Gedichte 1922

Gedichte

1922

Alle Zeitangaben zu den Gedichten geben das Datum an, dem der Text zugeordnet werden konnte.
Bezug hierzu sind die Angaben aus der Sammlung der 1987 von Klaus Völker herausgegebenen Gedichte.


Inhalt

Sintflut-Nacht

Bitte um Unmögliches

Traumabend in einer Schenke

Die Gnade

Der Sünder Kreuzzug

Lied der Frau Kanthake

Gavotte gegen die Bourgeois-Dichter

Spiel mit Feuer

Warten auf deine Heimkehr

Sehnsucht nach Unendlichem

Der Schuldige

Liebeslied eines Feinschmeckers

Der Dichter und die Meduse

Erkenntnis

Der arme Bruder und die arme Schwester

Herbstalp

Wiederkehr

Des Büchernarrs Erlösung

Die Blätter fallen

Alle, die umwaldet wandeln

Beschwörung

Schatten im Herbst

Ohne Erlösung

Zwei zynische Liedchen

Theaterschluß

Lied vom Glück

Der Schacher

Das Ereignis

Mein Weg im Nebel

Flucht in den Winter

Novembersturm schüttelt am Haus

Komödie

Weihnachtslied

Wir sterben

Eingeständnis

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01. 01. 1922

Sintflut-Nacht

Sollt' ich den höchsten Mond erfliegen,
weil ich so tief im Dunkel bin?
(An die sich meine Ängste schmiegen,
führst du mich noch zum Wunder hin?

Ist Indras Stimme in dem Sturme,
der dieser Nacht die Sterne nimmt,
vor der mein Kummer gleich dem Wurme
im Staube flüchtgen Traums sich krümmt?

Doch jäh in Todesnot erloschen
liegt alles, was ich wissend hielt,
und meines Trostes letzter Groschen
dem unsichtbaren Feind verspielt.

Die Feder, die so stolz sich dünkte,
umzirkelt keinen Zauberspruch:
wenn Glück dein Antlitz jetzt verjüngte,
deckt meinen Blick ein Leichentuch.

Die Arche, der ich mich vertraute,
gab mir nur Schlangenbrut zum Gast,
vor denen deiner Reinheit graute.
Dir fraß das Meer den Traumpalast.

Ein weißes Grabmal seine Zinnen,
wo mich dein Blick nie mehr begrüßt.
In Weltwüsten muß ich beginnen
die Einsamkeit, die ewig büßt.


02. 01. 1922

Bitte um Unmögliches

Verlang ich das Unmögliche von dir,
daß du für mich erringst die Paradiese,
für eines Windwurfs Weile ist's, als wiese
das Schicksal seine letzte Hoffnung mir!

Leben war immer nichts als Qual um Qual
und seine Drohung Sterben, keine Gnade:
was war ich Publikum bei der Parade
dem Tod Geweihter, aß von ihrem Henkersmahl

Statt sie zu schützen ballt ich nur die Faust
fruchtlos Empörter in verborgner Tasche;
so steigt aus aller dieser Opfer Asche
der Engel nun und macht mich unbehaust.

In Tod und Leben gleicherweis verwaist,
in Glück und Not gleich heimatlos verlassen:
nur daß mich deine Blicke lieb umfassen,
könnte mich retten vor dem Bachegeist.


07. 01. 1922

Traumabend in einer Schenke

Rauch um uns alle. Durch der Kerzen Schleier
geistert ein Angesicht, das mich verstimmt.
Wie Meeresrauschen schlägt der Streit der Schreier
an meinen Traumkahn, der zum Weltmeer schwimmt.

Im fernen Boot erzählt es sich von Jagden,
brutal zerfetzt Gelächter ein Gebet.
Endlich sind alle, die zu weit sich wagten,
von einem jähen Sturm vor mir verweht.

Durch dunkle Straßen treibt der Strom uns weiter,
vorbei an Riffen, wo Dämonen locken,
an einer Insel aufgescheuchten Glocken.

Am letzten Erdensaum hinrast ein Reiter
zu fangen den, der seiner Macht entflieht —
da doch mein Traumkahn längst durchs Weltmeer zieht!


16. und 17. 01. 1922

Die Gnade

Da wir aber Kranke allesamt
uns schuldig fühlen vor dem Nazarener,
dessen Sanftmut unsern Haß verdammt,
steh'n wir auf der Schwelle stets wie jener,
der sich heimzukehren nicht getraute,
ob ihn auch der Sorgen Sturm zerschlug,
denn das Haus, das ihm die Liebe baute,
hielt er nur für einen Sinnentrug.

Unterm Schnee sind lauter Blumenpfade,
und du wirst sie alle wieder gehn,
kannst du auch das Übermaß der Gnade,
Wegverirrter, heut noch nicht verstehn;
Gram kann sich zur Lust nun noch verwandeln,
singen wird, was lange in dir schwieg,
lachend sah man unter Palmen wandeln
den, der zum Kalvarienberge stieg.

Dann erstrahlt das Land, dem er entstammt,
und erblüht zum Paradiesesgarten,
wo wir wieder trostvoll allesamt
auf die kommende Verwandlung warten.


