wurzeln spotten solcher Blendung.
Im Deutschen müssen sich die Sachen reimen.


Auf den alten Stationen

   Auf den kleinen alten Stationen,
Die mein eigner Zug schon längst verlassen,
Ahn ich das Gedränge von Personen,
Die am Bahntrakt auf die Abfahrt passen.

   Und ich möchte fast mich überheben
Über sie, die warten am Geleise,
Daß ich schon so weit auf meiner Reise
Vorgedrungen bin im Rüttel-Leben,

   Daß ich kenne Brücken und Tunnelle,
Meer- und See- und Fels- und Stadtkulissen,
Daß mir gellen Aug und Ohr von Wissen,
Jenen unbekannt an ihrer Stelle,

   Daß sie werden noch im Zeit-Zug sitzen,
Stumpf am Fenster schauend Funkenspiele
Und der tragischen Signale Blitzen,
Wenn ich ausgestiegen längst am Ziele.


 

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