28. 03. 1922

Der Sünder Kreuzzug

Wem folgen geil nachtwandlerisch die Greise,
die unbewußt des Parks Versteck aufsuchten?
Schon taumeln sie im Straßenbahngeleise
hin durch die Stadt, trunken nach dem Verruchten,
und blind vorbei an den geschloßnen Läden
der Nachtkaschemmen, die die Orgie bergen,
umspukt vom wüsten Chor der Körperschäden,
des Dunkels Volk der Buckligen und Zwergen.
Die Huren, die noch keinen Gast heut fanden,
schweigen betroffen, schwankt die Schar vorüber,
sogar den Mördern kommt der Mut abhanden,
und alle roten Lämpchen brennen trüber.
Die Schar wallt hemmungslos. Die Nacht wird düstrer.
Der Mond erlosch. In ihre Mäntel hüllen
die Häuser fröstelnd sich. Und Liebesflüstrer
verrieseln in den Türen. Löwen brüllen
aus einer Menagerie am Rummelplatze,
der wie ein Friedhof abgeschlossen schlummert.
Ins Dickicht flüchtet eine Unheilskatze,
gespenstisch glotzt der Neubau, groß benummert.
Bezechte, von den Wirten ausgestoßen,
vermehrten längst das drohend stumme Wallen.
Vom klösterlichen Saalbalkon die bloßen
Jungfrauenengel in die Irrfahrt fallen.
Schutzleute, die den Trubel hemmen wollten,
bekreuzen sich und schreiten stramm im Zuge,
plötzlich wie vom Magnet gezogen, rollten
die Spieler aus der Dunstspelunken Truge.
Im Hemde, Knaben aus den Internaten,
häßliche Mädchen aus den Töchterheimen.
Die Greise, die um etwas Junges baten,
küssen die Dichter, die Perverses reimen.
Nun, angelangt auf einer Waldesschneise,
beginnt die stumme Orgie der Verfluchten.
Sie dauerte, bis Krüppel früh und Greise
im Nebelgraun ihr Einsambett aufsuchten.


Frühjahr 1922

Lied der Frau Kanthake

In die Blumensäle kam mal eene Kesse
und riskierte unvorsichtig ihre Fresse:
»Nee, mein Herr, det soll hier fein sind?
Wo hier alle so jemein sind,
und se fragen jleich, ob ich noch ledig!«
Sprach der Skeptiker: denn saj doch jnädig:
Juter Junge, sei man froh,
det de was kriegst und frag nich wie und wo -
det sowieso, det sowieso!

Literarisch wird man auch in meinem Fache,
denn Papier gehört zu unsrer Umgangssache,
und so fand ich auf 'nem Blatte,
das ich von der Wand jerissen hatte,
einen Spruch von eenem, der jefiel mer:
» Wat de nich erworben hast, det stiehl der!«
Dieser Stil jefiel mir so,
und ich machte ne Revue engros -
mit Sowieso! Mit Sowieso!


12. 04. 1922

Gavotte gegen die Bourgeois-Dichter

Ein Dichter trägt sein Nachtbier heim.
Der Hungerbettler friert am Wege.
Der Dichter schwelgt: ihm wird ein Reim
gemäß dem Dichterprivilege.

Die Opiumzigarette schmeckt,
Schokolade schmilzt auf seiner Zunge,
er schreibt begeistert. Stumm verreckt
ein Armer mit zerfetzter Lunge.

Likör entflammt Poetenwahn,
Parfüme kitzeln die Gelüste,
es landet schwülen Traumes Kahn
glückselig an Cytherens Küste.

Selbstmörderinnen landen grau
am Ufer einer Elendsgasse
und gleichen seiner Liebesfrau,
in ihrer Mienen heilgem Hasse.

Und das Grammophon spielt den »Kleinen Cohn«,
nach getanem Luxus wird wieder mal geludert,
fährt der Schmerzenssohn früh in seine Fron,
fahren heim vom Ball die Weibsen duftend und gepudert.

Und der Herr Poet immer mittenmang! -
Die Fabrik pfeift Todmüden zur Futterpause,
hurtig, hurtig, schlingt den Fraß! - Dichter liegen lang
noch süß schlummernd, leicht verkatert, in dem
          Herrschaftshause.

Der Dichter räkelt sich und gähnt,
flucht auf den Lärm und legt sich wieder.
Die Armut liest sein Lied und wähnt
ihn als den ihren. Blut geht nieder

vom Himmel. Völker sterben hin.
Die Erde wankt. Poeten schlafen.
Welt blüht zu einer Bettlerin
und wird der Obdachlosen Hafen.

Und die Ziehharmonika ist auch nicht ohne da,
der Poet schwingt sich ins Lokal und will johlen,
schmeißt ihn in den Kanal! - »An der blauen Adria«
quarrt Musik auf leisen Sohlen, und der Teufel
         soll ihn holen.


10. 05. 1922

Spiel mit Feuer

Sticht die Feuerschlange vom Verstecke der Asche
in des Träumers Finger, der seine Kreise malte,
war es wenig, womit sie in den Schlaf sich prahlte,
denn er erwachte vom Schmerz und fand einen Ring
in der Tasche.

Dessen Zauber schuf eine Ewigkeit Güte,
wo über sanften Fluten sich kühle Füße ergingen,
Sehnsüchte, die sich in Irrgärten früher verfingen,
wußten fürder gewiß, wo der Blumensteg blühte.

Aus Plakaten stiegen ins Kinoglück Verbannte,
wurden Leben und fuhren lichttrunken in
Untergrundbahnen.
Mütter holten sie ab; aus den Rummelplatzfahnen
ward ihr Schutzengelgeleit; Abendfeuerwerk brannte.

Flüchtig berührte der Kuß ins Jenseits hinüber die Wange,
hatte die Schaukel sie in den Himmel gehoben,
war des Feuers Asche in alle Winde zerstoben
und von des Träumers Finger gemalt
ein Spiel nur die Schlange.


14. 05. 1922

Warten auf deine Heimkehr

Warten auf deine Heimkehr ist mein Abendlied,
Sehnsucht bewegt des Herzens Äolsharfe,
dann wird zum Schatten des Bruders verruchte Larve,
die mir sonst zynisch stets ins Antlitz sieht.

Geschenk bedeutet jeder Schritt, der draußen klingt,
als deines Kommens ausgesandter Bote,
daß jenes Unholds schon bereite Zote
verstummt vor dem, was meine Liebe singt.

Mit Glückserinnerung kränz ich deinen Pfad;
ich hör' den Nachtzug auf der Brücke fahren
und spür' den Frühlingsduft von deinen Haaren
in dem Coupe, das nun dein Fuß betrat.

Komm! Es erharrt dich meiner Hände Nest:
ich werde dich nach nichts Vergangnem fragen
und, was dich in der Fremde schmerzte, für dich tragen.
Ich werde wieder getrost: »Ich warte deiner Heimkehr!«
          sagen,
wenn du mich eines Morgens abermals verläßt.


15. 05. 1922

Sehnsucht nach Unendlichem

Gestirn, mir unbekannt: Dein Licht bewahrte
mich vor dem Todessturze in den Schacht.
Bist du ein böser Stern, der mich aufsparte
für eine schrecklichere Mördernacht?

Ich lächelte noch eben in den Spiegel,
las ein Plakat an der Kaschemmenwand,
als plötzlich ich bei vorgeschobnem Riegel
gefangnes Wild in dunkler Stube stand.

Im Nebenzimmer das Klavier hieb schriller,
zu übertönen meinen Todesschrei;
durch ewge Mauern pfiff der Spitzeltriller,
und eine Wache stampfte stumpf vorbei.

Schlug eine Uhr? Weiß hing ein Seil. Ich kehrte
noch einmal wieder, und du hieltest Wacht -
bist du ein böser Stern, der mir verwehrte
die Abenteuer einer Mördernacht?


04. 06. 1922

Der Schuldige

Hielt den Kopf schief, soff Alkohol,
verspielte eines Lebens Gewinst, hörte den Lärmstrom
         verständnislos an,
verschloß seinen Engel im Tintenfaß, hatte sein Tagwerk
         getan,
war ihm nach zwölf Stunden Muße von Herzen wohl.

Aber eins trieb ihn aufs neue:
sie war wie ein Christbaum Vergebung, griff er nur zu,
sie überm Dunst seines Trunkes ließ seinem Blut
         keine Ruh,
begnügte sich nie mit dem Immergrün trostloser Treue.

Hatte den Gegenspieler bereit,
dem er nicht gewachsen war, - mich macht heimliche
          Liebe schwach
und Scham wanken, eher legt meine Inbrunst Feuer
          ans eigne Dach,
als daß sie feilschend mit Händlern um Heiliges schreit.

Stehst du bei mir? Spottest du mein?
Welt umhüllt mich wie eine Wolke, daß ich die Sterne
          nicht sehen kann,
meinen verriet ich längst, wenn dir nun ein neuer zu
         leuchten begann,
kenne ich meine Todsünde, sarge stumm mich ein.


19. 06. 1922

Liebeslied eines Feinschmeckers

Zarte Mädchen, eure zehn, zwölf Jahre
könnten viel von meiner Trauer stillen,
war' mir eure Kindlichkeit zu Willen,
schon ein Schleifchen im gelösten Haare,
in des Laubdachs Weiß die schmalen Beine
süß aufblühend unterm Faltenröckchen,
meine Sehnsucht schüttelt alle Glöckchen,
reißend an der starren Tugendleine.
Solltet mir nur wie zum Spiel gehören,
Tändelei auf Teppich weich und Kissen,
sanft erfüllend euer dunkles Wissen
würde dieses Spiel euch nichts zerstören,
aber mir das Paradies erringen
und aus Irrsinns drohenden Gefahren
die Magie von euren zehn, zwölf Jahren
mich zu meinesgleichen endlich bringen!


30. 06. 1922

Der Dichter und die Meduse

Kälte weht ihn an. Als er weiter schreibt,
ritzt ihn unsichtbarer Rose Dorn:
die Meduse trifft ihn, der heiter bleibt,
seine Dichterhand mit ihrem Horn.

Lächelnd faßt er es, dreht es wie zum Spiel
aus der schmerzverzerrten Eisenbrust;
küßt die Wunde heil, flüstert: »Nie zuviel
sei dir deines Weibes Haß bewußt!

Er verwirrt dich nur. Es bedürfte kaum
dieser Handbewegung, und es schlürft den Traum
ein Vampyr dir von der Lippe fort.

Was mich demütigt, wird dir Gefahr;
daß du meiner spottest, ist verwehrt!
Würdigst du nicht, was ich sage allzuwahr,
läßt mich nur die Lüge unversehrt.

Bleib' in deiner Welt, meide meinen Zorn,
der dich in Unwegsamkeiten treibt!«
Der Vernichteten reicht er zurück den Dorn,
hat sie längst vergessen, als er weiter schreibt.


12. 08. 1922

Erkenntnis
(Melodie etwa: »Aus der Jugendzeit. ..«)

Tu die Bücher weg!
Sie sind purer Dreck
und sie helfen dir nicht weiter.
Helfen kann dir nur
ein junge Hur,
denn sie nimmt das Leben leicht und heiter.

Greift ans Portemonnaie,
tut das Herz dir weh,

geht ans Geld, nicht an die Seele.
Liebe ist Beschiß
Filzlaus, Syphilis
so reell wie Schnaps in trockner Kehle.

Dichter geiln dich auf
und mit viel Geschnauf
lassen sie die Falle platzen.
Fluch dem Täuscherpack!
Kraun wir dich am Sack,
hast du was Gescheits für deinen Batzen.

Pfeif auf Kunst und Geist!
Bild, Musik - wie heißt?
Kann ich mir Lus Loch für kaufen?
Fromm vor Klex und Vers,
das nenn ich pervers,
doch normal: Fraß, Coitus und Saufen!


21. 08. 1922

Der arme Bruder und die arme Schwester

Dich wundert meine Müdigkeit,
du siehst nicht, daß mich immer Sorgen hetzen,
dir sind sie unsichtbar, ich scheine frei
in einem heiterblauen Himmel ungerührt zu stehn,
ein ungerecht glückseliges Gestirn:
weil hundert meiner Bürden
jeden Tag vor deinem Blick verborgen, letzten
Anlauf nehmen, ihrer Wüstenei
noch zu entrinnen, eh sie Winter rettungslos verwehn,
und eh das Grübeln meiner Dornenstirn
sich selbst verstrickt und irr erdrosselt.

Brücken sahn mich in den Strom starren,
dem ein Sprung mich erlöst in den weichen Schoß
bringen könnte,
ich wollte mich in des Platzes Wagenkampf stürzen,
der Räder Hast sollte mich Unkraut niedersicheln,
vielleicht würde ich eines Armen Haß beglücken,
böte ich seinem Dolch auf nächtlicher Gasse mein Herz!
Feig war ich: ein wenig Sommerverheißung machte mich
immer wieder zum Narren,
der nach herzbrechendsten Tränen jünger als jung
singen konnte,
und wieder, nach der Lockung bunter Schürzen
oder wenn ihn ein paar Zechkumpane freundlich streicheln,
auf stehn und auf seinem Rücken
der Welt Last tragen und im Scherz
sich auf einen arglos Vorüberschreitenden kippen,
leichtes Tagewerk auf den freiwillig ablösenden Genossen. -

Ich mache keinen Vorwurf. Ich bemitleide mich nicht.
Ich weiß mein Verschulden, ich weiß mein Versagen.
Liebe und Armut stehn sich im Licht,
du kannst nicht dulden, ich kann nicht schlagen.
Fein ist dies Teufelsgespinst gewebt,
an uns vorüber rasen die Reichen
und haben immer davon gelebt,
daß unsre Glückwünsche sich nicht gleichen.
Du bist dennoch so fern wie ich von ihnen
und leidest noch mehr, weil du's nicht weißt;
du mußt ihnen mit deinem ganzen Leben dienen,
weil dein Schicksal »mir zuliebe« heißt:
mir zuliebe sind deine Tage kalt
und deine Nächte unfruchtbar heiß,
mir zuliebe hat Satan Gewalt
über deiner Wangen Rot und Weiß,
mir zuliebe geht deine Scham in Fetzen,
du bist müde von meiner Müdigkeit,
weil meine Sorgen dich mehr als mich selber hetzen;
nur sind sie Schatten, du siehst sie groß
deinen Himmel verdüstern, an dem wir untergehn:
ein zum Tode verdammtes Gestirn.

Ich trage die Bürden allzu leicht:
Nähmen wir noch einen letzten
Anlauf, glücklich zu werden - bloß
wie Weiden im Winter würden wir stehn
an einem Notwege, wo Bettler irrn
die keines Traumes Engel erreicht.

Der arme Bruder wird die arme Schwester
bald umnachtet sanft erdrosseln.


06. 09. 1922

Herbstalp

Den ich nicht kenne, wenn du dich nennst:
segne den Herbst mir mit gelbem Vergessen
und verbrenne das Nebelgespenst
auf dem Sterbefeld welkender Kressen.

Dolden lohen im Waldhorizont
wogende Wolken verrostete Röten.
Golden drohen von Wollust besonnt
Torheit und Ohnmacht hold lockender Flöten . . .

Aber verachtet stammelt die Nacht
ihren Psalm an die Armenbaracke.
Der nach mir trachtet, der Scharfrichter lacht

über den Herbstseelenacker,
Schattenfratze im blutroten Fracke.


08. 09. 1922

Wiederkehr

Alles scheint wie einst, die Katze schlummert bei mir,
          vom Dämon besessen
schreib' ich einsame Strophen und die Lampe beschneit
          mich mit Glück;
daß du einsam weinst im dunklen Nebenzimmer, enterbt
          und vergessen,
bleibt mir als ewiger Vorwurf des Mordes an der Mutter
          zurück.

Damals kam wie heut eine fremde Katze unheimlich:
          der Geist meines Vaters,
Gespenst meines Feindes vielleicht, die ich schuldbewußt
          bei mir behielt.
Hab' ich mich gescheut, sie zu verjagen, spielt' ich mich auf
          als Held nutzlosen Theaters,
wußte doch gleich mein Gewissen: Ich hatte mein Leben
          verspielt!

Was besagt es jetzt? Das gleiche Bild und die gleiche
          schuldbewußte
Angst, und dennoch lähmt mich's, verschwisterter Furcht
          Trost zu sein?
Was uns alle hetzt, ist Flamme, durch die als Tier ich und
          Mädchen einst mußte,
um in tränenloser Söhne Wüsten vom Schwertengel
          meines Werkes liebkost zu sein!


23. 09. 1922

Des Büchernarrs Erlösung

Er webt wie eine Spinne
am Bücherbord entlang,
mit versagender Stimme
stottert er Toten Dank,
streift mit erkalteter Hand
über papierene Rücken:
was er vor Jahren empfand,
soll ihn noch einmal beglücken.
Aber er weiß schon lange
nur noch vom Namen den Klang,
lehnt er auch zart seine Wange
an die Gefährtin »Schrank«;
keinen Kuß gibt sie ihm wieder,
fremd schweigen Blatt um Blatt,
es raschelt Totengefieder
nur auf der Schädelstatt. . .
- Dann naht es doch noch: er fühlt
die Liebe, die er spielte,
seinen Kummer kühlt,
als ob ihn der Mutter Hand hielte,
ein himmlisches Erwachen,
die Selbstsucht ist gesühnt,
ein Wunder hat den Schwachen
zum Leben noch erkühnt:
fern schon wandelt er jetzt -
die Büchersäle verbrennen.
Vergessend hofft er zuletzt,
sich selbst einmal zu erkennen.


26. 09. 1922

Die Blätter fallen

Die Blätter fielen. Nichts begehr ich mehr,
als diesem welken Laube gleich zu liegen,
ganz ohne Wiederkehr nichts wissen mehr
von meines Lebens Kämpfen, Stürzen, Siegen.

Naht nicht ein Winter, den kein Lenz erlöst,
dies fahle Spiel von Trotz und Angst zu enden?
Die Linden, die ich liebte, stehn entblößt,
soll ich an Wind und Nebel mich verschwenden?

Ich folgte allzu gern auch jetzt dem Trug
schon todgeweihter Lockung durch die Flore
der Stadtkulissen, bis der Krähenflug
zur Unterwelt aufstößt die schwarzen Tore.

Ich ahne meiner Heimatfelder Kahl,
ich weiß, mir werden sie nie wieder blühen;
durch ewiges Grau narrt letzter Sonnenstrahl,
daß wir zu glühen uns vergebens mühen.

Ein Sterbensmeer, trüb glosend, wüst und leer,
das unerlöste Schatten überfliegen,
erstarrt mein Dasein. Nichts begehr ich mehr
als: diesen toten Wogen gleich zu liegen.


02. 10. 1922

Alle, die umwaldet wandeln

Alle, die umwaldet wandeln
durch der großen Orte Trott:
Straßen, die das All verschandeln,
Platz und Platz Plakatschaffott,
rühren heimlich an die Hügel,
wo das Grübeln Hütten schuf,
wo des Sonnenaufgangs Flügel
folgen eines Wunders Ruf.

Ihre Wanderschatten steigen
über Kirche, Zirkus, Schloß,
sich vor heiigem Blut zu neigen,
das in Bergesbächen floß,
eh es zwischen Mauerwällen
hier als dunkle Lauge stockt,
wo in dem Gestank von Ställen
stolz der Gnom des Todes hockt,
wo mit Schacherhand verhandeln
ihren erdgebornen Gott
kahl Entwaldete und wandeln
lustlos im Gefängnistrott.


04. 10. 1922

Beschwörung
(zu sprechen, wenn »Freunde« nah sind):

Was ihr von mir wüßtet,
würde euch nicht gut sein,
ewig Feinde müßtet
ihr doch für mein Blut sein;
ohne Überheben
fühl' ich mich entrückt,
eurem Dutzendleben:
kühl und nie beglückt
warten meine Tage,
daß die Stunde ruft,
daß der Sarg mich trage
zu der dunklen Gruft;
wenn ihr Flößer müßtet
auf der Totenflut sein,
meinen Schatten küßtet,
würd' ich euch nicht gut sein!


Oktober 1922

Schatten im Herbst

Die wüsten Liebesträume sind begierig
nach meinem Blut und wittern Essenszeit;
mir wurde die Erfüllung längst zu schwierig,
mich ängstet ihre Lustgefräßigkeit.

Ich gehe einsam meinen Herbstgedanken
im Raschellaub verwelkter Wünsche nach
und spiele mit den letzten gelben Ranken,
die ich vom Weindach meiner Sehnsucht brach.

Auf allen Bänken hängen Weibskelette,
ein Greis ruckt automatisch ums Bondell.
Der jungen Mädchen bunte Reigenkette
macht einen Husch mir noch den Herbsttag hell.

Bis sie im Nebel meinem Blick entschwanden.
Von Greis und Greisin blieb ein wenig Staub.
Auch mir kam längst mein bißchen Sein abhanden,
und nur mein Schatten raschelt nachts durchs Laub.


22. 10. 1922

Ohne Erlösung

Ist meines Lebens Buch nun bald am Ende -
die meisten seiner Blätter blieben leer,
und seiner Liebe herrlichste Legende
steht wie ein Stern über dem toten Meer.

Das tote Meer von allen toten Tagen,
die ohne Gutes waren, ohne Arg,
hat lang mein letztes Dämmern schon getragen
wie einen heimatlosen Armensarg.

Da schwammen eingesargt Stolz und Begierde,
was glückbedürftig war in mir und treu.
Und eines Lorbeerkranzes flüchtige Zierde
und Freundschaftssträuße welkten längst zu Spreu

Und meine Lieder schienen mich zu höhnen;
daß ich mich hingab, hat mich angeklagt.
So wird kein Todesseufzer mich versöhnen,
ist meinem Grabe heilges Land versagt.

Mein Gegner bleibt im Schattenreich behende,
der ewiglich auf mein Verderben sinnt.
Irdischer Stunden Buch kommt nun zu Ende,
daß meines künftgen Duldens Buch beginnt!


26. 10. 1922

Zwei zynische Liedchen


    1

Man muß verreisen, daß man überschwenglich
zärtlich am Bahnhof wieder wird begrüßt,
die größte Liebe noch ist so vergänglich,
daß nur Abwechslung sie etwas versüßt.

Dann harrt die Freundin, die dir niemals treu ist,
auf dem Perron mit kostbarem Bukett,
weil die gewohnte Liebkosung wie neu ist,
blüht dir für einige Zeit ein Hochzeitsbett.

Bis wieder abgespielt die alten Weisen
und reichlich durchgenommen Stück für Stück -
dann mußt du klüglich abermals verreisen
und kehrst mit neuer Nummer groß zurück.



    2

Meist gelüstet's mich nach schmalen Kindern.
Aber heut verlockt mich der Walküre
frischgebügelter Busen. Nichts soll mich hindern,
daß ich im Traum ihren Talmiküraß aufschnüre!

Plötzlich entsteigen zwei große rote Ballone
aus der unvorsichtig gelüfteten Hülle,
und das eben pompöse Weib ist ohne
ihre ausnahmsweis begehrte Fülle.

Fast wie väterlich enterbendes Fluchen
weist mein Los mich wieder aufs mir Gemäße.
Und ich werde weiter verzweifelt suchen
kindliche Beine, Münder und Gesäße!


30. 10. 1922

Theaterschluß

Von seinen Schultern fällt, als er sich wendet,
ein Weltall und versinkt in einer Pfütze.
Das Licht erlischt. Das Drama hat geendet,
der Abgeschminkte ist zu nichts mehr nütze.

Der Held verkommt im Hackepeter-Keller.
Die Droschke bringt ins Séparé Ophelien,
Tannhäuser wallt zu seinem Suppenteller,
zu Mann und Kind die Dame der Kamelien.

Zu Stammtischfürsten werden die Statisten,
zu Amourösen lügen sich Soufflösen.
Im Groschenskat vergehn die Tenoristen.
Vor ihrer Kuffe Bier die Grazien dösen.

Eine Elevin, unerprobt, sehnsüchtig,
läßt sich vom Schwatz des Bühnenclubs verschlingen;
die wird ein Dichter, der unstet und flüchtig,
auf sein Gestirn, trotz ihrer Schwären, bringen.


06. 11. 1922

Lied vom Glück

Trägt, was fremden Hauses
Licht an Glück verheißt,
ging des Totenschmauses
Gast mit Gram gespeist,
lauern schon die bösen
Vögel auf dem First,
daß du in nervösen
Schauern zittern wirst.

Durch den Abend haltlos
fällst du wie ein Rad
brüchig und gestaltlos
auf den Abgrundpfad;
was an seine Speichen
sich verzweifelt seilt,
hat als deinesgleichen
dein Geschick geteilt.

Eisge Stürme stechen
in dein Angesicht,
Sehnsucht nach Verbrechen
um dein Haupt sich flicht,
Wanderer und Wächter
stacheln deinen Haß;
wunder Weltverächter
suchst du dein Gelaß.

Dich zu bergen bange,
eh du morden mußt.
Deines Herzens Schlange
ist dir wohl bewußt.
Reizt des Nachbarn Fratze
deine Faust zum Schlag,
macht die fremde Katze
dir zu Haus den Tag
noch zum heimatlichen,
den du Freund dir weißt,
und erfüllt verblichen,
was fast Glück dir heißt.


10. 11. 1922

Der Schacher

Der Inhalt der Schnapsflasche nimmt ab,
womit soll ich meinen Kummer überbrücken?
Wenigstens von einer Nacht zum andern Nachmittag!
Nun tost mir im Ohr und schwimmt hinab
der Heimatflüsse Überschwemmung, trägt in Stücken
von meiner Sehnsucht, meinem Glück und Glauben
          dies und das als Wrack.

Sich zu besinnen auf seinen Stolz,
hat keinen Zweck für den, der sich längst selbst verachtet
und widerstandslos eine fremde Rolle übernahm in
          einem feindlichen Stück. -
Lustig ist die Sintflut. Ich greife nach einem Rad,
          vorüber rollt's . . .
Ich stecke die Hände in die Taschen. Mein Vater hätte mir
          ein Lamm geschlachtet,
wäre ich von solcher Hölle heimgekehrt. Jetzt reimt sich
          Dank auf Glück!

Ich kann alle schönen Worte verachten,
ich nehme keine Rücksicht mehr, meine Tage sind
         Schlamm!
Und die letzte Strophe soll sich justament umgekehrt
         reimen!
Wenn die zwei sich in der »Hallelujah«-Bar anlachten,
öffne ich den Gashahn, stehe vor dem Tod wie ein
         Wachtposten stramm
und weiß mich keinem Menschen nah, wie himmlisch
         ist dieser Gast!, ja keinem! Keinem!


11. 11. 1922

Das Ereignis

»O, Circenses!«
(Sehr alter Ausspruch.)


Bricht sich Elvira, die Schnelle,
beim Flug vom Trapeze ein Bein,
spielt die Zirkuskapelle:
»Es hat nicht sollen sein . . .«
Der Direktor streicht von der Gage
die Hälfte unverweilt.
Elvira denkt: »Die Blamage!
Was mach' ich, wenn's nicht verheilt?«
Der Arzt vom Dienst kommt endlich
gewichtig zur Geltung einmal.
Es machen Gehappige schändlich
an der Kasse Skandal.
Es freut sich die Schlangendame:
ihre Nummer fällt aus.
Der Pantoffelheld, der lahme
darf noch ins Kaffeehaus.
Der Gymnasiast mit Käthchen
noch auf die Promenadenbank.
Es hebt das ganze Städtchen
der Unfall in Überschwang:
die Zeitung hat was zu berichten,
der Stammtisch was zu beschrein,
der Dichter was zu bedichten,
Elviras gebrochenes Bein
erzeugt einen unerträumten
Taumel in jedermann' Blut.
Die das Ereignis versäumten,
werden grün vor Wut.
Weil sich die Ärzte betrinken,
fehlt am Verbande etwas:
Elvira wird ewig hinken
und nennt diese Stadt voller Haß,
wenn sie der bewundernden Masse
Kollegen ihr Leid erzählt.
Sie sitzt jetzt an der Kasse
und ist dem Direktor vermählt.
Und trompetet das Orchester, knallt die Peitsche, johlt der
          Clown, weil zwei sich haun,
haben drei da was zu schaun, zählt Elvira ihre Blaun,
quetscht 'ne Träne, streicht die Mähne, die Hyäne fletscht
          im Käfig ihre Zähne, zeigt die Klaun:
Das ist Er, der Dompteur! Fesch und fix, ganz in Wichs,
und Elvira kennt die Tricks, sie allein
zähmt ihn, lähmt ihn,
bloß mit ihrem leidergottes, gottseidank gebrochnen
          Bei-ein!


12. 11. 1922

Mein Weg im Nebel

Du strahlst: du bist des Festes Held,
dein Haupt wird feierlich bekränzt.
Ich schreite über Stoppelfeld,
von keinem Sonnenrot umglänzt.

Herbstnebel hüllt mich Schüchternen
bin vor der Welt mir selbst zuviel,
ihr Rausch scheucht einen Nüchternen
vom Glück in bunter Blätter Spiel.

Ich wandre mit der großen Schar,
die zu des Sonntags Sternen strebt,
doch hab' ich ihre wunderbar
stillende Blindheit nie erlebt.

Nur stets das grau Enttäuschende
des Morgens, der den Orgien folgt,
nur stets das fahl Enttäuschende
des Abends, der dem Morgen folgt.

Man lud mich wohl zu Alkohol,
zu falschem Glanz vernarrter Nacht -
wie schien ihr Heitersein mir hohl,
ihr Liebestanz mir ungeschlacht!

Der Grammophone Lockendes,
für mich klingt es wie Sterbelied:
der Unheilglocken stockendes
Geläut durch meine Herbste zieht.

Vergessen kann ich Sterben nie
und Liebesglück erleben nie,
mag ich auch treu umwerben sie,
stets wird mir doch entschweben sie.

Mein Weg von Nebel ganz umstarrt,
wenn er die Schädelstatt erreicht,
legt sich geduldig nieder, harrt
der Stunde, da sein Stern verbleicht.


24. 11. 1922

Flucht in den Winter

Wo sich die Wege dem Stadtwald entziehn,
werden auch winters dem Wandrer ins Weite
märchenhaft Blüten und Meermelodien,
schreiten in Grün ihm Nymphen zur Seite,
zeichnen sich Fliederbüsche ins Eis
und entflattern dem Atemhauche
Rosenblätter, und dürres Reis
läßt Schnee knospen am Flammenstrauche.

Fern muß die Stadt, eine Wolke aus Rauch,
in den Schollen des Himmels ertrinken.
Blickt' ich zurück, so würde ich auch,
plötzlich zu Asche verzaubert, versinken.
Lieber laß, Wandrer, uns fliehn und entfliehn, -
daß uns der weiße Tod befreite! -
von aller Lockung der Stadtmelodien
in das weiße, feiernde Schweigen
dieser unendlichen Winterweite!


25. 11. 1922

Novembersturm schüttelt am Haus

Novembersturm schüttelt am Haus.
So schüttelt mein Abschiedswort
an den Wänden der Welt.
Lösch' ich die Lampe aus,
geistert es grollend fort
über das Totenfeld,
sucht sein Grab aus Nacht,
sinkt hinab wie ein Tier,
kaum daß das Laub sich bewegt,
das an der Grube welkt.
Hab' ich mein Leben vollbracht,
was will ich, Toter, noch hier?
Die letzte Stunde schlägt
und der Himmel bleibt ewig umwölkt.

Novembersturm schüttelt am Schrein,
der gläsern dein Schlummern schützt
und wie ein Stern bebt
mit leisem, traumhaftem Klang.
Mein Schatten schaut zu dir herein,
dem keine Sehnsucht mehr nützt,
der nicht mehr lebt
schon all die Jahre lang.

Aus dessen Grabe blüht
im Lenz eine Rose für dich,
die deine Hand, vom Winterschlafe erwacht,
zitternd pflückt.
Meiner Seele Irrlicht, das dir am Wiesenpfad glüht,
gehst du vorüber und denkst an mich,
gleitet im Nachen der Nacht
dann zu endgültigem Tode beglückt.

(»Aber die Sintflut hat
das letzte Wort« -
Du: »Die dir verhaßte Stadt
lebt fort und fort,
und der hat keine Macht,
der sich im Tod verkroch!« -
Ich: »Nach dieser Sintflutnacht,
was leb' ich noch? . . .« Keine Antwort!)


30. 11. 1922

Komödie

Der Russe nimmt aus seinem Pult die Peitsche
und hält sie über sich wie ein Symbol
und sagt voll Trauer: »Meine liebe Deitsche,
jetzt mußt du kriegen was aufs Kamisol.

Du willst ja so, daß ich tyrannisch herrsche,
gutt, du sollst haben, daß du wirst kuriert!«
Dann hat zum Klang Chopinscher Trauermärsche
er ihr den weißen Hintern rot kariert.

Sie schrie nicht mal. Sie lag wie hingegeben
auf seinen Knien und schmeckte Hieb auf Hieb
wollüstig aus und hoffte wunderwas.

Da flüchtet er in ein Gemach daneben,
wo sie ihn sucht, als er zu lange blieb.
Doch hing er längst erwürgt am Fensterglas.


Anfang Dezember 1922

Weihnachtslied
(unter Benutzung von Kirchenchoral und Modecouplet)

»Stille Nacht, heilige Nacht« -
Haben Sie Dollars, tschechische Kronen?
In den Schaufenstern ballt sich die Pracht:
Würste, Schokladen, Liköre, Melonen,
Pelze, Juwelen, unendliche Fracht,
Nippes und Luxuskinkerlitzchen,
alles schläft, einsam wacht
morgen damit unterm Christbaum zu sitzen
über den Kursen das traute Paar:
Staatskokotte und Kapitalist.
Wir sind die Stützen, wir feiern in bar
den Heiligen Christ!
Des laßt uns alle fröhlich sein
und mit den Hirten gehn hinein
ins Hotel zur Nachtigall
und zum weißen Rinde,
der Dollarstern steht überm Stall
und unsrer Sektpfropfen Geknall
gilt dem schönen Kinde.
(Jazzband): Es ist ein weiter Weg
zum Christ der Armen,
der riecht nach Revolution,
mein Gott ist Privileg
und hält im Warmen
die Führer der Nation! (Echo: Hohn - Hohn - Hohn -)
Für uns wird alles,
wie's kommt, gereichen
zum Besten des Profits,
wir schreien: Dalles!
um über Leichen
zu setzen kühnen Ritts!

»Stille Nacht, heilige Nacht«:
mein Zimmer ist eisig, ich hab keine Kohlen,
am Güterbahnhof hielten sie Wacht,
als ich mir den Abfall wollte holen,
ich hätte die Weihnachtsfreude gemacht
den Meinen mit einer warmen Stube,
nun schlafen wir morgen, wenn alles wacht,
im Kalten - mein Weib und ich und mein Bube,
um vier Uhr wird's dunkel, teuer ist Gas,
aus der Beletage klingt der Choral,
uns orgelt im Bauche der Schwarzbrotfraß,
freut euch Christen allzumal!
Der Sammet und die Seiden dein
das ist grob Heu und Windelein
du zukünftiger Menschensohn
meiner Elendsklasse.
Vater kriegt den Hungerlohn
und der Geldwanst hockt zum Hohn
weiter an der Kasse.
(Abgesang, von Martin Luther): »So merket nun die
          Zeichen recht,
die Krippen, Windelein so schlecht,
da findet ihr das Kind gelegt,
das alle Welt erhält und trägt.«
(Fortsetzung:) Hört
nicht auf solche Trostschalmein,
dann wird euch Weihnacht schöner sein,
der alle Welt trägt und erhält,
der Stand wird dann der Herr der Welt!


Weihnachten 1922

Wir sterben

So einsam wurdest du durch meine Schuld,
daß jedes fremde Schmeicheln dich beglückt.
Ich hatte nie mit deinem Traum Geduld,
der sich im Spiel vor vielen Spiegeln schmückt.

Hielt einer zu verziert dein silbern Bild,
schlug ich in Scherben das verliebte Glas -
und irrte wie verfolgt durchs Nachtgefild
wie Totenhaar war meiner Hand sein Gras.

Dein Haar floß golden über dein Gesicht,
in das Erstaunen seinen Kummer schlug:
was mich erzürnte, du begriffst es nicht,
nur dies: mein Lieben war nicht groß genug.

Wer steht von Menschen in des Menschen Schuld?
Auch Irrtum wäre noch als Wort zu schwer.
Ich bin in deiner, du in meiner Huld;
nur dies: wir sterben, und die Welt ist leer!


Jahresende 1922

Eingeständnis

Jede Stunde ist ein Scheiden,
jedes Wort ein Abschiedswort,
zwischen den entlaubten Weiden
fließt des Lebens Lauge fort.

Jedes Weinen wird zur Fratze,
jedes Lachen grinst verzerrt:
zu des Herzens tiefstem Schatze
bleibt die Pforte stets versperrt.

Die Erfüllungen enttäuschen,
Unerfülltes plagt und plagt.
Nach den Festen, nach den Räuschen
ekelgrau der Morgen tagt.

Kannst du dich noch selbst betrügen?
Hoffst du noch? - Du bist nur feig!
Die gemeinsten Lebenslügen
schmückt ein weißer Blütenzweig.

Denn des Herzens letzte Pforte
bleibt in Ewigkeit versperrt.
Liebe, Glaube sind nur Worte,
die der Sterbensschreck verzerrt.


 

 

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